Kapitel 10
Brandon Graham
»Kennen Sie diese Frau?«, fragte Ulrich Peters.
Brandon lehnte neben der Tür des Verhörraums in der JVA und beobachtete das Tun seines Mentors, der gerade Carlos Morales einige Fotografien über den Tisch hinschob. Brandon musste ein Gähnen unterdrücken. Es war noch nicht einmal acht Uhr morgens und der Fund der letzten Leiche keine zwölf Stunden her. Dafür hatte die Gerichtsmedizin ihren Rekord im Bestimmen des Todeszeitpunkts gebrochen. Mit jemanden wie König im Nacken ging das wohl nicht anders.
Peters fuhr fort: »Je eher Sie reden, desto besser ist das für alle Beteiligten. Schauen Sie sich die Bilder bitte genau an.«
Morales saß mit zerzaustem Haar und fast schwarzen Augenringen vor den Bildern, hatte aber bisher den Boden zwischen seinen Beinen angestarrt. Jetzt kam sein Blick hoch, und er wurde bleich. Irgendetwas zuckte über sein Gesicht, dann hob er eine Hand und fast liebevoll näherte sich sein zitternder Zeigefinger dem vordersten Bild. Er berührte die Hochglanzoberfläche allerdings nicht.
Tränen rannen über seine Wangen, erst links, dann rechts. »Ja, die kenn ich.«
Peters atmete tief durch. »Woher?«
»Von früher.«
»Hatten Sie mit ihr auch ein Verhältnis oder einen One-Night-Stand?«
Jetzt wird es spannend. Brandon verschränkte die Arme und lehnte den Hinterkopf gegen die Wand.
»Ich … ich kannte Tina nur flüchtig«, stammelte Morales. »Wir haben uns im Bamboo kennengelernt und uns daraufhin ab und an geschrieben oder miteinander telefoniert. Und ja, wir haben einen Nacht im Bett verbracht.«
Im Bett. Brandon hatte es geahnt. Morales war so ein Weibertyp, auf den sie flogen wie die Motten ums Licht. Wie viele Frauen hatte er noch flachgelegt?
Peters fragte: »Wann genau war das?«
»Vor etwa vier Wochen.«
»Und wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?«
»Ein paar Tage später, als wir die Nacht zusammen verbrachten.«
»Danach gab es keinen Kontakt mehr?«
»Nein. Sie wollte sich zwar bei mir melden, aber nachdem nichts mehr kam, dachte ich, dass sie wohl auch nur ein Abenteuer gesucht hat. Für mich war die Angelegenheit damit klar.«
»Also war Frau Hermann ein klassischer One-Night-Stand für Sie?«
Morales nickte.
Peters fuhr sich über das Gesicht. Er wirkte müde und blass, aber das war nach einer durchgearbeiteten Nacht nicht verwunderlich. »Sie behaupten also, Frau Hermann nicht getötet zu haben?«
Ruckartig setzte sich Morales auf. »Wie?! Warum … Nein! Ja! Ich habe überhaupt keinen Mord begangen! Weder Sandra noch Meike noch Tina! Verstehen Sie das denn nicht? Wie oft muss ich es noch sagen?«
Peters nickte nachdenklich, während Brandon sein Gewicht aufs andere Bein verlagerte. Er war neugierig, was sein Vorgesetzter als Nächstes tun würde. Wirst du ihn hart rannehmen oder probierst du es auf die sanfte Tour? Brechstange oder Streicheleinheit? Bad guy oder good guy?
Peters sagte: »Doch, das verstehe ich schon, Sie müssen nur auch unseren Standpunkt verstehen. Die Faktenlage ist erdrückend. Mein Chef würde Sie am liebsten für immer hinter Gittern sehen. Und die Klatschpresse auch.«
Morales musterte Peters unter seinen wirren Haaren hervor. »Sie nicht?«
»Tatsächlich nicht.«
Brandon zog überrascht eine Augenbraue nach oben. Diese Masche war ihm neu. Was war los mit seinem Mentor? Der war überhaupt in den letzten Monaten seltsam. Seit fünf Jahren war Brandon nun bei Peters im Team und lernte von ihm. In dieser Zeit lernte man einen Menschen relativ gut kennen, und Ulrich Peters war nie ein Mann gewesen, der sein Herz auf der Zunge trug, doch in den letzten Wochen wirkte er gesprächig, geradezu sentimental gesprächig. Ich bin weder Optimist noch Pessimist, ich bin Realist , pflegte Peters eigentlich zu sagen, aber in letzter Zeit schien aus dem Realismus immer mehr etwas anderes zu werden. Etwas Uneinschätzbares. Eine gefährliche Entwicklung.
Peters seufzte und fuhr fort: »Haben Sie schon von der gestrigen Pressekonferenz gehört?«
Morales schüttelte den Kopf. Furcht trat in seinen Augen. »Was wurde da … gesagt?«
»Dass Sie der Täter sind.«
»Wie bitte?«
»Dezernatsleiter Wolfgang König hat Sie als Täter profiliert und angekündigt, dass es nur noch eine Frage von Tagen ist, bis man genügend Beweise für Ihre Schuld anführen kann.« Peters hob sogleich die Hand. »Wie gesagt, ich glaube das nicht. Aber was ist schon meine Meinung wert? Ich hoffe nur, dass Sie ein Alibi für den Zeitpunkt dieser Tat vorlegen können. Damit wäre die ganze Angelegenheit für Sie vom Tisch. Was haben Sie also vor zwei Wochen am 11. Juli zwischen dreiundzwanzig und zwei Uhr morgens getan?«
Morales antwortete nicht. Er starrte wieder auf die Fotos der jungen Frau, Anfang zwanzig, die zwischen Blättern und Zweigen lag. Ihr Körper war wie die der anderen beiden Opfer mit blutverkrusteten Schnitten übersät. Einer war besonders tief und zog sich quer über ihren Hals.
»Ich … ich weiß es nicht«, kam es dann über Morales’ Lippen. »Ich kann mich nicht erinnern.«
Falsche Antwort.
Peters nickte und stand auf. Sein ergrautes Haar glänzte silbern im Licht der Neonröhren. Langsam sammelte er die Bilder ein und steckte sie zurück in eine Papiermappe. »Dann sollten Sie gut nachdenken. Ein Alibi würde Sie entlasten.« Peters wandte sich zur Tür und nickte Brandon auffordernd zu.
Sie wollten gerade hinaustreten, als die leise Stimme von Morales sie zurückhielt.
»Bitte. Warten Sie!« Er rieb sich den sprießenden Bart. »War der 11. Juli ein Samstag?«
Ulrich nickte.
Morales schloss die Augen und schüttelte fast unmerklich den Kopf. Seine Finger ballten sich zur Faust, sodass die Knöchel weiß hervortraten. Seine Hand begann zu zittern, so stark, dass sein gesamter Arm bebte. Es schien, als rastete er gleich aus.
Dann sackten seine Schultern allerdings herab und er blickte mit traurigen Augen zu ihnen auf.
»Ich hatte ein Alibi für den Tatzeitpunkt.«
»Hatten?« Ulrichs Stimme hallte nach.
»Ja, ich erinnere mich wieder. An dem Samstagabend war ich bei einer Freundin und wir hatten Spaß zusammen.«
»Bei wem?«
»Sandra Meerer.«