Sie war am Ende, wusste nicht mehr weiter, glaubte, alles sei vergebens, und überdies würde sie erfrieren. Hier, in diesem Gartenschuppen, zwischen einem Sack Erde, einer Schubkarre und einem Gartenschlauch.
Pilita saß eng zusammengekauert, die Arme um die Knie geschlungen, und wiegte sich vor und zurück.
Der Mann, der sie zu ihrem Neffen führen sollte, war tot. Ermordet. Und sie hatte es mit ansehen müssen. Wie sollte sie Jomel jetzt finden? Sie konnte nicht einfach zurückkehren in ihre Heimat, mit leeren Händen. Ohne die Asche ihrer Schwester, ohne ihren kleinen Neffen.
Die Kälte hatte von ihrem Gehirn Besitz genommen, nachdem sie in der Nacht ihren Körper gelähmt hatte. Es war wie eingefroren, die Gedanken bewegten sich in Zeitlupe durch ihre Hirnschale. Der einzige Gedanke, der immer wiederkehrte, war der, dass sie fror. Dass sie ihre Zehen und Finger nicht mehr spürte. Dass sie ihre Lippen kaum bewegen konnte und die Zähne aufeinanderschlugen.
Was hatte sie sich bloß dabei gedacht, dem Mörder zu folgen?
Es hatte sie nirgendwohin geführt, zu keiner Erkenntnis, keinem Ergebnis, einzig und allein: in diesen Schuppen.
Aber in dem Moment, als sie dem Mörder gefolgt war, hatte sie nicht nachgedacht. Sie hatte den einzigen roten Faden, der sich ihr bot, gefasst. War ihm einfach hinterhergelaufen, durch die verwinkelten Straßen bis in diese Villengegend. Er hatte Haken geschlagen, als wüsste er, dass sie hinter ihm war, aber Pilita hatte sich nicht abschütteln lassen, zu groß war ihre Verzweiflung.
Wohin hätte sie sonst gehen sollen? Ihr Plan war gescheitert.
Pilita wusste, dass sie sterben würde, wenn sie in dem Schuppen blieb. Sie hatte nicht gemerkt, dass in der Nacht der Schlaf sie geholt hatte, es hätte auch der Tod sein können. Als sie dann aber die Augen aufgeschlagen hatte und Licht durch die Latten fiel, wunderte sie sich, dass sie noch lebte. Ihr Handy hatte keinen Akku mehr, sie hatte es nicht aufladen können, sie wollte so gerne mit Filipe sprechen, ihm sagen, was sie getan und was sie nicht getan hatte, dass sie ihn liebte und sich nach ihm sehnte.
Dass sie nach Hause wollte.
Aber die Götter hatten sie nicht ohne Grund wieder aufwachen lassen. Sie hatten ihr eine Aufgabe zugeteilt, und Pilita wusste, dass sie jetzt nicht aufgeben durfte.
Nicht aufhören durfte, Jomel zu suchen.
Mühsam erhob sie sich. Die Beine wollten ihr nicht gehorchen, waren vollkommen steif und unbeweglich. Vorsichtig begann Pilita, sich zu strecken, trampelte mit den Füßen, zog die Beine abwechselnd hoch an die Brust, lief schließlich auf der Stelle. Warm würde ihr nicht mehr werden, aber sie spürte, dass das Blut durch den Körper strömte. Und auch ihr Gehirn nahm seine Arbeit wieder auf. Während sie in dem winzigen Schuppen Runde um Runde auf der Stelle lief, kehrte die Zuversicht wieder zurück. Sie hatte nicht all diese Gefahren und die lange Reise und Mühen unternommen, um aufzugeben!
Pilita ging ihre Optionen durch. Sie konnte Rubina aufsuchen. Die hatte ihr jedes Mal geholfen, aber von Rubina führte keine Spur zu Imelda.
Sie konnte auch zurückkehren in das Haus, in dem Chai, Anuthida und Dao waren. Würde dem jungen Mann einfach sagen, es war ein Fehler gewesen wegzulaufen, es käme nie wieder vor. Sie würde doppelt so viel arbeiten und das doppelte Geld abgeben. Sie würde fügsam sein und sich gedulden und dabei die Augen und Ohren offen halten. Denn auch wenn der ältere Mann tot war, war doch immer noch sein Gehilfe da. Vielleicht wusste der nicht, wo Imelda untergebracht gewesen war, aber er würde vielleicht jemanden kennen, der es wusste.
