Innentemperatur 22 Grad

Nachdem es noch am Vortag so ausgesehen hatte, als würden sie mit ihren Ermittlungen auf der Stelle treten, hatte die Soko »Düne« durch die Informationen von Filipe Arroyo nun alle Hände voll zu tun.

Kaum war sie vom Hafen gekommen, hatte Helle ihre Leute zu einer Sitzung zusammengetrommelt, den neuesten Stand der Dinge referiert und Aufgaben verteilt.

Marianne kochte am laufenden Band Kaffee und versorgte die Crew mit Nervennahrung, während sie an einer Pressemitteilung saß und darüber hinaus ständig mit den Tränen kämpfte, weil sie mit dem neuen Rechner nicht klarkam. Amira bemühte sich nach Kräften, ihr en passant das Wichtigste beizubringen, aber Marianne rief trotzdem alle paar Minuten nach Hilfe. Schließlich bot sich Jan-Cristofer an, sich neben Marianne zu setzen und sie zu unterstützen, damit Amira die Möglichkeit bekam, auch auf den übrigen Computern und Laptops Programme zu installieren, alle Rechner zu synchronisieren und trotzdem an der Arbeit der Soko teilzunehmen.

Helle konnte Amira nicht genug loben, schließlich kam die geglückte Digitalisierung für ihre Skagener Wache gerade rechtzeitig – die Ermittlungen weiteten sich aus, sie suchten nicht länger nach einem Täter im Fall der Toten in der Düne, sondern es bestand Gefahr im Verzug. Ein verschwundenes Kind und eine untergetauchte illegale Migrantin, die möglichweise eine Gefahr für den Menschenhändlerring darstellte, weil sie zu viel wusste,

Nach ihrer internen Sitzung stattete Ingvar ihnen einen Besuch ab, und Helle war sehr dankbar, dass ihr Chef sich nach Skagen bemühte und ihr damit die Fahrt nach Fredrikshavn ersparte. Das Schönste aber war: Er brachte Christian mit.

»Nachdem ich den Jungen abgezogen habe, bekommst du ihn jetzt wieder«, kommentierte Ingvar. »Der Staatsanwalt hat es aufgrund der veränderten Sachlage abgesegnet.«

»Welcome back«, sagte Helle erfreut, und Christian grinste.

»Nichts für ungut, Ingvar, aber die Verpflegung ist hier einfach besser«, sagte er und deutete auf die große Platte mit verschiedenen Smørrebrod, die Marianne in Helles Chefzimmer, das jetzt Soko-»Düne«-Besprechungsraum hieß, deponiert hatte.

Noch vom Hafen aus hatte Helle ihren Vorgesetzten auf Stand gebracht und darum gebeten, ihr Christian wieder zur Verfügung zu stellen. Jetzt führte sie die beiden Männer zu dem Whiteboard, das um die Aufzeichnungen von Jan-C. ergänzt worden war.

»Wir haben Fotos der beiden Frauen und auch von dem Baby. Imelda Esperon, geboren Mai 1996, verschwindet am 3. Dezember aus Luzon. Sie geht in Manila an Bord eines Schiffes, die Passage hat ihr der Schwager vermittelt. Um welches Schiff es sich handelt, wissen wir nicht, er will es aus guten Gründen nicht sagen. Wir nehmen an, dass es sich entweder direkt um die Gloria oder aber ein Schiff derselben Reederei handelt.«

»Habt ihr Kontakt mit der Hafenbehörde in Manila?«, erkundigte sich Ingvar.

»Das steht auf unserer To-do-Liste«, bestätigte Helle. »Ich muss sowieso mit den philippinischen Behörden Verbindung aufnehmen und sie um Mithilfe bitten. Ich brauche alle Informationen, die sie über die Familie haben. Eventuell sind noch weitere Familienmitglieder in Dänemark, und der Ehemann verschweigt es. Vielleicht steht ja auch eine häusliche Tragödie hinter dem

Christian pfiff durch die Zähne. »Meinst du, du bekommst so schnell die richtigen Leute an die Strippe?«

»Diese ganze Sache mit dem Menschenschmuggel übersteigt sowieso unsere Kompetenzen«, ging Ingvar jetzt dazwischen. »Wir sollten mit Anne-Marie Pedersen sprechen oder gleich mit dem Polizeipräsidenten. Wahrscheinlich muss man über Interpol gehen oder was weiß ich.«

Helle nickte. »Ja, ich denke auch. Letztendlich ist das für uns auch nicht der Ermittlungsschwerpunkt. Imelda ist hier gestorben, nachdem sie ins Land gebracht wurde. Wir müssen uns um die Drahtzieher in Jütland kümmern. Wer hat sie in Skagen an Land gebracht? Wer hat ihr Arbeit und Unterkunft verschafft? Wer hat ihre Papiere? Und am vordringlichsten«, jetzt kam sie zu dem Thema, das sie am meisten beschäftigte: »Wo ist der Junge?«

