Innentemperatur 18 Grad

Kieran lauschte auf die ruhigen Atemzüge seiner Frau. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da war er es gewesen, der sie mit seinem Schnarchen gestört hatte. Er hatte tief geschlafen und dabei immer geschnarcht. Pia dagegen war geräuschempfindlich gewesen, sie war bei jeder noch so kleinen Störung hochgeschreckt. Es war die Zeit, in der die Zwillinge noch klein waren und Pia stillte. Er dagegen konnte pennen wie ein Löwe. Damals hatte sie ihn gebeten, ins Wohnzimmer umzuziehen, schlug sogar getrennte Schlafzimmer vor.

Natürlich hatte er abgelehnt.

Wo waren wir denn gelandet, wenn ein Mann nicht mehr bei seiner Ehefrau liegen durfte? So weit kam es noch!

Ein paar Jahre war es so gegangen, aber jetzt waren alle Kinder aus dem Gröbsten raus, das jüngste war vier, da musste man nachts wirklich nicht mehr raus.

Allerdings konnte er nun nicht mehr schlafen. Pia legte sich abends neben ihn, und kaum hatte ihr Kopf das Kissen berührt, schlief sie ein.

Er dagegen lag wach, Nacht um Nacht. Ein paar Bierchen halfen beim Einschlafen, aber wenn es eine gute Nacht war und er tatsächlich schlafen konnte, dann wachte er mit Sicherheit mitten in der Nacht auf und lag ewig wach. Und grübelte. Und seit ein paar Monaten bekam er auch noch regelmäßig Besuch von Imelda.

Verdammte Hacke.

Und dann kam Katrine. Zuerst hatte sie ihm gesagt, dass er die Wahl hatte: sein Job in der Nationalpartiet oder die andere Sache. Sie war dagegen, von Anfang an. Rechtsstaat und so weiter. Und dann, vom einen Tag auf den anderen die 180-Grad-Wende: Ihre Schwester bräuchte Hilfe. Ob er jemanden hätte.

Mannomann, er hatte gleich ein schlechtes Gefühl dabei gehabt, als sie das sagte; diese durchgeknallte Elin würde ihm Ärger einhandeln, das war klar gewesen, nichts als Ärger, von Anfang an.

Als dann Imelda ankam, mit dem Blag, da war er ausgerastet – am liebsten hätte er sie gleich zurückgeschickt, ein Kind war gegen die Regeln. Das hätten sie besser gleich auf See entsorgt und die Mutter hinterher.

Aber dann stand sie da. Wem hätte er die anbieten sollen? Mit Kind? Da hatte er sie eben an Elin gegeben, obwohl er wusste, dass das gleich zwei Scheißhaufen auf einmal waren.

Kieran setzte sich auf und machte die Nachttischlampe an. Das Sodbrennen kam wieder. Pia murrte im Halbschlaf und drehte sich auf den Bauch.

»Ja, ja, ist ja schon gut.« Kieran löschte das Licht wieder und tapste über den Flur in die Küche. Kramte nach den Magentabletten, schmiss zwei ein und spülte mit Limo nach.

Dann setzte er sich an den Küchentisch und zwang sich, die Sache einmal in Ruhe zu überdenken.

Ihn und Johann traf keine Schuld. Sie waren keine Mörder.

Dass die Frau Schiss vor ihnen gehabt hatte – nicht sein Bier.

Dass das Reh plötzlich auf der Straße stand – Pech.

Und klar hatten sie versucht, Imelda wieder einzufangen.

Und, Mann, dann war es eben passiert. So wie es manchmal eben kommt.

Klappe zu, Affe tot.

Jetzt hatte er die Scheiße an den Hacken, und er musste zusehen, wie er sie wieder wegbekam. Katrine würde ihn eiskalt und sofort abservieren, das war ihm klar.

Sie hatte vorhin durchblicken lassen, dass sie ihn lieber heute als morgen los wäre. Aber wenn sie ihn jetzt rausschmiss, würden die Bullen vielleicht misstrauisch.

Also durfte er seinen Job behalten – vorerst. Sie hatte ihm aber auch gesagt, dass jemand anderes seine Aufgaben übernehmen würde.

Schluss mit Schatzmeister.