Je länger Pilita sich mit dem Gedanken beschäftigte, einfach zurückzugehen, desto besser gefiel er ihr.
So würde sie es machen.
Schließlich öffnete sie die Tür des Schuppens und spähte vorsichtig hinaus.
Der Garten, in dem das Holzhäuschen sich befand, war nicht besonders groß, es war vielmehr ein grüner Streifen rund um das Haus in seiner Mitte. Er wurde durch eine hohe Hecke vor neugierigen Blicken geschützt. Von außen hatte man keinen Einblick in den Garten, aber vom Garten konnte man von überall in das Haus sehen, das keine Wände zu haben schien, sondern bodentiefe Fenster. Pilita sah ein großes Wohnzimmer, in dem nur wenige Möbel waren. Ein Mann stand mit dem Rücken zu ihr, eine Frau kniete auf dem Boden vor dem Mann.
Pilita sah sich nach dem Ausgang um. Sie war in der Nacht hinter dem Mörder hineingeschlüpft, bevor das große Metalltor hinter ihm zufallen konnte. Das Tor schien automatisch gesteuert, es fuhr in Zeitlupe zu, sodass sie Zeit gehabt hatte, in allerletzter Minute in den Garten zu huschen. Im Finstern der Nacht war es ein Leichtes gewesen hineinzukommen, aber nun, bei Tageslicht, gelangte man umso schwieriger hinaus.
Der Mann konnte sie nicht sehen, aber was, wenn er sich umdrehte? Die Frau, die vor ihm auf dem Boden kauerte, hatte den Kopf zum Boden gerichtet, dunkle Haare fielen wie ein Schleier vor ihr Gesicht. Wenn sie sich jedoch aufrichtete und den Blick hob, dann würde sie Pilita entdecken.
Pilita beschloss zu warten, bis die beiden sich nicht mehr im Wohnzimmer aufhielten. Sie musste genug Zeit haben, um zum Tor zu rennen. Um keinen Preis durfte sie gesehen werden!
Sie sah zu dem Mann und der Frau hinüber. Die Szene war seltsam. Pilita bekam ein ungutes Gefühl, je länger sie die beiden beobachtete, irgendetwas war nicht richtig, das war nicht einfach nur ein Ehepaar im Wohnzimmer. Warum kauerte die Frau auf dem Boden? Der Mann war voll bekleidet, die Frau aber trug nichts weiter als ein Negligé. Jetzt legte sie ihre Arme schützend über den Kopf, duckte sich noch tiefer in den Boden.
Der Mann fasste in einer schnellen Bewegung in die Haare der Frau und riss sie daran hoch.
Pilita stockte der Atem.
Er schleifte die Frau an ihren Haaren durchs Zimmer, Pilita konnte sehen, wie sie schrie. Sie machte einen Schritt aus dem Schuppen, hielt kaum aus, was sie sah, wollte hinüberrennen, an die Scheibe schlagen, den Mann zwingen, damit aufzuhören. Er ließ die Haare los und trat der Frau in den Bauch. Sie krümmte sich noch mehr zusammen, Pilita wurde übel.
Würde der Mann die Frau töten? Sie musste Hilfe holen, aber wie sollte sie das tun?
Schockstarr hatte sie den Blick auf die beiden Menschen in dem Wohnzimmer geheftet und vermochte nichts auszurichten. Sie konnte nicht davonlaufen und die Frau ihrem Schicksal überlassen.
Dann ließ der Mann von seinem Opfer ab und ging aus dem Zimmer. War die Frau tot? Pilita war zu weit weg, um zu erkennen, was mit ihr war. Sie wollte sich gerade ein Stückchen näher heranschleichen, sich hinter einem Busch in Deckung begeben, da betrat der Mann erneut das Wohnzimmer. Er trug nun einen langen Wintermantel und hatte ein kleines Kind auf dem Arm. Er sagte etwas zu der Frau, setzte das Kind auf den Boden und ging.
Das Baby hatte glänzende schwarze Haare und Mandelaugen. Es krabbelte auf die am Boden Liegende zu.
Pilita dachte nicht länger darüber nach, ob sie entdeckt werden könnte. Sie wurde magisch angezogen, vergaß fast zu atmen. Sie hatte ihn beinahe ein Jahr nicht mehr gesehen, damals war er gerade mal vier Monate alt gewesen, aber trotzdem erkannte sie in ihm die Züge ihrer Schwester.
Sie war sicher.
Das war Jomel.