Innentemperatur 20 Grad

»Planänderung!«, rief Helle, und Ole guckte irritiert. »Frits hat eine SMS geschickt – sie haben Johann Vind am Flughafen festgenommen! Er wollte sich anscheinend ins Ausland absetzen.«

»Also zur Wache?«

»Ja«, gab Helle zurück. »Das ist jetzt wichtiger. Elin läuft uns nicht weg.«

Frits erwartete sie bereits.

»Sein Anwalt ist gerade gekommen. Sie beraten sich.«

»Okay. Was habt ihr gegen ihn?«

»Im Grunde genommen nichts. Der Anwalt weiß das auch. Johann sollte zur Vernehmung kommen und hat sich entzogen. Angeblich hat er es vergessen und wollte in den Urlaub.«

»Ha, ha.«

»Du sagst es. Aber ich habe dem Anwalt gesteckt, dass wir Vind erstens der Falschaussage im Fall Imelda Esperon bezichtigen und dass er zweitens verdächtigt wird, in einen Fall von Menschenschmuggel verstrickt zu sein.«

Er hielt Helle ein paar Ausdrucke hin. »Das kam eben aus Skagen, haben deine Leute zusammen mit der Ermittlungsgruppe gegen Schwarzarbeit recherchiert.«

Helle warf einen Blick auf die Blätter. Es war eine Zusammenfassung der Kontobewegungen von Wulf Jacoby, Kieran Jensen und Johann Vind. Alle drei verdienten sehr viel mehr, als ihre Jobs zuließen. Und alle drei tätigten unregelmäßig mittlere

»Also entweder sind sie einfach nur dumm, oder sie waren sich ihrer Sache zu hundert Prozent sicher«, resümierte Helle. »Die haben sich ja nicht einmal Mühe gemacht, das zu verschleiern!«

»Ich vermute beides«, stimmte Frits ihr zu. »Es ist jedenfalls dein Fall. Wegen des Mordes an Kieran Jensen habe ich absolut nichts gegen Vind in der Hand. Aber ich denke, sein Anwalt wird uns etwas anbieten wollen, damit es nicht ganz so dicke für seinen Mandanten kommt.«

»Alles klar. Dann wollen wir mal.«

Helle und Frits nickten sich zu, dann betraten sie gemeinsam das Zimmer. Johann Vind war ein blasser junger Mann, der aussah wie ein in die Höhe geschossener Spargel. Zu lang, zu weiß, zu bartlos. Er saß zusammengeklappt auf dem kleinen Stühlchen, den Kopf ließ er hängen, sodass sein Kinn fast die Knie berührte. Die dürren Finger hatte er ineinander verschränkt, ab und zu drehte er sie um und ließ die Gelenke knacken. Kein einziges Mal sah er Helle oder Frits in die Augen.

Nach den obligatorischen Präliminarien begann Helle mit der Befragung.

»In welchem Verhältnis stehst du zu Kieran Jensen?«

»Ich, äh …« Der junge Mann sah hilfesuchend zu seinem Anwalt. Das wird mühsam, dachte Helle. Wenn er nicht einmal auf eine einfache Frage eine einfache Antwort geben kann.

»Er ist mein Kollege«, rang sich Johann ab, der Anwalt nickte ermutigend.

»Okay. Ist er auch dein Geschäftspartner?«

Johann schüttelte den Kopf.

»Bitte antworten«, bat Frits.

»Seltsam. Denn uns liegen Unterlagen von deiner und seiner Bank vor. Und daraus geht hervor, dass ihr beide seit Februar 2017 sehr regelmäßig Bargeld auf eure Konten einzahlt – in etwa der gleichen Höhe zu etwa den gleichen Zeiten. Einmal im Monat. Mit schöner Regelmäßigkeit bis heute. Und sowohl Kieran als auch du verdient das Geld nicht mit euren regulären Jobs bei der Nationalpartiet.« Helle tippte auf die Papiere.

Johanns Kinn klappte runter, aber er sagte nichts.

»Die Einkommensverhältnisse meines Mandaten sind nicht von Belang. Bitte stellt Fragen zur Sache«, schaltete sich der Anwalt ein.

