»Könnte es sich um einen Vermissten aus der Gegend handeln?«
»Warum hat man dir die Ermittlungen anvertraut?«
»Steht die Leiche im Zusammenhang mit der Mordserie vom Februar?«
»Geht ihr davon aus, dass sich noch mehr Leichen in der Düne verbergen?«
»Muss es hier drin so scheißkalt sein?«
Alle lachten, und Helle war dankbar für die kleine Atempause, die ihr der Lokalreporter der Nordjyske Stiftstidende mit seiner Frage verschaffte.
Ihre erste Pressekonferenz. Der große Konferenzraum der Fredikshavner Polizei platzte aus allen Nähten, einige Reporter mussten sogar auf dem Gang stehen. Helle blickte von ihrem Platz aus in ein Meer aus Mikrophonen und Kameras. Sie wusste, dass sie live an alle Sendeanstalten des Landes übertragen wurde, und natürlich war sie nervös. Das war auch der Grund, warum sie darauf bestanden hatte, alle Heizungen hinunterzudrehen und die Fenster offen zu lassen. Sie hatte Angst vor einer ihrer berüchtigten Hitzewallungen, und tatsächlich half ihr die kühle Luft über das Schlimmste hinweg. Sie trug lediglich ihr hellblaues Uniformhemd, aufgeknöpft, und hatte eine halbe Stunde vor dem Termin ein Johanniskrautdragee genommen. Ihre gute Seele Marianne, die Sekretärin der Skagener Wache, hatte es ihr wohlweislich zugesteckt sowie vorsorglich gemahnt: »Und keinen Kaffee!«
Nüchtern und knapp hatte sie die Journalisten über den Stand der Ermittlungen informiert, was nicht weiter schwer war, denn bis jetzt gab es: nichts.
Damit war die anwesende Presse natürlich nicht zufrieden, wo nichts ermittelt wurde, gab es nichts zu schreiben. Also prasselten jetzt all die Fragen auf Helle herab, und die spürte, dass ihr Körper erste Warnsignale in Richtung Schweißausbruch sandte. Es galt also, die Versammlung so schnell wie möglich aufzulösen, damit sie nicht mit schweißnassem Kopf und dunklen Flecken unter den Armen in die Wohnzimmer Dänemarks flimmerte.
Die Fredrikshavner Polizei, die zwar um einiges größer und besser ausgestattet war als Skagen, hatte keinen Pressesprecher, und Ingvar verzichtete tatsächlich darauf, sich als Chef der Soko »Düne« zu präsentieren, sodass Helle allein auf dem Podium saß und Rede und Antwort stehen musste. Das würde sich freilich ändern, sobald erste positive Ermittlungsergebnisse vorliegen würden, darüber machte sie sich keine Illusionen.
Sie gab sich Mühe, die absurden Fragen der Journalisten allesamt zu beantworten – stets mit »Nein« –, und warf einen Blick zu Ingvar, der sich in eine hintere Ecke des Raumes gestellt hatte und die Konferenz verfolgte. Sie spürte ihr Handy in der Hosentasche, ständig zuckte ihre Hand dorthin, sie musste sich Mühe geben, sich auf das Geschehen vor Ort zu konzentrieren, weil sie wusste, dass die Musik gerade woanders spielte. Rami, der Spurensicherer, hatte ihr in der Sekunde, als die PK begonnen hatte, eine Nachricht geschickt: Wir haben jetzt den Kopf. Kommst du?
Helle konnte es kaum erwarten, sich davonzumachen und wieder nach Råbjerg Mile zu fahren. Sie hoffte, dass Rami auch Dr. Runstad benachrichtigt hatte und dieser ihr nun endlich mehr Informationen liefern konnte.
»Hast dich wacker geschlagen, mein Mädchen.« Ingvar klopfte ihr wohlwollend auf den Rücken, als Helle mit den Journalisten aus dem Raum strebte. Sie nickte Linn zu, zum Zeichen, dass sie schon mal zum Auto gehen und sich zum Aufbruch bereithalten solle.
