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Kapitel 26
Zwei Monate später
Der Himmel über den Häusern verfärbte sich von einem rauchigen Blaugrau in ein stählernes Anthrazit. Der Linienbus schaukelte leicht, während die Stimme des Fahrers aus den Lautsprechern kratzte: »Nächster Halt: Nördliche Ringstraße – Zwinger.«
Arinas Finger packten den Koffer fester, während sie an die hintere Ausgangstür des Busses trat. Bald war sie zu Hause, doch sie war sich nicht sicher, ob sie sich freuen oder fürchten sollte. Nach acht Wochen Reha würde sie wieder ihre Wohnung betreten, den Ort, an dem sie beinahe umgebracht worden wäre. Bei der Erinnerung begann sie sofort zu zittern, aber sie wusste, dass es nachlassen würde. Der Psychologe hatte das mit ihr trainiert.
Der Bus wurde langsamer und näherte sich der Haltestelle. Im flackernden Licht einer Straßenlaterne wartete eine einsame Gestalt im Halbschatten. Nebel kroch aus dem Stadtgraben dahinter.
Bei dem Anblick schlug Arina den Kragen hoch. Zum Glück hatte Rebecca ihr die Jacke eingepackt. In den letzten Tagen war es deutlich kühler geworden. Der Herbst stand in den Startlöchern.
Der Linienbus kam ächzend zum Stehen. Die Tür glitt vor Arina zur Seite. Als sie den Koffer heraushieven wollte, kam ihr jemand entgegen und packte mit an. »Augenblick, ich helfe Ihnen.«
Es war der einsame Wartende. Seine flachsblonden Haare standen in alle Richtungen ab.
»Camo!«
»Auch schön, dich zu sehen.« Er lächelte und trug ihr den Koffer unter das Vordach der Haltestelle, während sich der Bus wieder in Bewegung setzte. Arina konnte nur mit offenem Mund dastehen und ihn anstarren.
»Wo-woher hast du gewusst, dass ich heute ankomme? Ich habe niemanden etwas erzählt, außer – Rebecca!«
Camo grinste entschuldigend, und Arina stieß die Luft aus. »Das hätt ich mir denken können, du, du verrückter Kerl!« Sie schüttelte den Kopf und warf sich in seine Arme. Er drückte sie an sich. Leise flüsterte sie: »Es ist wirklich schön, dich zu sehen.«
Sie spürte, wie er nickte und die Umarmung eine Spur fester wurde. Dann bemerkte sie das Zittern in seinem Körper. Er weinte.
Das trieb auch ihr Tränen in die Augen, und so standen sie schweigend da. Im Nachhinein konnte Arina nicht mehr sagen, wie lange sie sich umarmten, doch in den Sekunden oder Minuten vergaß sie all ihre Sorgen; die Morde, die Verletzungen, die bleibenden Narben. Arina fühlte sich frei und unbeschwert, doch die Realität holte sie sofort wieder ein, als eine Narbe von der Umarmung zu brennen begann. Sanft befreite sie sich aus seinem Griff.
»Gut siehst du aus«, sagte sie, um irgendwas zu sagen. »Du hast dich wohl ordentlich erholt in den letzten Wochen.«
Carlos wischte eine letzte Träne beiseite und zuckte mit den Schultern. »Die Schusswunde ist gut verheilt und außer einer Narbe wird nichts übrig bleiben. Ich hatte Glück, dass keine Organe verletzt wurden. Habe ich dir ja alles in meinen Briefen geschrieben. Hast du sie nicht bekommen?« Er musterte sie durchdringend mit seinen dunklen, brunnentiefen Augen.
»Natürlich habe ich sie bekommen.« Und jeden einzelnen mindestens hundert Mal gelesen!
»Aber ich … ich musste einfach für mich sein. Musste das Geschehene aufarbeiten. Die Entscheidung für eine stationäre Psychotherapie war richtig. Ohne professionelle Hilfe hätte ich das nicht hinbekommen. Camo, du musst das verstehen. Ich konnte dir nicht antworten.«
Carlos nickte stumm, doch in seinen Augen sah sie Unverständnis glitzern. Was hatte sie auch erwartet?
Um den Blick von ihm zu lösen, kramte sie in ihrer Jackentasche nach den Kippen. Sie entnahm eine, dann hielt sie ihm die Packung hin, doch zu ihrer Verwunderung schüttelte er den Kopf.