Schluss mit Verantwortung.

Schluss mit Boss.

Schluss damit, für die Siegerin arbeiten zu dürfen.

Verdammtes Miststück. Scheißlesbe.

Klar, dass sie sauer war, weil er nichts davon erzählt hatte, was damals in Råbjerg Mile passiert war. Sie wusste nur, was Elin ihr erzählt hatte: dass Imelda plötzlich verschwunden war. Das hatten sie so abgemacht, Elin und er. Sie fanden beide, Katrine müsse nicht mehr wissen, als unbedingt nötig – Elin, weil sie Schiss vor ihrer Schwester und außerdem Mist gebaut hatte, und Kieran, weil er Katrine schützen wollte. Sie hatte ja mit den Mädchen nichts zu schaffen, warum sie also belasten?

Und schließlich ging die Rechnung doch auf. Katrine steckte in der Sache nicht drin, also sollte sie sich vor den Bullen nicht ins Hemd machen. Das hatte er ihr in dem Gespräch auch zu sagen versucht, aber sie hörte gar nicht zu. Kein Wort durfte er sagen, nur sie hatte geredet, von oben herab. Mann, war das ein übles Gespräch gewesen. Sie hatte ihn runtergeputzt in ihrer

Kieran arbeitete von Anfang an für Katrine, er hatte ihr immer die Stange gehalten. Er mobilisierte die Wähler, war auf der Straße, kannte die Leute, er machte die ganze verdammte Fußarbeit. Organisierte Demos, Proteste gegen die Flüchtlingsheime, machte Stimmung bei Facebook und Twitter und auf dem Spielplatz, am Rand von den Fußballspielen der Söhne, am Tresen in den Kneipen.

Katrine war sich für alles zu fein gewesen, sie konzentrierte sich auf die »Gremienarbeit«. Mischte mit den Politikern und Industriellen und dem Oberezehntausendpack mit.

Auf einmal war seine Arbeit also nichts mehr wert. Er war abgemeldet.

Allein.

Wer blieb ihm jetzt noch?

Johann.

Die Nullnummer.

Wenn die Bullen noch mal wegen des Wagens kamen – und das würden sie, das war so klar wie die Königin Raucherin blieb –, dann würden die sie in die Zange nehmen. Alle, die an dem Tag gefahren waren. Die anderen wussten nichts, die waren aus dem Schneider. Er selbst war ein harter Hund. Aber Johann? Johann würde kein Verhör überstehen, auch das wusste Kieran.

Das mit dem Fahrzeug würden sie wohl hinkriegen, die Bullen würden es nicht schaffen, ihnen nachzuweisen, mit welchem Wagen sie am Skagensvej gewesen waren. Also konnte man ihm und Johann nicht ans Zeug flicken. Die Eintragung im Fahrtenbuch hatten sie damals gleich gefälscht, logisch. Er und Johann waren in Randers gewesen. Sie waren rumgefahren und hatten sich nach geeigneten Stellen zum Plakatieren umgesehen. So lautete ihre offizielle Version der Geschichte. Das war genial, so konnten sie sich gegenseitig ein Alibi geben.

Kieran erhob sich vom Küchentisch und genehmigte sich einen Schnaps. War gut gegen Sodbrennen. Half doch gegen alles.

Schlimmer war die Scheißgeschichte mit der Schwester. Himmel, Arsch und Zwirn! Woher kam die denn plötzlich? War die schon mit Imelda zusammen angekommen? Und wo hatte sie die ganze Zeit gesteckt?

Johann sagte, sie sei erst kurz vor dem Sommer gekommen, aber vielleicht verwechselte er sie auch. So leicht waren die ja nicht auseinanderzuhalten. Diese Schwester – Johann sagte, sie hieße Pilita, komischer Name, wer zum Teufel hieß den Pilita? – war von Anfang an in Aalborg gewesen, hatte in der Fabrik geputzt. Und jetzt war sie weg. Wie vom Erdboden verschluckt.

Kieran stöhnte und stellte die Flasche mit dem Schnaps vor sich auf den Tisch. Einer geht noch. Sind ja nur kleine Gläschen.