»Danke, Ingvar. Ich hätte lieber ein paar Fakten in der Hand gehabt.«
Ingvar lächelte sie an. Ganz offen strahlten seine Augen sie an, die vielen Fältchen kräuselten sich in seinem Gesicht, und er sah wieder aus wie der freundliche Papa-Ersatz, der er für Helle so lange gewesen war.
Die freundschaftliche Geste verursachte Helle Unbehagen. Sie fühlte sich elend, weil sie ihn ausgebootet hatte. Das war alles andere als fair gewesen, und sie wusste darum.
Andererseits: Sören Gudmund hatte sich nach ihrem nächtlichen Anruf umgehend dafür eingesetzt, dass sie den Fall bekam – und das hätte er doch nicht getan, wenn er geglaubt hätte, Ingvar sei der richtige Mann dafür, oder? Und erst der Polizeipräsident, der offenbar sofort bereit gewesen war, Helle an die Spitze der Soko zu setzen. Und trotzdem … Das schlechte Gewissen nagte an ihr, und Ingvars Freundlichkeit machte es nicht besser.
Sie zog ihren Vorgesetzten am Arm in die kleine Kaffeeküche.
»Ich fahre mit Linn wieder rüber, die Spurensicherer haben den Oberkörper freigelegt«, informierte sie ihn. »Willst du mitkommen?«
Ingvar schüttelte den Kopf. »Es ist dein Fall. Aber halte mich auf dem Laufenden.« Damit ging er und ließ sie allein zurück.
Helle sammelte sich noch einen Moment in dem Kabuff und ließ auch die letzten Presseleute an sich vorüberziehen, bevor sie die Kaffeeküche verlassen wollte. Aber dann trat ihr ein Kollege in den Weg, Helle kannte ihn nicht besonders gut, er war erst kürzlich nach Fredrikshavn versetzt wurden. Er hieß Lars oder Nils, so genau wusste sie es nicht.
»Darf ich dich mal was fragen?« Der Typ baute sich breitbeinig vor ihr auf, verschränkte die Arme vor der Brust und nahm so den gesamten Türrahmen ein.
Helle brach sofort der Schweiß aus – nicht aus Angst, sondern wegen des klaustrophobischen Gefühls, das sich augenblicklich einstellte, und das machte sie stocksauer. Was dachte sich dieser Nils-Lars eigentlich bei so einer Geste? Seine männliche Dominanz so auszuspielen – das ging gar nicht.
»Wenn du dich benimmst, bekommst du auch eine Antwort«, knurrte sie und trat so nah an ihn heran, dass er einen Schritt zurückweichen musste.
Nils-Lars guckte sie verdattert an. »Was meinst du?«
»Glaubst du etwa, das ist okay?« Helle leckte sich den Schweiß von der Oberlippe. »So wie du dastehst, ist das schon fast Nötigung.«
Er sah sie immer noch verständnislos an, ließ die Arme sinken und trat dann einen Schritt zur Seite, damit Helle aus der Kaffeeküche herauskonnte. Sie drückte sich an ihm vorbei und ging ein paar Schritte in den Gang, seinen bohrenden Blick im Rücken.
»Was wolltest du fragen?« Sie drehte sich zu ihm um.
»Wann du dein Team bildest.« Er drehte hilflos die Handflächen nach oben und erschien Helle plötzlich kindlich und gar nicht mehr bedrohlich. »Ich wär gern dabei.«
Sie lachte. »Ich fahr jetzt an den Tatort. Dann noch mal nach Skagen. Da mache ich mir ein paar Gedanken, wie ich verfahren will.«
Er nickte.
»Wie heißt du?«
»Christian.«
Helle stutzte kurz. »Okay, Christian. Teamsitzung morgen um acht. Du bist dabei.«
Er strahlte und führte eine Hand flach an die Stirn. »Aye, aye, captain.«
»Wie ist dieser Christian so?«, erkundigte sich Helle bei Linn, während diese den Motor startete. Sie konnten einen Polizeiwagen aus der Flotte nehmen, einen neuen BMW – Luxus, den sie in Skagen nicht kannten.
