Als Ole in die Straße einbog, in der das Anwesen lag, glaubte Helle für einen Moment, am anderen Ende der Straße eine Frau verschwinden zu sehen. Mit roten Stiefeln. Rote Stiefel? Helle starrte einige Sekunden in die Richtung, aber da war nichts mehr.
»Moment, Ole.« Helle rannte los. Sie erreichte die Stelle, an der sie glaubte, die Frau gesehen zu haben, ein schmaler Fußweg zwischen zwei Gärten. Helle folgte dem Weg bis zum Ende, aber dort verzweigte sich die Straße in drei Richtungen. Rechts, links, geradeaus. Geradeaus war voll einsehbar, keine Menschenseele zu sehen.
Die Wege rechts und links waren ebenso schmal wie der, auf dem sie gerade gekommen war. Hecken, Gartenhäuser – aber keine Bewegung. Helle blieb stehen und hielt den Atem an. Hatte sie eine Erscheinung gehabt?
Ole tauchte hinter ihr auf, und Helle erzählte ihm, dass sie geglaubt hatte, eine Frau mit roten Stiefeln zu sehen. Allerdings war sie nicht sicher. Vielleicht war da auch gar niemand gewesen. Es war ein Schatten, eine flüchtige Bewegung gewesen, mehr nicht.
Ole spähte kurz in die beiden schmalen Gassen, schüttelte aber den Kopf.
»Du siehst Gespenster.«
»Möglich.«
Sie drehten um und gingen zu dem Haus von Katrines Schwester zurück. Haus und Garten waren von außen kaum einsehbar, eine hohe immergrüne Hecke verwehrte den Blick auf die Villa im Innern. Das Gartentor war eine mannshohe Tür aus stylish angerostetem Metall.
Helle drückte den Klingelknopf. Eine Kamera blickte sie an. Regungslos. Helle starrte ebenso regungslos zurück.
Keine Reaktion. Niemand zu Hause. Helle drückte erneut, dieses Mal länger.
»Hier haben wir kein Glück, niemand da.«
Ole wollte wieder ins Auto steigen, aber Helle hielt ihn zurück.
»Mach doch mal bitte Räuberleiter, ich will nur mal einen Blick über den Zaun werfen.«
»Spinnst du? Wenn man uns sieht!«
Helle sah sich um. Die anderen Häuser in der Straße wirkten ebenso unbelebt oder vor Blicken geschützt wie die Villa Elins.
»Quatsch. Hier ist doch alles tot. Geht ja auch ganz schnell. Ich bin neugierig.«
Ole stöhnte, stellte sich aber bereitwillig mit dem Rücken an das Tor und faltete brav die Hände, sodass Helle ihren Fuß hineinstellen und sich hochstemmen konnte. Ole ächzte. »Mann! Was wiegst du denn?«
Helle zog es vor, darüber keine Auskunft zu geben. Der Blick in den Garten war unspektakulär. Ein schmaler Rasenstreifen, ein Gartenhäuschen. Keine Beete, Pflanzen oder Kinderspielzeug. Es sah alles genau so aus wie bei Kieran Jensen, nur dass das hier die weitaus edlere Architektenvariante war.
Im Haus war Licht an, und – seltsam – die Terrassentür zum Wohnzimmer stand weit auf. Da das Zimmer, ähnlich wie bei Familie Jespers, eine Glasfront zum Garten hin hatte, erlaubte es Helle vollen Einblick in den Raum.
»Ole, da stimmt was nicht.«
»Ich kann dich bald nicht mehr halten.«
»Da liegt jemand auf dem Sofa, und die Terrassentür ist auf. Bitte klingel noch mal.«
»Wie denn?!«
Helle stieg herunter und drückte selbst lange auf die Klingel. Nichts geschah.
»Wir gehen rein.«
»Sag mal, spinnst du? Das ist Hausfriedensbruch!«
»Du hievst mich da jetzt sofort rein!« Helle wurde ganz hibbelig. Bei diesen Temperaturen lag niemand bei sperrangelweitem Fenster auf dem Sofa. Die Person hätte auch auf das wiederholte Klingeln gehört, selbst bei tiefem Schlaf, das Geräusch drang bis zu ihnen ans Gartentor. Nein, Helle war überzeugt, dass hier etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.
Ole formte noch einmal seine Hände so, dass Helle sich hochstemmen konnte. Sie schaffte es mit großer Mühe, sich halb über das Tor zu hängen und ein Bein auf die andere Seite zu schwingen.
In dem Moment ging die Alarmanlage los. Laut und durchdringend. Ole ließ einen Stapel Flüche los, Helle, mit dem Bauch auf dem Tor, einen Fuß zur Straße, einen zur Gartenseite, warf einen Blick auf den Menschen auf dem Sofa.