»Das ist durchaus zur Sache. Wir ermitteln in einem Fall von schwerem Menschenschmuggel, und dein Mandant steht im Zentrum der Ermittlungen.« Helle lächelte freundlich und dankte dem lieben Hormon-Gott, dass er ihr einen peinlichen Schweißausbruch ersparte.

»Darf ich die Papiere sehen?«, fragte der Anwalt, und Helle schob ihm das Dossier hinüber, das Christian mit Marianne über Johann Vind erstellt hatte.

»Also gut. Gehen wir einfach mal nur davon aus, dass ihr Kollegen seid.« Helle nickte dem jungen Mann aufmunternd zu. »Wenn man so eng zusammenarbeitet wie ihr beide, dann bekommt man ja einiges vom anderen mit, oder?«

Johann Vind versuchte, möglichst unbeteiligt zu gucken, aber aus seinen Augen sprach nackte Panik, das Fingerknacken wurde häufiger.

Da er zu einer Antwort nicht imstande schien, fuhr Helle einfach fort. »Wenn ihr so zusammen im Auto unterwegs wart – und das scheint ja häufig der Fall gewesen zu sein, wenn man den Fahrtenbüchern der Nationalpartiet glauben darf –, dann habt ihr doch bestimmt auch mal über Privates geredet.«

Johann Vind nickte erst, besann sich aber eines Besseren und schwieg eisern.

»Ja.« Es war mehr ein heiseres Krächzen denn eine Antwort.

»Nun, wir vermuten, Wulf Jacoby hat sich ein bisschen Geld damit verdient, dass er auf See ab und zu mal Menschen übernommen hat, die auf einem Frachter nach Dänemark gekommen sind. Er hat sie freundlicherweise an Land gebracht, und sein Schwager hat diesen armen Leuten geholfen, Arbeit und eine Unterkunft zu finden. Eine sehr soziale Geste.«

Der junge Mann zuckte mit den Schultern und sah zu seinem Anwalt, der ob der Fakten, die aus dem Dossier herauszulesen waren, die Stirn in Sorgenfalten zog.

»Einer dieser Menschen war Imelda, die schließlich in Råbjerg Mile umgekommen ist.«

Jetzt wurde Johann Vind zappelig. Er rutschte ungeduldig auf dem Stuhl herum.

»Damit haben wir nichts zu tun. Wir haben ein Alibi.«

»Ach ja, richtig. Du hast Kieran ein Alibi gegeben und er dir. Aber jetzt ist Kieran tot, und damit ist dein Alibi nicht mehr viel wert.«

Der junge Mann starrte Helle an. So weit hatte er anscheinend nicht gedacht.

»Und wir haben eine Zeugin, die gesehen hat, wie Imelda unweit der Stelle, wo ihre Leiche gefunden wurde, in euer Auto eingestiegen ist.« Helle stand auf. »Ich hole uns eine Runde Kaffee. Und wenn ich wiederkomme, dann fällt dir vielleicht ja noch ein, was Kieran dir erzählt hat. Und ob er dir nicht doch mal ein bisschen Bargeld für einen kleinen Job gegeben hat. Fahrerdienste zum Beispiel. Das scheint ja deine Kernkompetenz zu sein.«

Sie nickte Frits zu, der ebenfalls aufstand.

»Ich helfe dir tragen«, bot er an. Und an Vind und den Anwalt gerichtet: »Milch? Zucker?«

An der Tür drehte sich Helle um. »Andernfalls brauchen wir eine sehr gute Erklärung dafür, woher du das Geld hattest, das du eingezahlt hast. Mit der eidesstattlichen Erklärung desjenigen, der dir das Geld gegeben hat.«

Die beiden Polizisten verließen den Raum. Draußen grinsten sie sich an.

»Zehn Minuten lassen wir sie schmoren.« Helle guckte auf ihre Uhr.

»Hast du dafür wirklich eine Zeugin?«, fragte Frits und zwinkerte.

»Sagen wir: fast.« Bei dem Gedanken an Erika Blum fiel Helle etwas ein. Sie wandte sich zu Ole, der vor dem Verhörraum auf sie gewartet hatte. »Erinnerst du mich bitte daran, dass wir nachher noch bei Erika Blum vorbeifahren?«

Ole verdrehte nur die Augen.