Linn gab Gas und bog vom Polizeiparkplatz in die Skippergade ein. »Ich glaub, er ist okay.« Die blonde Jütländerin überlegte. »Harmlos. Bisschen alte Garde vielleicht.«
Helle nickte. »Ich nehme ihn ins Team.«
Linn sagte nichts und blickte konzentriert auf die Strecke. Langsam wurde das Licht fahl, die Umrisse verschwammen, die Dämmerung würde bald hereinbrechen. Sie mussten sich beeilen, wenn sie die Leiche noch bei Tageslicht sehen wollten.
»Ich muss ein paar Leute aus Fredrikshavn in meine Truppe nehmen«, fuhr Helle fort, nicht ohne Linn aus den Augen zu lassen. »Ich kann nicht alle von meinen Leuten miteinbeziehen, es muss sich auch jemand um das Tagesgeschäft kümmern.«
Jetzt verzog die blonde Kollegin den Mund zu einem Lächeln. »Als ob!«
»Was meinst du?«
»Was passiert denn schon um diese Jahreszeit bei euch da oben? Tagesgeschäft …«
Linn warf Helle einen flüchtigen Seitenblick zu und lachte auf, bevor sie sich wieder auf die Strecke konzentrierte.
»Ich denke, ich nehme Ole mit in die Soko«, dachte Helle laut nach, ohne auf Linns Provokation einzugehen. »Jan-C. hat das letzte Mal schon genug Federn gelassen.«
»Ich wäre auch gern dabei«, sagte Linn nun.
Helle nickte. Das schätzte sie an Linn. Dass sie geradeheraus war, total unverstellt. »Sowieso.«
»Warum besprichst du das nicht mit Ingvar? Der kennt seine Truppe doch am besten.«
»Ja, ich weiß. Vermutlich sollte ich das tun.« Helle blickte aus dem Fenster. Sie hatten die kleine Stadt nun hinter sich gelassen und fuhren auf dem geraden Skagensvej nach Norden. Zur Linken sah Helle die Anlagen des Golfklubs, zur Rechten die flachen Felder und kleine Wäldchen. Dahinter war das Meer, das Licht war anders dort im Osten. Leuchtend, transparent, leicht. Sie dachte an ihr schönes Haus in den Dünen, das sie zu dieser Jahreszeit nur noch selten bei Licht sah. Morgens um sechs, wenn sie ihre erste Runde mit Emil am Strand drehte, war es dunkel. Und wenn sie nach der Arbeit nach Hause kam, schon wieder. In der nächsten Zeit würde sie kaum nach Hause kommen, das ahnte Helle. Was würde Bengt dazu sagen? Und erst Emil, der sie schon vermisste, wenn sie nur in den Keller ging.
Den Rest der Fahrt schwiegen sie. Hingen ihren Gedanken nach, jedenfalls Helle. Sie dachte an den Toten oder die Tote dort im Sand. Jede Leiche bedrückte sie und schon gar jeder Mensch, der durch Gewalt ums Leben gekommen war. Aber die Vorstellung, dass jemand dort draußen lag, ganz allein, unter Tonnen von Sand begraben, eng, dunkel, kein Licht, keine Luft – sie hoffte so sehr, dass der Mensch bereits tot gewesen war, bevor er in seinem kühlen Grab eingeschlossen wurde.
Auf einmal fiel ihr eine Geschichte von Hans Christian Andersen ein. Helle hatte vergessen, wie sie hieß, aber sie handelte von einem armen glücklosen jungen Mann, der viele Tote zu beklagen hatte, und zum Schluss fand er sein Grab in der Versandeten Kirche. Eine bedrückende Geschichte, die sie in der Schule hatte lesen müssen, wie vermutlich Generationen von jütländischen Schulkindern. Sie hatte sich ziemlich gegruselt und immer wieder davon geträumt.