Keine Reaktion.
Sie ließ sich fallen.
Helle war nicht gerade mit der Eleganz einer Katze auf ihren Beinen gelandet, aber doch immerhin so, dass sie sich augenblicklich aufrappeln und zu der geöffneten Terrassentür sprinten konnte.
Die Person auf dem Sofa war eine Frau. Helles geschulter Polizistenblick erfasste die Lage sofort: auf dem Teppich neben dem Sofa leere Tablettenblister, ein umgestoßenes Wasserglas, die Frau anscheinend schon bewusstlos.
Während Helle die Vitalfunktionen der Frau prüfte, brüllte sie Ole zu, dass er einen Krankenwagen holen solle – Medikamentenvergiftung.
Die Lider der Frau zitterten, der Puls war schwach, aber spürbar.
Helle zog die Frau auf den Teppich, dabei rutschte die Decke herunter und gab den Blick frei auf die Verletzungen, die ihren Körper überzogen. Helle zwang sich, sich nicht darauf zu konzentrieren, sondern mit der Frau zu sprechen, sie dabei in die stabile Seitenlage zu legen und wach zu halten.
Jetzt kam auch Ole in das Zimmer gestürmt.
»Wasser, schnell.«
Ole reagierte sofort und lief in die angrenzende Küche, von wo er umgehend mit einem Glas Leitungswasser zurückkam. Sie versuchten beide, der Frau so viel Wasser wie möglich einzuflößen, damit das Gift verdünnt wurde. Die Frau – Helle nahm an, dass es sich um Elin Madsen handelte, Katrines Schwester, und sprach sie auch so an – versuchte tatsächlich, das Wasser zu schlucken und blinzelte nun stärker.
Oles Blick wurde starr, als er die Verwundungen der Frau wahrnahm. Er zog die Decke vom Sofa und legte sie behutsam über Elin, während Helle sich darum bemühte, dass sie wach blieb.
Bald schon hörten sie die Sirenen des Krankenwagens, und Ole ging in den Flur, um das Tor für die Sanitäter zu öffnen.
Helle hatte Elin in den Arm genommen, sprach beruhigend auf sie ein und schaffte es, ihren Blick zu halten. Zu gerne hätte sie sie gefragt, wer ihr diese Wunden zugefügt hatte – Schnitte, Prellungen, Brandwunden –, aber sie wusste, dass sie sich würde gedulden müssen, bis Elin stabil war. Die Antwort lag ohnehin auf der Hand. Das hier war ein glasklarer Fall von häuslicher Gewalt.
Dann ging alles sehr schnell. Der Notarzt legte eine Infusion, warf einen wissenden Blick auf die Tablettenpackung und übernahm die Patientin.
Ole hatte Frits verständigt und war durch das Haus gegangen. Er rief Helle von der anderen Seite des Flurs zu sich. Sie folgte seinem Ruf und fand sich in einem Kinderzimmer wieder. Ein Bilderbuchzimmer mit einem Tiermobile über dem Bett, einer hübschen Wickelkommode, hellblauen Wänden, auf der sich Giraffen, Elefanten und andere Dschungeltiere tummelten. Ein Schnuller lag auf dem Boden, die Schubladen der Wickelkommode waren geöffnet und durchwühlt worden.
»Scheiße, Ole, sie war es doch!«
Helle lief zurück ins Wohnzimmer und sah, dass der Sanka noch auf dem Rasen im Garten stand. Über die Schulter rief sie Ole zu, dass die Fahndung nach Pilita verstärkt werden solle. Sie sei nun nicht länger allein unterwegs, sondern hätte ein Kind bei sich. Einen kleinen Jungen, ungefähr ein Jahr alt, schwarze Haare, asiatische Gesichtszüge.
Helle öffnete die Tür des Rettungswagens, der Arzt sah sich genervt um.
»Wo ist das Kind?«
Elin sah Helle an. Verzweiflung, Trauer, aber auch Trotz lagen in ihrem Blick.
»Wo ist das Kind?«, wiederholte Helle. »Er ist es, oder? Jomel? Imeldas Sohn?«
Elin brach erneut in Tränen aus.
Aber sie schwieg.
Der Arzt schob Helle vom Wagen weg, schloss die Tür, und dann fuhren sie mit Blaulicht davon.
Als Helle später ins Krankenhaus kam, saß Katrine Kjær auf dem Flur. Alles Strahlende an ihr war verschwunden. Grau sah sie aus und traurig. Neben ihr saß die Frau, die Helle auf dem Foto in Katrines Büro bereits aufgefallen war. Sie musste ihre Ehefrau sein. Eine etwas jüngere Brünette mit wilden Locken und flippigen Klamotten. Sie hatte warme braune Augen, streichelte Katrines Hand und begrüßte Helle freundlich, bevor sie sich als Marit vorstellte. Sie sah in keinem Fall so aus, als könnte sie den politischen Überzeugungen ihrer Frau etwas abgewinnen. Helle stellte sich ebenfalls vor, preschte dann aber sofort mit der wichtigsten Frage vor.