Ingvar legte sein Gesicht in Dackelfalten. »Das sollte in der Tat eure Hauptaufgabe sein, Helle. Ich will sehen, dass sich jemand anders um die Sache in Manila kümmert. Eine Abteilung, die international operiert. Darf ich Anne-Marie Pedersen bitten, das weiterzugeben? Die sind in Aalborg natürlich besser aufgestellt und vernetzt als wir Provinzheinis.«

Helle nahm Ingvars Vorschlag erleichtert auf. Schon während des Gesprächs mit Filipe hatte sie gewusst, dass dieser Fall die Dimensionen ihrer Soko »Düne« überstieg, ja dass er auch den Kompetenzbereich der Polizei Nordjütland sprengte.

Seit sie annehmen mussten, dass sich die Tote aus der Düne

Das ganze Grauen menschenverachtender Geschäfte hatte sich vor Helle in ihrem weitgehend hyggeligen Leben entfaltet, ein Panoptikum menschlicher Gewalttaten, verübt allein aus wirtschaftlichen Gründen. Menschen wurden auf allen Kontinenten verschachert wie Billigware, die Sklaverei war keineswegs ausgestorben, sie hatte lediglich das Antlitz verändert.

Immer wieder war dabei der Obduktionsbericht von Dr. Runstad vor ihrem geistigen Auge aufgetaucht, der die vielen Wunden und Verletzungen an Imeldas Körper beschrieb.

Was hatte die flüchtige Schwester, Pilita, ausgestanden? War sie ihren Peinigern entkommen? Und was war mit dem Jungen geschehen? Er war nicht bei Pilita, und seine Mutter war seit einem Dreivierteljahr tot. Hatte er überlebt? Und wenn ja, wo? Und vor allem, wie?

Die Zeit lief Helle davon, sie stand unter innerer Anspannung

In der Sitzung hatte sie die Aufgaben verteilt, und als sie sah, dass alle mit Hochdruck an ihre Aufträge gingen, sie die Pressemitteilung formuliert und vier Becher Kaffee getrunken hatte, waren die Kopfschmerzen wie weggeblasen.

Linn sollte sich mit Aneta von der Sitte in Kopenhagen kurzschließen, um sie im Fall der untergetauchten Schwester auf den aktuellen Stand zu bringen – sollte die Frau in Kopenhagens Rotlichtmilieu unterwegs sein, gab es zumindest eine Chance, sie zu finden.

Ole sollte sich gemeinsam mit Amira noch einmal die Leute der Nationalpartiet vornehmen. Helle glaubte, die Kombination war genau die richtige für ihr Good-cop-bad-cop-Spielchen.

»Christian, du sprichst bitte mit den Typen vom Gewerbeaufsichtsamt wegen Schwarzarbeit. Haben sie in der Vergangenheit Fälle von Leuten gehabt, die sich illegal in Dänemark aufhalten, wenn ja, in welcher Branche, über welche Hintermänner und so weiter. Ich will die letzten zehn Jahre – lückenlos. Ach ja, und erkundige dich bitte nach illegalen Putzkolonnen.«

Christian zog nur die Augenbrauen nach oben und machte sich Notizen.

»Was ist jetzt mit den Videobändern vom Bahnhof? Und wer hat die Vermieter befragt?«, fragte Helle weiter.

Christian warf einen betretenen Blick zu Ingvar. »Ich war mittendrin, da bin ich abgezogen worden. Ich habe nicht viel geschafft, allerdings war die Resonanz bis dahin negativ. Die Frau kam aus dem Nichts.«

Ingvar hatte den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden. »Gib mir das Material und die Infos, ich finde in Fredrikshavn jemanden, der das übernehmen kann.«

»Danke.« Helle nahm ihre Jacke vom Haken. »Ich fahre zum Hafen. Wir müssen mehr über die Fischer in Erfahrung bringen.«

»Ach«, wunderte sich Helle, »ihr hattet schon Kontakt?«

»Tja.« Jan-Cristofer grinste. Und schwieg sich aus.

»Ich fahr dann wohl mal wieder?« Ingvar stand etwas hilflos in Helles Zimmer.

»Danke für die Unterstützung, Ingvar. Ich halte dich auf dem Laufenden«, schaffte Helle noch, ihm zuzuwerfen, dann lief sie schon im Laufschritt durch den Gang zur Tür.

»Willst du noch mal auf die Pressemitteilung …«, versuchte Marianne, sie aufzuhalten. Vergeblich.