Nun wurde dieser Albtraum wahr.
Der Parkplatz war nicht mehr ganz so voll wie noch am Morgen, offenbar hatte sich das Interesse woandershin verlagert, zu einer anderen Sensation. Aber vor der Absperrung des Tatorts standen sich noch immer einige frierende Presseleute die Beine in den Bauch. Ein findiger Mensch hatte einen kleinen Tisch aufgebaut, darauf standen große Thermoskannen mit Heißgetränken und Hotdogs. Er machte vermutlich auf diese Art das Geschäft seines Lebens.
Jens Runstad war schon vor ihnen angekommen, seine Augen funkelten freudig, während er zwischen den gierigen Zügen an seiner Zigarette Sprachmemos mit seinem Handy aufnahm. Helle und Linn nickte er kurz zu.
Rami und sein Kollege standen etwas abseits, sie aßen jeder ein Hotdog. Als Helle kam, legte Rami seines zur Seite und stellte sich neben Helle, um ihr seine Arbeit an der Toten zu erläutern.
Denn dass es sich um eine Frau handelte, war unverkennbar. Ihr schmaler, in einen dunklen Anorak gekleideter Oberkörper duckte sich hinter den linken Oberarm, den sie wie in Abwehr schützend über den Kopf hielt. Oder versucht hatte zu halten.
Helle blieb fast der Atem stehen, so unversehrt sah die Tote aus. Beinahe, als sei sie erst vor kurzem in diese grauenvolle Notlage geraten. Das Haar war dünn, stumpf und von fahlem Schwarz und fiel über das Gesicht und die schmalen Schultern, die Haut der Toten war ledrig braun, aber es gab auf den ersten Blick keine Spuren sichtbarer Verwesung.
»Herrlich, oder?« Jens Runstad, der Leichenleser, zwinkerte Helle lächelnd zu.
Sie schüttelte nur stumm den Kopf.
»Weibliche Leiche, Asiatin, Anfang zwanzig bis Anfang dreißig. Keine sichtbaren Zeichen grober Gewalteinwirkung dem ersten Augenschein nach. Damit kannst du schon mal etwas anfangen, oder?«
Helle nickte. »Danke dir.«
»Wenn wir sie freigelegt haben, kommt sie ins Institut nach Aalborg. Meinen Bericht bekommst du ein paar Tage später.«
Helle öffnete den Mund, um etwas zu entgegnen, aber Jens kam ihr zuvor.
»Nein, schneller geht es wirklich nicht. Sie ist meine erste Sandmumie. Ich muss mich erst einmal einlesen und damit vertraut machen. Ein deutscher Kollege von mir arbeitet in München an dem Thema.«
»Kann ich vielleicht etwas vom Gesicht sehen?«, wandte sich Helle jetzt an Rami.
Er nickte und strich die Haare der Toten sehr behutsam zur Seite. Durch die verkrümmte Haltung war nicht viel zu erkennen, aber immerhin gewann Helle einen vagen Eindruck. Die Augen waren geschlossen, ebenso der Mund. Die Züge waren dennoch verzerrt, wie in großem Schmerz. Oder heller Panik.
Helle richtete sich wieder auf und sah Jens Runstad an. »Kann sie erstickt sein?«
Er nickte. »Natürlich kann ich nicht sagen, was die Todesursache ist. Dazu muss ich sie eingehend untersuchen. Aber möglich ist es. Mehr kann ich dir nicht sagen.«
»Wie lange?«
Er trat näher an die Leiche und zeigte auf den sichtbaren Teil des Körpers. »Die Mumifizierung ist noch nicht gänzlich abgeschlossen. Ich vermute unter der Epidermis noch Reste von Fettgewebe. Grob würde ich den Zeitpunkt auf maximal ein Jahr schätzen. Allerdings ist das eine vorsichtige Vermutung. Ich habe keine Ahnung, wie gut der Sand sie konserviert hat.«
»Das reicht mir aber schon. Ich kann die Vermisstensuche auf die letzten maximal zwei Jahre eingrenzen«, entgegnete Helle. Sie drehte sich zu Linn. »Morgen früh soll ein Zeichner kommen und schauen, ob er etwas Brauchbares zustande kriegt.«
Rami mischte sich ein. »In Aalborg haben wir einen genialen Typen. Wenn du magst, schicke ich ihm meine Fotos schon mal zu.«
Helle nickte und hielt den Daumen hoch. »Und ihr macht Feierabend. Ihr wart den ganzen Tag hier und habt super Arbeit geleistet.«
Rami und sein Kollege bedankten sich. Sie sahen erschöpft aus, aber auch euphorisch – so eine Aufgabe bekamen sie nicht alle Tage.