»Ich hab aufgehört«, erklärte er. »Als ich in der Klinik lag, konnte ich zwei Wochen nicht rauchen und seitdem hab ich es einfach gelassen. War gar nicht so schwer.«
Arina steckte sich die Kippe an. »Schön.« Sie inhalierte tief. »Ich habs nicht geschafft. Der Stress. Die Aufarbeitung.« Sie verstummte, nur um dann doch zu fragen: »Was ist eigentlich mit Graham passiert? Seit meiner Aussage im Krankenhaus habe ich nichts mehr gehört, und eigentlich wollte ich auch nichts mehr davon hören. Aber jetzt …«
Er verstand sie, und nach einem tiefen Atemzug sagte er: »Graham wurde wegen fünffachen Mordes aus niederen Beweggründen verurteilt. Das Verfahren verlief schnell und reibungslos. Er hat gestanden, wobei ihm spätestens nach deiner Aussage nichts anderes übrig blieb. Außerdem hat die Polizei in seiner Wohnung die passenden Stiefel und die Motorradmaske gefunden. Er wird wohl nie wieder rauskommen.«
Arina nickte und zum ersten Mal seit Wochen fiel eine große Anspannung von ihr ab. Sie wusste, dass es nicht anders hätte ablaufen können, doch tief in ihrem Inneren hatte sie Angst gehabt. Angst, dass er irgendwie doch noch davonkam.
»Warst du bei der Verhandlung dabei?«
»Ja.«
»Und? Hat er gesagt, warum er die Morde begangen hat?« Einfach so.
Sie hörte Grahams Worte, spürte seinen Atem und sah wieder die Klinge, wie sie zwischen ihre Rippen glitt. Sie erzitterte, aber es würde weggehen. Irgendwann.
»Hat er. Das war der größte Witz ever.«
»Witz?«
»Na, du weißt schon. Graham wollte etwas von Tina Hermann und scheinbar bahnte sich auch eine Beziehung zwischen den beiden an. Aber dann hat sie ihm einen Korb gegeben und mit mir etwas angefangen. Ich wusste nichts davon. Auf jeden Fall hat er das nicht verkraftet. Tina wäre seine erste Freundin gewesen.«
Arina hob beide Augenbrauen. »Seine Erste? Graham ist doch schon Ende zwanzig oder Anfang dreißig! Er hatte noch nie eine Freundin?«
Carlos schüttelte den Kopf. »Das war vermutlich auch der Auslöser. Mehrmals war er offenbar kurz davor, mit einer Frau intim zu werden, bevor sie sich doch anders entschied oder ihn sitzenließ. Da sind ihm irgendwann die Sicherungen durchgebrannt. Er wollte sich wohl an der Frauenwelt rächen, die ihn immer zurückwies, und an mir, weil ich ihm Meike ausgespannt hatte.«
Wegen ein paar Körben …
Arina wollte es nicht glauben, sog ein letztes Mal von ihrer Zigarette und schnippte den Stummel in eine Pfütze. Zischend erlosch die Glut.
Sie fragte: »Wird er lebenslänglich sitzen?«
»Ziemlich sicher. Die Staatsanwaltschaft hat eine anschließende Sicherheitsverwahrung gefordert. Das ist zwar noch nicht durch, aber König ist sich hundertprozentig sicher. Graham kann dir nie wieder etwas antun.«
Ja, Graham konnte ihr nichts mehr tun, aber die Narben, die ihren Körper wie ein Spinnennetz überzogen, brannten.
»Übrigens soll ich dir einen Gruß von König sagen.«
Arina runzelte die Stirn. »Von dem König, der dich in U-Haft stecken ließ?«
»Jo. Er hat mich zum Essen eingeladen und sich für sein Verhalten entschuldigt. Wir haben uns lange unterhalten und eigentlich ist er ein ganz netter Kerl. Hat mir alles über den Fall erzählt, und wollte selbst alles über Meikes letzte Nacht wissen.« Camo verfiel in Schweigen, bevor er leiser sagte: »Scheinbar tat ihm das Wissen gut, dass es seiner Tochter in den letzten Stunden ihres Lebens gut ging.«
»Hat er auch gesagt, warum er nicht geschossen hat?« Arina hätte es. Sie hätte abgedrückt, hätte Grahams perverses Hirn durchgeblasen, hätte –
»König meinte, wenn er dort nur als Vater gestanden hätte, hätte er abgedrückt, aber der Dezernatsleiter in ihm hielt ihn zurück. Es war bestimmt die bessere Entscheidung.«
Arina traute ihren Ohren nicht. »Die bessere Entscheidung?«, flüsterte sie. Die Erinnerungen schwappten hoch. Sie sah Graham, wie er mit der Klinge in der Hand auf sie zukam und ihr den Stahl immer wieder ins Fleisch rammte. Die Berührung war so kalt gewesen, so eisig. Dann hörte sie das Krachen der splitternden Tür. Sah, wie Ulrich Peters mit erhobener Waffe ins Wohnzimmer stürmte. Hörte wieder Grahams Aufschrei, als ihn der Schuss traf. Die Klinge steckte da noch in ihr, und Arina zog sie entgeistert raus, nur raus aus ihrem Körper. Und dann war da nur noch Blut.