»Wo ist der Ehemann?«
Die Verletzungen von Elin sprachen Bände. Und die Tatsache, dass Imelda ähnliche Wunden zugefügt worden waren, ließen nur einen Schluss zu: Beide Frauen waren von demselben Täter so zugerichtet worden.
Katrine sah Helle mit geröteten Augen an. Sie straffte sich, als sie antwortete: »Ich hoffe, in der Hölle.«
Helle akzeptierte die Antwort nur zum Teil. Sie wusste, dass zu jedem Täter Mitwisser gehörten. Und sie konnte einfach nicht glauben, dass die Misshandlungen ihrer Schwester Katrine, die hier vor ihr saß, verborgen geblieben waren oder dass Elin ihr gegenüber geschwiegen hatte.
»Wir werden uns unterhalten müssen«, sagte sie.
»Ich sage dir alles, was ich weiß. Wenn du mir garantieren kannst, dass nichts davon an die Öffentlichkeit gerät.«
»Das kann ich nicht«, gab Helle zurück.
Katrine musterte sie. Ihr Blick war undurchdringlich. Schließlich erhob sie sich und sagte: »Ich muss telefonieren.«
»Bitte.«
Helle sah Katrine nach, als diese aufrecht, das lange Blondhaar über dem Kamelhaarmantel, den Krankenhausflur hinunterging. Von dieser Frau würde sie nichts erfahren, was sie nicht preisgeben wollte, das war Helle sonnenklar.
Sie setzte sich neben Marit. Nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten, sagte diese: »Sven ist Pharmakologe. Er arbeitet in der Forschung und ist ständig auf Kongressen. Ich könnte mir vorstellen, dass er gerade wieder in ein Flugzeug steigt und irgendwohin jettet.«
»Danke für den Hinweis.« Helle holte nun auch ihr Telefon heraus und rief bei Jan-Cristofer an. Er sollte alle Flughäfen anweisen, Sven Madsen nicht ausreisen zu lassen, falls dies nicht schon geschehen sei. Er solle sich außerdem mit der Staatsanwältin, die für die Soko »Düne« zuständig war, in Verbindung setzen und rausfinden, ob man eine Fahndung nach ihm herausgeben könne. Er würde gesucht wegen Verdachts auf schwere Körperverletzung.
Kaum hatte sie das Gespräch beendet, kam Katrine wieder zurück und hielt Helle ihr Smartphone hin.
»Ja, bitte, Helle Jespers.«
Helle hatte damit gerechnet, einen Anwalt an der Strippe zu haben, und war einigermaßen überrascht, die Stimme des Polizeipräsidenten zu hören.
»Helle, Katrine hat mir gesagt, dass ihre Schwester nur noch am Leben ist, weil du so schnell vor Ort warst. Gut gemacht.«
»Trotzdem haben wir noch nichts erreicht.« Helle war nicht in der Stimmung, sich jetzt auf ein Podest heben zu lassen – der Ehemann von Elin war flüchtig, ebenso Pilita und der kleine Jomel, zum Mörder von Kieran Jensen gab es nicht einmal einen Verdacht. Für Lobhudeleien war jetzt keine Zeit.
Der Polizeipräsident räusperte sich. »Hör mal, wir haben nur noch zwölf Tage bis zur Wahl.«
Helle hielt die Luft an.
»Ich würde dich bitten, im Fall von Elin Madsen mit äußerster Diskretion vorzugehen. Für Katrine wäre diese Art von Aufmerksamkeit in der heißen Phase nicht hilfreich.«
»Nicht hilfreich? Ihr Rassistenklub hat eine Bande von Menschenschmugglern gedeckt, sie hat zugelassen, dass eine Frau, die sich illegal im Land aufhält, für ihre Schwester arbeitet, sie hat beide Augen zugedrückt, als die beiden Frauen von ihrem Schwager schwer misshandelt wurden …«
»Na, na, na, das muss doch alles erst einmal bewiesen werden. Genau davon rede ich.« Die Stimme von Olaf Ingursson war nun schon viel weniger einschmeichelnd. »Sollte Katrine eine Teilschuld treffen, dann wird sie sich dem natürlich stellen. Das hat sie mir soeben selbst versichert. Aber auf den bloßen Verdacht hin …«
Helle hörte nicht weiter zu. Sie reichte Katrine das Handy.