»Braucht ihr ein Hotelzimmer? Oder fahrt ihr nach Aalborg zurück?«
Die beiden wechselten einen Blick. »Hotel ist cool«, grinste Rami. »Ist ein bisschen wie Urlaub.«
»Verdient«, Helle lächelte ihn an.
»Okay, ich kümmere mich darum«, sagte Linn und zog gleich ihr Handy aus der Tasche.
»Und was ist mit mir?« Der Rechtsmediziner spielte Empörung, dabei wusste Helle, dass er nichts lieber wollte, als möglichst schnell in sein Institut zurückzukehren.
»Ich würde gerne nach Aalborg kommen, wenn du die Leiche untersuchst. Darf ich?«, erkundigte Helle sich anstelle einer Antwort.
Jens fummelte eine neue Zigarette aus dem zerknautschten Päckchen, zögerte kurz, stopfte sie wieder zurück und hielt Helle die Packung hin. »Ladies first.«
Als Helle dankend abwinkte, nahm er sich selbst eine, steckte sie an und sagte: »Du darfst mich jederzeit besuchen. Ich freu mich über eine schöne Flasche Gin.«
Der Leichenleser zwinkerte, nahm seinen kleinen Arztkoffer – den er noch niemals in ihrer Gegenwart geöffnet hatte, fiel Helle nun auf – und ging grußlos. Sie alle starrten seinen buckligen Rücken an, bis der Doktor hinter der Absperrung verschwand.
Helle regelte noch die weitere Beaufsichtigung des Tatorts, dann ließ sie sich von Linn nach Skagen auf ihre Wache bringen.
Als sie die Eingangstür öffnete, schlug ihr der Geruch von Zimt, Nelken und Hering entgegen. Marianne saß gemeinsam mit Amira hinter dem Empfangstresen, auf dem sich in verschiedenen Plastikboxen Smørrebrod und süße Teilchen stapelten. Die beiden schauten auf Mariannes Handy, offenbar zeigte sie Bilder von ihrem frisch geborenen Enkelkind.
»Sag bloß, schon Feierabend?« Helle zog ihre Jacke aus, warf sie auf die Wartebank neben der Eingangstür und inspizierte interessiert die Brote. Sie wählte eines mit Matjes und eingelegten Apfelringen. Mariannes Spezialität.
»Ole hat sich noch mal aufs Ohr gelegt. Ich soll ihn anrufen, wenn du kommst«, berichtete diese.
Helle nickte und wollte sich nach den Vermisstenfällen erkundigen, hatte aber den Mund voll.
Amira kam ihr zuvor. »Die Vermisstenfälle der vergangenen fünf Jahre haben wir fertiggestellt.« Sie zeigte auf einen großen Stapel Papier. »Leider mussten wir es ausdrucken.« Bedauernd hob sie die Schultern. »Wo sind die neuen Tablets? Und die Computer? Ich hätte schon mal anfangen können, die Programme zu installieren.«
»Hängt alles noch in Aalborg«, gab Helle zurück. Das Fischbrot hatte sie verputzt und hätte es gerne mit einem Schluck Bier runtergespült. »Es hieß, die formatieren das vor und spielen schon mal alles Mögliche drauf oder so.«
Sie griff nach dem Stapel mit den Fällen. Es waren ziemlich viele, mehr als sie erwartet hatte.