Sie fand sich an seiner Brust wieder und weinte. Camo drückte sie sanft, und irgendwann meinte er: »König hat mittlerweile gekündigt. Er will sich ein neues Leben aufbauen. Er hat sogar eine Stiftung gegründet für Menschen, die an dieser seltenen Blutkrankheit leiden wie Peters’ Frau.«
Arina befreite sich aus seiner Umarmung, wischte zum zweiten Mal Tränen von ihrem Gesicht. »Dann war das von Graham gar nicht gelogen?«
»Nein, diesen spanischen Arzt gab es wirklich und auch die fünf Knochenmarkspenden. Graham hat die Infos nur umgedreht. Er wollte Peters für die Morde verantwortlich machen, um selbst aus der Nummer rauszukommen. Allerdings war Graham zu arrogant. Er hat nicht mal die Beweise in seiner Wohnung weggeräumt. Er war sich so sicher, dass sein Plan aufgehen würde und dass er schlauer war als Peters. König meinte, dass das nie durchgegangen wäre. In der Rückschau hätte ein ballistisches Gutachten Fragen aufgeworfen. Warum sollte Graham zwei Mal auf mich schießen? Und warum hätte Ulrich Peters Königs Tochter ermorden sollen? Er musste doch, was der Mord auslösen würde. Er hätte fünf andere Frauen in meinem Bekanntenkreis gefunden, da brauchte er nicht Meike König töten. Sie war ein Risiko, das kein bedachter Mörder, wie Ulrich Peters einer gewesen wäre, eingegangen wäre.«
Leichter Nieselregen setzte ein und der Nebel wurde dichter. Stumm standen die beiden da.
Schließlich brach Camo das Schweigen: »Weißt du eigentlich schon das Neueste? Dominik ist mit Lucia zusammen.«
»Mit dieser Bedienung aus dem Tapas
?«
»Ja.« Die Andeutung eines Lächelns auf seinem Gesicht.
»Klingt ganz danach, als ob du deine Finger im Spiel hattest. Dominik und eine Freundin …«
»Tja.«
»Wo war er eigentlich nach dem dritten Mord? Rebecca erzählte nur, dass man nach ihm gefahndet hat.«
Camo seufzte. »Selbst schuld, der Herr. Er ist auch zu blöd. Er hatte Panik wegen seines Studiums, dass er die Prüfungen des Semesters nicht packt und deswegen die Regelstudienzeit nicht schafft.«
»Und wo war er?«
»In der Jagdhütte seines Opas. Und irgendwie hat vergessen, seinem Onkel Bescheid zu sagen.«
Arina nickte nur. Eigentlich interessierte sie Dominik Stark überhaupt nicht. Ihr war kalt und ihre Narben juckten und brannten. Sie wollte nur nach Hause.
Er schien es zu bemerken, denn er fragte: »Soll ich dich nach Hause begleiten?«
»Nee, das schaff ich schon selbst.« Sie sah ihn an. »Überhaupt hast du doch sicher Besseres zu tun. Für die Uni pauken zum Beispiel. Du hast in einem der Briefe geschrieben, dass es gut läuft.«
»Jo, mehr oder weniger. Wegen der U-Haft und des Krankenhausaufenthalts hab ich eine Sonderregelung erhalten und konnte die Klausuren nachholen. Hab alle bestanden.« Er lächelte stolz.
Gern hätte sich Arina für ihn gefreut, aber da war wenig Freude in ihr. Sie dachte an das Bevorstehende. Noch vier Wochen war sie krankgeschrieben und in dieser Zeit musste sie die Wohnung räumen. Sie hatte gekündigt und wollte schnellstmöglich raus. Dazu kamen eine weiterführende ambulante Psychotherapie und langwierige Krankengymnastik, um das Narbengewebe zu dehnen. Bei dem Gedanken juckten ihre Narben heftiger und sie griff nach ihrem Koffer.
Er trat näher heran. »Arina …«
Sie sah auf.
»Ich liebe dich.«
Irgendwie hatte sie die Worte erwartet, aber diesmal drohte sie nicht in seinen brunnengleichen Augen zu ertrinken.
»Ich weiß«, flüsterte sie und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Er roch nach Orangen.
Dann ließ sie ihn im Nieselregen stehen. Die Rollen des Koffers klackerten über das Pflaster und sie spürte, wie ihr zum dritten Mal Tränen in die Augen stiegen. Ich liebe dich auch! Aber versteh mich doch! Ich kann jetzt nicht, ich muss erst mein Leben in Ordnung bringen.
Sie wollte ihm die Worte zurufen, doch stattdessen beschleunigte sie ihre Schritte. Ja, sie musste erst mal allein sein. Unabhängig. In der Reha hatte sie begriffen, wie auch Boris sie ausgenutzt hatte. Wie er sie abhängig gemacht hatte. Sie konnte nicht direkt in die nächste Beziehung taumeln, auch wenn es eine alte war.
Immer mehr Tränen rannen über ihre Wangen, vermischten sich mit der Wimperntusche und tropften schwarzen Perlen gleich zu Boden. Eine traf ihren Handrücken, bildete einen dunklen Fleck. Mit einem Ruck blieb Arina stehen.
»CAAAMO!«
Sie rief so laut sie konnte, und wandte sich gleichzeitig zur Bushaltestelle um, die hinter Tränen, Regen und Nebel verschwand. Trotzdem erkannte sie, dass das Häuschen verwaist war.
Carlos Morales war gegangen.