»Kann Ingvar machen!«

Und schon saß Helle im Polizeiauto, Jan-Cristofer schmiss sich auf den Beifahrersitz, Helle startete. Zum Glück hatte Emil sie heute nicht mit zum Dienst begleitet, er durfte bei Sina zu Hause bleiben, was er bestimmt sehr genoss. Mit ihrem heutigen Tempo hätte er nicht Schritt halten können.

Am Hafen erwartete Trine sie bereits – dieses Mal mit brennender Pfeife, und statt dem Businesskostüm vom letzten Besuch trug sie einen Regenoverall mit grob gestrickter Pudelmütze – genau die richtige Aufmachung, um einen Kerl aufzureißen, dachte Helle. Wenn dir in der Aufmachung einer an die Angel geht, dann bleibt er für immer. Jan-Cristofer jedenfalls grinste Trine breit an, ihre wasserblauen Augen signalisierten deutliches Interesse, und Helle dachte nur: Oh, oh.

»Wir gehen mal rüber zu den Jungs«, nahm die Hafenmeisterin die Sache in die Hand. »Im Moment haben wir neun feste Kutter im Hafen, die regelmäßig rausfahren. Einer hat erst zum Herbst mit dem Geschäft aufgehört. Früher waren es locker dreißig, aber das war vor meiner Zeit.«

»Und die stammen alle aus Skagen?«, hakte Helle nach.

»Ist es theoretisch denkbar, dass ein Fischer so etwas macht? Also, sich an so einer Menschenschmuggelsache beteiligt?«

»Theoretisch ist alles denkbar«, orakelte Trine. »Praktisch leider auch. Als Fischer verdient man nicht gerade üppig, die wenigsten können sich überhaupt über Wasser halten.«

Helle nickte. Das war natürlich auch ihr Gedanke gewesen. Geld korrumpierte, das war ja nicht neu. Außerdem gehörte Schmuggel in früheren Zeiten zum Nebenverdienst der Fischer – in der Nordsee verliefen traditionell wichtige Routen, auf denen Tee oder Whisky illegal von einer Landesküste zur anderen transportiert wurde. Aber das war Jahrzehnte, wenn nicht gar Jahrhunderte her.

»Außerdem sag ich dir ganz ehrlich«, fuhr Trine fort, »vermutlich würde das nicht unbedingt auffallen. Die Fischer kennen den Hafen genau, die wissen, wer wann hier ist und wann sie jemanden unbeobachtet von Bord gehen lassen können.«

Jan-Cristofer war verwundert. »Aber habt ihr hier keine Videoüberwachung?«

»Beim Containerhafen selbstverständlich. Da gibt es auch Wachpersonal. Die sind zwar für die gesamte Hafenanlage zuständig, aber im Fischereihafen laufen sie weniger Patrouille als bei den Jachten oder Containern, wo es wirklich was zu holen gäbe.«

»Einbrüche? Kommt so etwas vor?«

Trine winkte ab. »So gut wie gar nicht.«

Sie hatten nun den Fischereihafen erreicht. Lediglich ein Kutter lag am Pier, alle anderen waren noch auf See. Helle betrachtete die kleinen Holzboote stets mit Wehmut, die Kutter mit ihren Auslegern, daran die Schleppnetze, die großen Kessel an Deck zum Abkochen der Krabben, das Gewirr von Netzen, Tauen und der unverwechselbare Geruch nach Muscheln, Seetang und Meerwasser stimmten sie nostalgisch. Für sie waren

»Nehmen wir mal an«, sagte sie und betrachtete das kleine Fischerboot, »der übernimmt ein, zwei, drei Leute auf See …«

»Drei ist schon das absolute Maximum. Mehr als zwei geht eigentlich nicht«, warf Trine ein.

»Also gut, zwei Leute. Dann kommt er in den Hafen. Die Geschmuggelten bleiben unter Deck. Der Fischer löscht seine Ladung, geht seinen üblichen Geschäften nach, fährt nach Hause.«

Helle guckte Trine und Jan-Cristofer an, die bestätigend nickten.

»Und dann kommt er nachts noch mal zurück«, nahm Jan-Cristofer den Ball auf, den Helle ihm zugespielt hatte – und warf ihn wieder zurück.

»Weil er weiß, wann die Security ungefähr ihre Runden dreht, bleibt er unbemerkt.«

»Und genauso holt er die Leute von Bord …«

»… raus aus dem Hafen, rein ins Auto, das war’s.«

Trine pfiff bewundernd. »Klar. Möglich ist das. Aber die Gefahr, gesehen zu werden, ist gar nicht so klein. Es liegen ja Schiffe hier, auf denen nachts jemand schläft. Die Frachter, die privaten Boote. Theoretisch besteht die Gefahr, entdeckt zu werden.«

»Das schon«, stimmte Helle zu. »Aber gerade weil hier alle möglichen Leute unterwegs sind, würde sich vielleicht auch niemand etwas dabei denken, oder? Der Hafen ist hier in dem Bereich nicht abgesperrt, jeder kann jederzeit rein und raus.«

»Aber wir können nicht alle, die im vergangenen Jahr hier im Hafen waren, ausfindig machen und befragen, ob sie etwas gesehen haben«, wandte Jan-Cristofer ein.