»Wisst ihr aus dem Stand, ob eine asiatische Frau darunter ist?«
Marianne zog die Brauen zusammen. »Ich weiß nicht …« Sie sah zu Amira, die nickte. »Ja, eine ältere Chinesin. Und dieser kleine Junge. Du weißt schon, Richard, der Thai.«
»Oje.« Helle erinnerte sich. Es musste ungefähr vier Jahre her sein, da verschwand ein Achtjähriger im Hafen von Kolding. Die Eltern wollten auf die Fähre, eben war er noch an der Hand seiner Mutter gewesen, im nächsten Augenblick wie vom Erdboden verschluckt. Man hatte ihn nie mehr gesehen. Taucher hatten das Hafenbecken abgesucht, die schwedischen Behörden hatten ihrerseits eine Suche initiiert, falls der Junge doch irgendwie auf die Fähre gelangt war. Doch alles ohne Erfolg. Aber wie auch immer – mit ihrer Toten in Råbjerg Mile hatte der Fall wohl nichts zu tun.
Helle nahm sich den Papierstapel, schnappte sich noch ein weiteres Brot, dieses Mal mit einem herrlich weichen Rohmilchkäse, und ging in ihr Büro. Als sie bei Jan-Cristofer vorbeikam, stoppte sie. »Hej!«
Ihr Freund und Kollege war in irgendetwas auf dem Bildschirm vertieft und sah auf. Er lächelte. »Hej!«
Helle entschied sich zu einer kurzen Plauderei, betrat das Zimmer und setzte sich ihm gegenüber. Jan-Cristofer sah erholt aus. Glatt. Er war seit einem halben Jahr trocken, und es schien, als ginge es ihm damit sehr gut.
»Hör mal«, Helle suchte nach Worten. »Du weiß ja, dass ich die Soko leite.«
»Gratulation! Das ist wirklich toll für dich.«
Jan-C. strahlte sie an. Er war in Helles Alter, sie hatten beide viele Jahre gemeinsame Polizeiarbeit auf dem Buckel, und Helle durfte ihren Kollegen als engen Freund der Familie bezeichnen. Aber bei der gemeinsamen Polizeiarbeit hörten die biographischen Parallelen auch auf. Jan-Cristofers Leben hatte schon früh eine andere, traurige Abzweigung genommen. Im Gegensatz zu Helle und Bengt war er nicht mehr verheiratet, die Ehe mit seiner Frau Ina hatte sich schnell als Irrtum herausgestellt. Sie betrog ihn erst mehrfach, und als ein aussichtsreicher Kandidat erschien, verließ sie ihn. Den gemeinsamen Sohn Markus nahm sie mit. Jan-Cristofer verlor den Halt und fing an zu trinken. Bis zu jenem denkwürdigen Tag Anfang des Jahres, als er beinahe Opfer eines psychisch kranken Mörders geworden war. Er hatte schwer verletzt überlebt, war lange in Krankenhaus und Reha gewesen und hatte dort einen Entzug gemacht. Es hatte der intensiven Fürsprache von Helle und auch Sören Gudmund bedurft, dass er im Polizeidienst bleiben durfte. Umso mehr freute es Helle, dass sich Jan-Cristofer offenbar wirklich gefangen hatte. Umso weniger wollte sie ihm nun die schlechte Nachricht überbringen, dass er nicht Teil der Soko »Düne« werden würde.
»Also, ich stelle gerade mein Team zusammen, und ich hab mir gedacht, dass ich es besser finde, wenn du nicht schon gleich voll einsteigst.«
Sie hielt inne und sah ihren Freund an. Er erwiderte den Blick, unbewegt. Dann schüttelte er den Kopf.
»Du musst dich nicht entschuldigen, Helle.« Er lächelte. »Das ist okay für mich. Oder, ehrlich gesagt, sogar mehr als okay.«
Helle guckte fragend.