»Rede mit mir.«
Die Politikerin nickte. »Hier?«
Jetzt schaltete sich Marit ein. »Geht doch in die Cafeteria. Ich bleibe hier, wenn es etwas Neues gibt, verständige ich dich. Aber vorerst wird Elin wohl noch schlafen.«
Über eine Stunde lang sprach die Politikerin. Helle hörte zu, unterbrach selten mit einer Frage. Sie war fasziniert davon, wie diese selbstbewusste und intelligente Frau es schaffte, sich so erfolgreich selbst zu belügen und – je länger sie redete – in eine Opferrolle zu quatschen.
Nein, von Kierans Machenschaften hätte sie erst spät erfahren, zu spät, um etwas unternehmen zu können, schließlich sei Imelda zu dem Zeitpunkt schon im Haushalt von Elin und Sven gewesen. Und ihre Schwester, die keine Kinder bekommen konnte, hatte den kleinen Jungen so ins Herz geschlossen, dass sie ihn ihr nicht wegnehmen wollte.
Der Mord an ihrem langjährigen und engsten Mitarbeiter ließ sie selbstredend fassungslos zurück. Bestimmt sei das Attentat von politischen Gegnern, Antifaschisten oder ähnlich radikalen Gruppierungen verübt worden.
Sven sei anfangs als der perfekte Ehemann für ihre Schwester erschienen, gutaussehend und erfolgreich, erst in der letzten Zeit habe sie das Gefühl gehabt, dass er nur wegen des Geldes in die äußerst vermögende Familie Kjær habe einheiraten wollen. Davon, dass er Elin schlug, wusste sie rein gar nichts, sie habe erst davon erfahren, als Kieran sie deswegen unter Druck gesetzt hatte.
Hier horchte Helle auf und fragte nach. Katrine gestand, dass sie Kieran Jensen degradiert hatte, als Reaktion darauf, dass dieser seine Finger in den Aktivitäten des Menschenschmugglerrings hatte. Zum Dank dafür hatte er versucht, sie zu erpressen – er würde an die Öffentlichkeit gehen und überall erzählen, dass der Schwager von Katrine seine Frau verprügelte.
»Und da hast du erst davon erfahren?« Helle glaubte kaum, dass die Politikerin ihr eine derart dreiste Lüge auftischen wollte.
»Selbstverständlich!« Katrine gab sich entrüstet. Sie sei vollkommen ahnungslos gewesen, was die Misshandlungen anginge, ihre Schwester war schon als Kind labil gewesen mit der Neigung zu Depressionen, deshalb habe sie gedacht, dass sich damit das trübsinnige Gemüt erklären ließe.
»Was hast du unternommen?«
»Ich habe Sven zur Rede gestellt. Das ist doch wohl klar. Und ich habe ihm gesagt, dass ich das keinesfalls weiterhin dulde.«
Helle starrte sie an. Und du hast nicht sofort deine Schwester aus dieser Hölle geholt?, dachte sie. Du hast nicht daran gedacht, umgehend die Polizei zu verständigen und deinen Schwager anzuzeigen? Aber nein, gab Helle sich selbst die Antwort. Das hätte ja bedeutet, Verantwortung zu übernehmen.
Aber da war noch ein weiterer Gedanke, der in Helles Kopf rumorte. Sven hatte demnach über Katrine davon erfahren, dass Kieran mit seinem Wissen an die Öffentlichkeit gehen wollte. Und Sven war Pharmakologe. Der wusste, wie man Spritzen setzte und in welcher Potenz Kaliumchlorid verabreicht werden musste, um tödlich zu wirken. Sie würde nach dem Gespräch Frits davon in Kenntnis setzen. Sven musste unbedingt daran gehindert werden, das Land zu verlassen, nicht nur schwere Körperverletzung, auch Mord stand nun im Raum.
Nach dem langen Monolog schien Katrine viel weniger grau und deprimiert zu sein, so als hätte sie sich selbst wieder motiviert, ihre blauen Augen strahlten, und auch das berühmte Lächeln kehrte zurück. Katrine Kjær war mit sich zufrieden, dankte Helle für das Gespräch und verließ mit energischen Schritten die Cafeteria.
Helle blieb sitzen. Sie dachte an Imelda, die mit ihrem Sohn die weite und gefährliche Reise von den Philippinen gewagt hatte, um in Europa ihr Glück zu suchen. Und die an der Teflonwirklichkeit solcher Menschen wie Katrine Kjær abgeprallt war, nichts anderes im Wohlfahrtsstaat Dänemark kennengelernt hatte als rohe Gewalt und emotionale Kälte. Herzlich willkommen in Europa.
Helle hoffte, dass sie die kleine Frau mit den roten Stiefeln dort draußen nicht finden würde.
Hoffte, dass Pilita und Jomel es schafften, in ihre Heimat zurückzukehren.