Trine lachte laut auf. »Absolut unmöglich!«

»Das nicht«, gab Helle zu und beobachtete zwei Möwen, die sich lautstark um einen Fischkopf stritten, »aber wir fangen an, die Fischer unter die Lupe zu nehmen. Von Trine bekommen wir Namen und Adresse, und du, Jan-C., lässt sie durchs Register

Jan-C. nickte und warf Trine einen Blick zu. Die strahlte ihn an. »Kann ich euch zu einem zweiten Frühstück einladen?«

Sie zeigte auf eines der roten Holzhäuschen, in dem nun nicht mehr Fische ausgenommen und verkauft wurden, sondern ein hübsches Café eingezogen war. »Rührei mit frischen Krabben, handgepult – sensationell.«

Helle lief das Wasser im Mund zusammen, ihr Magen schrie JA!, aber ihr Kopf siegte mit einem entschiedenen Nein – sie hatten alle Hände voll zu tun, und die Zeit lief ihr davon.

»Leider nein, wir müssen los, aber ich komme später gerne darauf zurück.« Sie lief los zum Auto.

»Ich kann auch hierbleiben, und Trine gibt mir gleich die Namen von den Fischern«, schlug Jan-C. vorsichtig vor.

Helle schüttelte den Kopf und musste sich sehr um eine strenge Chefinnen-Miene bemühen. »Das kann sie dir mailen, ich brauch dich auf der Wache.«

Jan-C. hob bedauernd die Schultern, beeilte sich aber, Helle zum Wagen zu folgen. Trine sah ihm hinterher und schickte mit ihrer Pfeife Rauchsignale in die Luft.

»Ich möchte, dass wir Anrufe, die uns auf das Phantombild erreicht haben, gemeinsam durchgehen«, erklärte Helle ihrem Freund im Wagen. »Es waren ja welche darunter, die wir sofort aussortiert haben, weil sie sich auf eine Zeit beziehen, in der Imelda bereits tot war. Aber!« Helle hob oberlehrerhaft den Zeigefinger, denn sie war ein bisschen stolz auf diesen nächtlichen Geistesblitz. »Die Schwestern sehen sich ziemlich ähnlich.«

»Es kann also sein, dass jemand Pilita gesehen hat.«

»Richtig! Wir haben den möglichen Todeszeitpunkt damals nicht gekannt. Wir haben uns lediglich auf das vergangene Jahr bezogen. Wenn jemand also ab August eine Frau gesehen hat, die

»Leuchtet ein.« Jan-C. trommelte nervös auf seine Oberschenkel. »Mannomann, ich muss immer daran denken, dass die beide irgendwo da draußen sind. Die Frau und der Kleine. Was für eine Scheiße. Stell dir vor, der ist doch noch ein Baby.«

Helle nickte nur und schwieg. Im Eifer der Ermittlungsarbeit war wenig Platz für emotionale Momente, aber Jan-C. hatte recht, wenn sie nur einen Moment lang an Pilita und ihren Neffen dachte, wurde es ihr vor Sorge ganz eng in der Brust.

»Wir finden sie«, sagte sie schließlich und wusste, dass sie sich damit nur Mut machen wollte.

Als Helle das Polizeiauto parkte, wurde die Tür der Wache aufgerissen. Marianne stand da, das Gesicht hochrot, sie schwenkte einen Zettel.

»Wir haben sie!«

»Was? Wen?«, fragte Helle, sie hatte kaum ein Bein aus dem Auto gesetzt.

»Ein Juwelier hat bei den Kollegen in Aalborg angerufen. Neben seinem Laden sitzt seit gestern eine Bettlerin. Er wollte, dass die Polizei die Frau entfernt.« Marianne machte eine dramatische Pause, und Helle hielt die Luft an. »Jetzt kommt’s: Er hat sie beschrieben mit den Worten, dass sie aussieht wie die Tote aus der Düne, sie hat nur was anderes an.«

Triumphierend überreichte Marianne ihrer Chefin den Zettel. »Ausnahmsweise war die Kollegin, die den Anruf entgegengenommen hat, auf Zack und hat an unsere Ermittlungen gedacht.«

»Und? Haben sie die Frau?«

Marianne zuckte mit den Schultern. »Kam eben erst rein, sonst hätte ich dich ja angerufen. Und die Kollegin meinte, eine Streife fährt mal vorbei und guckt sich das an.«