»Markus will zu mir ziehen. Schon ab Dezember.«
»O wow! Das sind gute Nachrichten!«
Jan-Cristofer lachte, und Helle glaubte zu sehen, dass er sogar ein bisschen rot vor Freude wurde.
»Ja, stimmt. Really.«
»Wie kommt‘s?«
»Er fängt eine Ausbildung in Skagen an. In Foldens Hotel.«
Helle war aufrichtig überrascht. Markus hatte bislang das Gymnasium in Fredrikshavn besucht, so wie ihre eigenen Kinder. Und ebenso wie ihr Sohn Leif, tat sich Markus schwer in der Schule.
»Was sagt Ina?«
»Die ist stocksauer und macht ihm das Leben zur Hölle.« Jan-Cristofer nahm einen Schluck aus seinem Wasserglas. »Aber ich finde es gut. Er hat richtig Bock. Hotelfachlehre und später vielleicht den Abschluss nachholen und Management studieren. Oder Touristik oder so.«
»Verstehe. Toll, dass du ihn unterstützt.« Helle stand auf. »Darauf stoßen wir an, okay?«
Jan-Cristofer grinste gequält.
»Mit Wasser und Saft«, fügte Helle hinzu, »wofür hältst du mich?«
Helle nickte ihm zu und verließ den Raum. In ihrem Kopf hatte sich der Gedanke an ein frisches kühles Bier festgesetzt, sodass sie kaum noch in der Lage war, an etwas anderes zu denken. Vor allem nicht an Wasser und Saft.
Doch zunächst verschanzte sie sich mit dem Stapel Vermisstenfälle in ihrem Büro.
Nach einer knappen halben Stunde hatte sie alle Fälle durchgesehen. Es ging so schnell, weil so gut wie keine der Beschreibungen auf ihre Tote zutraf. Selbst wenn sie das Merkmal »Asiatin« und das Alter ignorierte, blieben gerade mal zwei Fälle übrig. Die ältere Chinesin, die allerdings bereits über sechzig war und auf dem Foto kurze schüttere Haare trug, sowie eine neunzehnjährige Schülerin aus Kalundborg. Diese war blond, aber vielleicht würde sich ja herausstellen, dass die Haare der Leiche aus der Düne gefärbt waren.
Alle anderen Vermissten waren entweder männlich oder Kinder, sehr alte Menschen oder Frauen, die von der Statur her – deutlich größer oder korpulenter – nicht annähernd passten.
Helle beschloss, es für diesen Tag gut sein zu lassen. Bevor sie nicht irgendeinen Anhaltspunkt zu der Leiche bekam, waren ihr und dem Team die Hände gebunden. Sie brauchten mehr Angaben, ein Phantombild, eine Eingrenzung des Todeszeitpunkts und Genaueres zur Todesursache, besondere Merkmale, das Zahnbild, die Marken der Kleidung – kurz: Die Leiche musste erst einmal raus aus dem Sand, bevor die Polizeiarbeit wirklich beginnen konnte.
Sie schrieb ein kurzes Memo, dass die Soko »Düne« zunächst aus Christian, Linn, Ole und ihr selbst bestehen würde. Sie hätte zu gerne Amira noch mit dazu genommen, aber die war ja leider offiziell nur ausgeliehen, um die Digitalisierung auf den Weg zu bringen.
Außerdem umriss sie kurz, was sie bisher an spärlichen Ergebnissen hatten, dass ein Zeichner darauf angesetzt wurde, ein Bild der Frau anzufertigen, und dass sie am kommenden Tag um zehn in Skagen zusammenkommen sollten.
Mittlerweile war es halb sieben, sie würde jetzt einfach Feierabend machen. Helle war sich sicher, dass sie in der nächsten Zeit kaum noch einmal so früh nach Hause käme. Bengt würde sich bestimmt über einen gemeinsamen Abend freuen. Sie hatte ihn in der letzten Zeit am ausgestreckten Arm verhungern lassen.