Während Helle mit Frits in der Kaffeeküche stand, bekam dieser den Obduktionsbericht von Dr. Runstad. Kieran Jensen war Kaliumchlorid injiziert worden, der Herzstillstand jedoch war unmittelbar davor, spätestens aber gleichzeitig eingetreten, noch bevor die Lösung in seine Blutbahnen gelangt war. Bluthochdruck, Alkoholmissbrauch und Schock waren die Hauptursachen des Herzstillstands, die Spritze hatte schließlich dafür gesorgt, dass der Herzinfarkt letal war. Spuren einer körperlichen Auseinandersetzung gab es nicht, alles musste sehr schnell gegangen sein. Der Leichenleser hatte außerdem noch einmal bekräftigt, dass der Angreifer mindestens eine Körpergröße von einem Meter achtzig gehabt haben musste, anders sei der Einstichkanal nicht zu erklären.

»Wie groß ist Katrine Kjær?«, fragte sich Helle laut.

»Groß genug.«

»Hat sie ein Alibi?«

»Leider ein sehr gutes.« Frits hob bedauernd seine

»Verdammt!«

Als sie zurück in das Vernehmungszimmer kamen, hatte der Anwalt einen entschlossenen Zug um den Mund und Johann Vind einen hochroten Kopf. Helle verteilte die Becher mit dem Kaffee.

»Mein Mandant möchte eine Aussage machen.«

Der junge Mann fuhr sich an den Hals, ganz wohl war ihm bei der Sache offenbar nicht.

»Gleichzeitig versichern wir, dass er weder in Bezug auf die Aktivitäten von Kieran Jensen noch von Wulf Jacoby irgendwelche Kenntnisse hat. Auch über den Mord an Kieran Jensen kann mein Mandant keine Aussagen treffen. Im Übrigen hat er für den gestrigen Abend ein Alibi.«

»Mit den Alibis ist das ja so eine Sache«, grinste Helle. Sie hatte beste Laune, weil ihre Rechnung aufgegangen war. »Na, dann schieß mal los.«

Fingerknacken, ein Schluck Kaffee, Räuspern, Blick zum Anwalt. Dann war Johann Vind in der Verfassung, den Mund aufzumachen.

»Kieran und ich waren am 19. März auf dem Skagensvej unterwegs.«

Obwohl sie geahnt hatte, dass genau diese Information kommen würde, spürte Helle, wie die Anspannung von ihrem Körper Besitz ergriff. Sie durfte jetzt keinen Fehler machen.

»Wir sollten sie suchen. Wir haben einen Anruf bekommen, dass sie abgehauen ist.«

»Imelda?«

»Ja.«

»Wer hat euch angerufen? Von wo ist sie abgehauen?«

»Elin. Die Schwester von Katrine. Die hat ein Sommerhaus in Ålbæk.«

»Was hatte Imelda mit ihr zu tun?«

»Sie hat bei ihr gearbeitet.«

»Gearbeitet also. Und wo war ihr Sohn?«

Vind guckte empört, als habe Helle ihn etwas Unanständiges gefragt. »Welcher Sohn? Keine Ahnung, Mann! Ich hab sie noch nie gesehen, ich wusste gar nichts. Kieran hat einen Anruf bekommen. Von dieser Elin. Und hat gesagt, wir sollen sie suchen.«

»Okay.«

Helle hatte tausend Fragen: Wie war Imelda zu Elin gekommen? Als was arbeitete sie dort? Wo hatte sie gewohnt? Was war mit ihrem Kind? Wieso durfte sie das Haus nicht verlassen? Aber sie nahm sich vor, diese Fragen erst später zu stellen. Vind war so einer, den man nicht überfordern durfte.

»Also sind wir hin und haben sie tatsächlich da gesehen. An der Straße.« Fingerknacken, Kaffee. Er leckte sich nervös über die Lippen. »Wir haben angehalten, aber sie wollte nicht einsteigen.«

»Warum wollte sie nicht einsteigen? Hatte sie Angst?«

Johann Vind starrte auf seine Hände.

