Innentemperatur 21 Grad

Kieran bestellte das dritte Bier. Er hatte nur eines trinken wollen, als Absacker, den Stress vom Job abschütteln, dann nach Hause. Aber nun saß er hier in der Sportsbar und klebte mit seinem Hinterm am Barhocker und mit den Augen am Bildschirm.

»Eine weniger.« Jemand rammte ihm seinen Ellenbogen in die Seite, Kieran guckte gar nicht erst. Der Typ, der neben ihm saß, er kannte ihn von den Versammlungen. Nicht nur bei der Nationalpartiet, auch von anderen Aktionen.

»Hm.« Kieran nickte nur.

Imelda sah ihn an.

Kieran blickte zurück.

Auf der Zeichnung von gestern hatte sie noch geschlossene Augen gehabt. Hatte tot ausgesehen und wie irgendwer. Die neue Zeichnung war besser, lebendiger. Zwar sah Imelda noch immer aus wie alle diese asiatischen Mädchen aussehen, aber Kieran wusste, dass sie es war. Oh, und wie er es wusste! Ihr Gesicht erschien ihm am Tag, und es erschien ihm in der Nacht. Er würde es nie mehr vergessen, das Gesicht von Imelda.

Der Typ neben ihm stieß ihn schon wieder in die Seite. »Hör mal, das sieht ja gut aus für uns.«

Kieran drehte den Kopf und sah den Mann an. Glasige Augen, stierer Blick.

»Was meinst du?«

»Na Katrine! Die Nationalpartiet! Die Umfragewerte sind der Hammer.« Der Typ hob sein Bierglas. »Auf den Sieg!«

Kieran hob sein Bierglas, es schien ihm kiloschwer, und prostete dem Mann zu. »Auf uns. Auf Katrine!«

Sie tranken jeder einen Schluck.

»Stimmt’s, dass sie ’ne Lesbe ist?« Die kleinen Äuglein des Mannes neben ihm funkelten sensationslüstern. Kieran zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder dem Bildschirm zu.

Die Polizei suchte Zeugen. Die Beschreibung der Toten aus der Düne war lückenlos. Die Kleidung: schwarzer Anorak, weiße enge Jeans, dünne schwarze Ballerinas. Lange schwarze Haare, schlanke Figur, einen Meter sechsundfünfzig groß. Wer hatte die Frau im vergangenen Jahr gesehen?

Ich, dachte Kieran. Ich habe sie gesehen.

»Nicht, dass ich was dagegen hab«, schwadronierte sein Nachbar. »Ich würde gerne mal zusehen, wenn sie’s machen …« Er lachte dreckig.

Kierans Kopf fuhr herum. Er verlor langsam die Nerven mit diesem Affen.

»Wie sie was machen? Wie wer was macht?«

Der andere starrte ihn an. »Na ja … Katrine und ihre …«

»Vergiss es«, fuhr Kieran ihm über den Mund. Der Mann starrte ihn noch ein paar Sekunden lang an, dann grummelte er etwas, stand auf und verzog sich. Gut so. Schwachmat.

Kieran starrte wieder auf den Bildschirm. Sachdienliche Hinweise. Ja, die könnte er liefern. Nicht nur er.

Kierans Hirn klopfte von innen gegen die Schädeldecke, so

Er hatte immer befürchtet, dass sie eines Tages wieder auftauchen würde. Sie hätten Imelda gleich woandershin bringen sollen – er und Johann.

Johann, verdammt, der wusste zu viel.

Kieran stemmte sich vom Tresen ab, runter vom Hocker und wankte mit unsicheren Schritten aus der Bar. Dem Barkeeper machte er ein Zeichen – ich komm gleich wieder, alles klar.

Draußen fummelte er sein Handy aus der Hosentasche. Er sah, dass Katrine schon wieder versucht hatte, ihn zu erreichen. Seit die Nachricht über Imelda in der Düne über die Kanäle lief, hatte sie ihn mehrfach angerufen. Aber er ging nicht ran. Noch nicht. Schaffte es nicht. Zu viel Schiss. Er wusste, sein Job stand auf dem Spiel. Aber das tat er auch, wenn er mit ihr sprach.

Die kleine asiatische Fotze würde ihn Kopf und Kragen kosten.

Kieran leckte sich die Lippen und rief Johann an. Ihm war danach, jemanden zur Sau zu machen.

Johann hatte noch nicht einmal hallo gesagt, da fuhr Kieran ihn schon an. »Wo bist du?«

»Hej Kieran, und selbst?«

»Und selbst? Was glaubst du wohl? Hast du mal den Fernseher angemacht?«

Pause. Johann, dieses halbe Hirn. Kieran war nah dran, völlig auszurasten. Noch so ein Blödmann.

»Wovon redest du? Kier? Ich muss gleich die Mädels abholen, gibt’s Stress?«

»Und ob es Stress gibt, du Vollidiot!« Die Passanten sahen sich nach Kieran um, deshalb hielt er jetzt eine Hand vor den Apparat und flüsterte. »Sie ist wieder da. Ist aus der Düne aufgetaucht.« Und noch leiser »Imelda«.

»Fuck, was? Shit, shit, shit.«

»Geh ins Internet, du verdammter Blödmann, und dann telefonieren wir wieder.«

»Kieran. Warum gehst du nicht ans Telefon?«

»Ich …«

»Keine Erklärung nötig, ich weiß natürlich warum.«

Verdammt, sie hatte diese schneidende Stimme. Kieran kannte die Stimme seiner Chefin, wie er ihre Stimmungen kannte. Bevor er noch irgendetwas zu seiner Rechtfertigung vorbringen konnte, sprach sie weiter. Stakkato. Selbst wenn er gewollt hätte, er hatte keine Chance gegen sie.

»Ich weiß nicht, was passiert ist, und ich will es auch nicht wissen. Ich habe mit Elin gesprochen, aber sie ist völlig durcheinander. Jedenfalls musst du das ins Lot bringen, Kieran. Wie, ist mir vollkommen egal. Aber das muss aus der Welt.«

Muss aus der Welt? In Ordnung bringen? Wie zum Teufel stellte sie sich das vor? Da war eine Leiche, und die Polizei hatte sie gefunden – was konnte er denn jetzt noch tun? Himmel, Arsch und Zwirn.

»Es darf auf gar keinen Fall eine Verbindung zu mir geben, hörst du, Kieran? Ich stolpere jetzt nicht darüber, so kurz vor der Wahl.«

Klar. Das war ihre Sorge. Na klar. Ob sein Kopf rollte, das war ihr egal. Kassenwarte und Buchhalter gab es genug. Aber Ausputzer gab es im Moment nur einen, und das war er. Scheiße.

»Okay. Ich kümmere mich darum«, hörte er sich wider besseres Wissen sagen.

»Danke.« Ihre Stimme wurde augenblicklich weich. Sie konnte aus dem Stand umschalten. Zu Kierans Beruhigung trug es dennoch nicht bei. Stattdessen hörte er, dass sie das Gespräch beendet hatte.

Er war also allein. Stand mit dem Handy in der Hand und drei Bier im Schädel vor der Kneipe auf der Straße und hatte einen riesigen Haufen Scheiße an der Backe. Eine Leiche, eine knallharte Chefin und ihre total durchgedrehte Schwester. Und – da war

Kieran überlegte fieberhaft, was er tun könnte, um die Sache abzuwälzen. Aber ihm fiel nichts ein. Außer noch ein Bier.