Draußen am Empfang stand Ole, der gerade hereingekommen war. Er würde die Nachtschicht übernehmen. Marianne und Amira machten sich ebenfalls fertig.
»Super, dass ich dabei sein darf«, platzte Ole sofort heraus, als er Helle sah. Der lange Kerl strahlte. Er war noch keine dreißig, er kannte nicht viel mehr als die Polizei in Skagen, von seinen Ausbildungsjahren in Fredrikshavn einmal abgesehen. Ihm fiel die Decke in dem kleinen Ort auf den Kopf, und er gierte nach »echter« Polizeiarbeit. Dabei schoss er mit seinem überbordenden Enthusiasmus schnell übers Ziel hinaus, aber er war flink im Kopf, und Helle fand, dass er Potenzial hatte. Um dieses auszuschöpfen, müsste er allerdings dringend weg von hier.
»Wir gehen noch zusammen was essen – kommst du mit?«, erkundigte sich Amira. »Jan-C. ist auch dabei.«
»Sorry. Aber ich werde zu Hause gebraucht. Die Männer haben sich schon beschwert.«
Die anderen lachten.
An Amira gewandt sagte Helle: »Du hast ja einen Schlüssel.«
Damit verließ Helle die Wache.
Im Auto überkam sie plötzlich eine bleierne Müdigkeit. Der Schlafmangel in der Nacht zuvor machte sich bemerkbar, außerdem entzog ihr die schlechte Luft im Volvo den dringend benötigten Sauerstoff. Sie kurbelte die Scheibe ein wenig herunter und sog die kalte Luft von draußen ein. Es begann wieder zu regnen, kleine Tröpfchen nur, eher feuchter Nebel, aber laut Wetterbericht sollte es weitergehen mit dem Dauerregen. Schlechte Bedingungen für Rami und seinen Kollegen.
Als Helle den Volvo vor ihrem Haus einparkte, sah sie zu ihrer Erleichterung drinnen Licht. Bengt war heute also zu Hause, und sicher hatte er gekocht. Ihr Magen grummelte, die zwei kleinen belegten Brote waren eher Appetizer gewesen denn Sattmacher.
Sie schloss auf, ließ Jacke und Stiefel im Windfang und betrat auf Socken den warmen und gemütlichen Wohnraum. Zunächst wunderte sie sich, dass Emil ihr nicht entgegenkam, der kriegte sich sonst nicht ein vor Freude, aber dann sah sie, dass der alte Kerl mit Bengt auf dem breiten Sofa lag. Den Kopf hatte er an Bengts Oberschenkel gepresst, und als er merkte, dass sein geliebtes Frauchen kam, schlug der Schwanz einen Trommelwirbel. Aber er blieb in der Schlafstellung, dachte gar nicht daran, vom Sofa zu springen und ihr das Gesicht abzulecken. Kein Wunder, dachte Helle. Das Sofa war normalerweise absolut tabu für den großen Mischling. Bengt musste sich sehr einsam gefühlt haben, wenn er Emil erlaubt hatte, es sich neben ihm gemütlich zu machen. Und der dachte natürlich nicht im Traum daran, dieses besondere Plätzchen nun mir nichts, dir nichts aufzugeben.
Vorsichtig kam Helle näher. Bengts Kinn war auf die Brust gesunken, er gab leise Schnarchgeräusche von sich.
Vorsichtig setzte sich Helle auf die andere Seite ihres Mannes, fasste zu Emil hinüber und kraulte ihn zwischen den Ohren. Der Hund schob träge seine Zunge aus dem Maul, leckte Helle zwei-, dreimal über die Hand. Sie betrachtete liebevoll Emils großen runden Schädel, den Flaum hinter den Ohren und die feuchte Nase.
Ihre Lider wurden ganz schwer. Bengts Brust hob sich gleichmäßig im Takt seines Atems. Helle fühlte sich warm und geborgen, sie zog die Beine aufs Sofa, legte den Kopf auf den Bauch ihres Mannes und schlief sofort ein. Tief und traumlos.