Er hatte Johann dazu angehalten, sich die anderen Mädels vorzunehmen. Sie ein bisschen unter Druck zu setzen. Eine musste doch was wissen, verdammich. Die steckten doch alle unter einer Decke, und er wusste nur allzu gut, dass Frauen sich immer zusammentaten. Und den Mund zu halten war auch keine weibliche Tugend!

Einer würde sie sich anvertraut haben, und Johann musste herausfinden welcher.

Außerdem kam so eine nicht weit, da war sich Kieran sicher. Die Frage war nur, wer sie zuerst fand – die Bullen oder sie.

Sie konnte die Sprache nicht, kannte sich nicht aus und hatte keine Papiere. Wo sollte so eine schon hin?

Ob sie hier noch andere Verwandte hatte? Vielleicht war die ganze Sippe hier, und sie hatten es nicht geschnallt.

Wenn die Kleine plauderte, konnte sie die ganze Organisation hochgehen lassen.

Die Frage war nur: Was sollten sie mit ihr tun, wenn sie sie fanden? Das Mädchen wusste nichts über den Unfall, sie hatte ja nicht einmal gewusst, dass ihre Schwester tot war.

Die Gefahr war, dass sie erzählte, wie sie ins Land gekommen war. Für wen sie arbeitete. Wer ihr Papiere versprochen hatte.

Und dann war er dran.

Und nicht nur er, die ganze Organisation würde auffliegen.

Verdammt noch eins, die Sache war verzwickt. Kieran nahm noch einen Kurzen. Dann konnte er besser denken. Warum hieß denn Schnaps auch Klarer? Na eben, half beim Denken.

Gesetzt den Fall, ihm und Johann gelang es, die Kleine zu finden, mussten sie ihr unmissverständlich klarmachen, dass sie geliefert war, wenn sie zur Polizei ginge. Ohne Papiere – da hieß es sofort: ab in die Heimat.

Eigentlich musste die darüber doch froh sein, schoss es Kieran durch den Kopf. Philippinen, das war doch Strand, Sonne und Palmen, den ganzen Tag über. Was wollten die denn alle hier? Er würde sofort tauschen und den ganzen Tag die Eier schaukeln! Eine Hotdog-Bude eröffnen, das lief in Spanien auch Bombe, warum also nicht da unten?

Kieran stöhnte. Aber so würde sein Leben leider nicht laufen, das stand einfach nicht in seinem Kaffeesatz. Die da oben stopften sich die Taschen voll, sie hier unten arbeiteten sich krumm und bucklig – für nichts.

Wenn die Leute in ihre Länder abgeschoben wurden, Afghanen und Syrer und Tunesier und wo die alle herkamen, dann bekamen die auch noch einen Rückflug geschenkt. Geschenkt! Das musste man sich mal auf der Zunge zergehen lassen.

Wer schenkte ihm einen Flug?

Er nahm noch einen Klaren für den klaren Kopf.

Wer hat, der hat.

Kieran dachte nach.

Er wollte auch was davon ab. Wer sagte eigentlich, dass er kein Anrecht darauf hatte? Dass er immer nur Scheiße fressen musste?

Katrine dachte sich wohl, dass sie ihn einfach so abservieren könnte. Nur wegen Imelda. Aber so einfach würde es nicht laufen, Prinzesschen, dachte Kieran jetzt und fühlte sich auf einmal hellwach und verdammt klar im Kopf.

So einfach würde er nicht dahin gehen, wo er hergekommen war. Dazu wusste er zu viel. Er würde ihr verklickern, was er alles wusste. Was er alles erzählen könnte.

Und das wäre bestimmt nicht hilfreich so kurz vor der Wahl.

Noch einen auf den Weg, dachte Kieran zufrieden, kippte den letzten klitzekleinen Schnaps hinunter, stellte die Flasche weg, spülte das Gläschen aus – Pia musste nicht wissen, dass er nachts gesoffen hatte, sie konnte Alkohol sowieso nicht ausstehen – und ging ins Schlafzimmer.

Er kroch zu Pia unter die Decke und legte den Arm um sie. Mein altes Mädchen, dachte er. Mein gutes altes Mädchen, dein Kieran biegt das wieder hin.

Zufrieden mit sich und versöhnt mit der Welt schlief er ein.