Der Kleinbus wartete mit laufendem Motor, spuckte graue Abgaswolken in die Nacht. Die Frauen liefen hastig die kurze Strecke von der Fabrik zur geöffneten Autotür, eine nach der anderen verschwand geduckt im Inneren des Wagens. Pilita sprang als Letzte hinein, den Atem angehalten, bis sich die Tür schloss und der junge Mann losfuhr. Durch die leeren Straßen, in der Nacht hatte es ein wenig geschneit, die dünne Schneedecke akzentuierte die dunklen Kanten der Stadt, Zucker auf Beton.
Pilita kannte keinen Schnee. Nicht aus ihrer Heimat, nur im Fernsehen hatte sie so etwas gesehen. In Wirklichkeit war es weniger schön, fühlte sich feuchter an und ungemütlich. Dickes kaltes Wasser. Sie beschloss, Schnee nicht zu mögen. Bei den wenigen Schritten, die sie soeben durch den Matsch gelaufen war, war er durch ihre dünnen Stoffturnschuhe gedrungen, jetzt hatte sie nasse Füße. Im Wagen war die Heizung bis zum Anschlag hochgedreht, vielleicht hatte sie Glück, und die Schuhe trockneten etwas. Sobald sie im Zimmer war, würde sie die nassen Schuhe und Strümpfe ausziehen und sich ins Bett legen. Sie wollte nicht krank werden. Sie hätte ja trotzdem arbeiten müssen, so wie Dao, die seit Tagen Fieber hatte und hustete. Sie musste putzen, obwohl sie sich kaum auf den Beinen halten konnte. Die Frauen versuchten, sie zu schützen, ihre Arbeit zusätzlich zu übernehmen, aber das änderte nichts daran, dass Dao mitkommen musste und in der Fabrik in den Gängen herumstand, bleich, mit Schweiß auf der Stirn und dunklen Augenringen.
Pilita würde Rubina fragen, ob die ihr etwas organisieren konnte. Bessere Schuhe für den Schnee. Rubina organisierte fast immer irgendetwas, einen Anorak, Schal, Mütze. Pilita gab ihr dafür Geld, obwohl Rubina sagte, es sei schon gut. Lieber hätte Pilita in anderer Währung bezahlt, ihrer neuen Freundin Pancit gekocht oder Kwek Kwek. Aber sie hatten keine Küche, keinen Herd, nur eine kleine Gasflasche mit einem Gestell obendrauf. Darauf kochten sich die Frauen gemeinsam Reis oder Kaffee.
Dao drückte sich eng an sie, das Kinn fiel ihr schon nach kurzer Zeit auf die Brust, und Pilita nahm ihre Hand und streichelte sie sacht. Die Haut war heiß.
Über die Schulter der Frauen auf der vorderen Sitzbank blickte Pilita durch die Frontscheibe auf die Straße. Ab und an nahm sie in den Augenwinkeln wahr, dass der Fahrer auf seinem Handy herumdrückte, er hatte das Gerät in einem speziellen Halter, der mit einem Saugnapf an der Scheibe befestigt war.
Der junge Mann war heute sehr nervös. Er fuhr nicht gut, war abgelenkt, er hörte keine Musik und rauchte schon die zweite Zigarette. Pilita sah von ihrer Sitzposition nur sein angeschnittenes Profil, sah Rücken und rechte Schulter, wenn er sich ein wenig nach vorne beugte, um sich mit seinem Smartphone zu beschäftigen.
Und plötzlich sah sie Imelda.
Pilita ließ die Hand von Dao los und beugte sich nach vorne. Auf dem kleinen Bildschirm war eine Zeichnung zu sehen, das Gesicht ihrer Schwester. Aufgeregt deutete Pilita auf das Bild, es gab auch Ton, jemand redete, ein Schriftband erschien. Das waren die Nachrichten! Imelda war in den Nachrichten!
»Stop! Please!«, rief Pilita aufgeregt, sie fiel fast über die Sitzbank nach vorne, hatte ihren Platz verlassen, krallte sich an Anuthidas Schulter fest, mit der freien Hand fuchtelte sie in Richtung Smartphone. Imeldas Gesicht war verschwunden, stattdessen gab es eine Wetterkarte. Schnee. Überall Schnee in Dänemark.
Der junge Mann blickte über die Schulter zu Pilita, er verriss das Lenkrad, der Kleinbus geriet auf der nassen Fahrbahn ins Schleudern, jemand schrie.
Er packte das Lenkrad, kurbelte wild herum, rief etwas, schließlich kam der Bus zum Stehen.
»Fuck!«, brüllte der Mann und drehte sich mit dem ganzen Oberkörper zu Pilita um, die noch immer mit angehaltenem Atem auf das Smartphone starte.
»Crazy bitch!« Das Gesicht des jungen Mannes war noch bleicher als das von Dao. Er schrie sie an, sein Speichel traf sie ins Gesicht. Die anderen Frauen redeten aufgeregt durcheinander, Dao zog an Pilita, sie sollte sich wieder hinsetzen. Aber Pilita dachte nicht daran. Sie zeigte auf das Smartphone, blickte dem Fahrer fest in die Augen.
»This woman – what happened?«
Der Mann kniff die Augen zusammen, schüttelte den Kopf, sah auch auf das Telefon, aber es lief bereits etwas anderes, jemand sang ein Lied. Dann schien er zu begreifen, und sein Kinn klappte nach unten, mit offenem Mund starrte er Pilita an.
»You know her?«
»What happened?«, beharrte Pilita entschlossen.
Der junge Mann hatte sein Handy aus der Halterung genommen, tippte darauf herum, dann hielt er es Pilita vors Gesicht. Die Zeichnung.
Ja, das war Imelda.
Pilita starrte ihre Schwester an. Dann wieder den Mann.
»What happened? Please …« Tonlos fielen jetzt die Worte aus ihrem Mund. Sie wusste es. Sie wusste plötzlich mit Gewissheit, dass etwas Furchtbares geschehen war. Aber sie wollte es hören. Er sollte es sagen.
»You know her?« Der junge Mann klang böse.
»She’s my sister.«
Jetzt drehte sich Anuthida, die vorne saß, um. »Pilita, I’m so sorry. She’s dead.«