»Johann?«

»Sie wollte nicht zurück. Sie wollte zur Polizei.«

»Zur Polizei nach Skagen?«

Vind nickte, den Kopf noch immer gesenkt.

Helle war irritiert.

»Wieso wollte sie zur Polizei?«

Der junge Mann zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung.«

»Wie habt ihr sie dazu gebracht, doch einzusteigen?«

Vind schwieg. Und Helle ahnte warum. Sie hatten Imelda nicht überredet, ins Auto zu steigen. Sie hatten sie gezwungen.

»Gut, dazu kommen wir später noch. Imelda sitzt also im Auto – und dann?«

»Kieran hat gewendet und wollte sie zurückbringen, zum

Er stockte. Sie sahen ihn alle an, der Anwalt, Frits und Helle. Vind starrte auf den Tisch. »Sie ist aus dem Auto raus und abgehauen.«

»Nach Råbjerg Mile?« Helle schüttelte den Kopf. »Das liegt nicht am Skagensvej. Nicht auf dem Weg nach Ålbæk.«

»Kieran hat einen Schlenker gemacht, ist vorher auf den Kandestedvej abgebogen. Er wollte ihr ein bisschen Angst machen.«

Helle schnappte nach Luft. Ein bisschen Angst machen? Einer zierlichen Frau von einem Meter sechsundfünfzig, die wegen was auch immer flieht und zur Polizei möchte, die mit Gewalt von zwei Männern in ein Auto gezerrt wird, von denen der eine ein brutaler Fettsack ist und der andere ein stumpfer Riese, deren Sprache sie nicht oder kaum versteht, allein in einem fremden Land – der musste man also noch zusätzlich Angst machen? Was hatten diese Typen überhaupt im Hirn? Helle war vollkommen fassungslos.

»Wir sind hinter ihr her. Über die Düne. Aber sie ist ganz schön geflitzt.«

Ja, dachte Helle, das wäre ich auch, wenn ihr Arschgeigen mir auf den Fersen wärt.

»Und plötzlich war sie weg.«

»Was soll das heißen?«

»Sie war am Rand der Düne. Und auf einmal war sie verschwunden.«

Helle traute sich kaum, die Frage zu stellen. Sie kannte die traurige Antwort bereits.

»Habt ihr nachgesehen?«

Vind nickte. Knackte mit den Fingern. Sah zu seinem Anwalt, der nun wie versteinert dasaß und sich sicher fragte, warum zum Teufel er diese Arschkarte gezogen hatte.

»Ja. Man hat nichts mehr gesehen. Da ist ein Stück von der Düne abgebrochen. Überall war Sand. Nur Sand.«

Johann Vind starrte Frits an. Seine Augen waren gerötet. Er klappte den Mund auf und schließlich wieder zu. Schwieg. Helle hoffte inständig, dass er sich schämte. Und dass ihn das Bild des Sandhaufens, in dem eine junge Frau vor seinen Augen lebendig begraben worden war, sein Leben lang verfolgen würde.

Sie stand auf. »Nötigung und unterlassene Hilfeleistung, damit fangen wir mal an. Wir behalten Ihren Mandanten in U-Haft, und ich bin sicher, da kommt noch einiges zusammen.«

Mit diesen Worten an den Anwalt verließ sie den Raum, ohne sich umzusehen. Auch an Ole, der immer noch auf sie wartete, ging sie vorbei, sie musste dringend an die frische Luft. Draußen neben dem Haupteingang stand ein Aschenbecher, und wenn sie großes Glück hatte, erwischte sie jemanden, der ihr eine Zigarette spendierte.

Fünf Minuten und eine hastig gepaffte Zigarette später hatte Helle Ole auf Stand gebracht.

»Was für eine Scheißgeschichte«, war sein Kommentar.

Dann standen sie ein bisschen nebeneinander und guckten ins Grau des Vormittags.

»Dieser Elin fühlen wir jetzt aber richtig auf den Zahn«, sagte Helle. Sie trat die Kippe mit der Fußspitze aus, hob sie auf und legte sie in den Aschenbecher. Jetzt war ihr erst recht schlecht.