Angriff auf Hollywood
W ährend den Reportern und Redakteuren der Washington Post noch der überraschende Wahlsieg Donald Trumps zu schaffen machte, waren die Public-Relations-Leute, die für Amazons Film- und Fernsehabteilung arbeiteten, mit einer ganz anderen Herausforderung konfrontiert: eine medienwirksame Kampagne für ihren oscarwürdigen Film Manchester by the Sea zu entwickeln. Bei einem Brainstorming kam einer von ihnen auf die Idee, den Boss selbst zu fragen, ob er vielleicht in Los Angeles eine Party für den Film geben wolle. Sie schrieben ihm eine E-Mail und bekamen ungewöhnlich schnell eine Antwort: »Ja! Die veranstalten wir in meinem Haus.«
Am Samstag, dem 3. Dezember, einem kühlen, wolkenlosen Abend, fielen die Prominenten in Bezos’ 1115-Quadratmeter-Anwesen in Beverly Hills ein, einer Villa im spanischen Baustil, die er neun Jahre zuvor für 24 Millionen Dollar gekauft hatte. Ein extravaganter, zeltartiger Bau war im Garten errichtet worden, auf einem kunstvoll gefliesten Patio neben dem Swimmingpool. Matt Damon, einer der Produzenten des Films, und sein Star Casey Affleck hielten Hof, während Schauspieler, Regisseure und Agenten an der gut sortierten Bar Schlange standen.
Ein beträchtlicher Teil von Hollywoods erster Garde hatte sich versammelt, 96 eingeladen entweder, weil sie mit Amazons Produktionssparte Amazon Studios zusammenarbeiteten, oder weil sie Mitglieder der Academy of Motion Picture Arts and Sciences waren: Michelle Williams (die auch im Film mitspielte), Gael García Bernal, Joseph Gordon-Levitt, Andy García und Megan Mullally; die Regisseure Joel Coen und Kenneth Lonergan (der das Drehbuch für Manchester geschrieben und Regie geführt hatte); die Hollywoodlegenden Faye Dunaway, Diane Keaton, John Lithgow und Ben Kingsley; die Musiker T Bone Burnett und Beck; Maria Shriver und ihre Töchter und viele mehr.
Im Mittelpunkt des Abends stand Bezos in einem schlichten anthrazitfarbenen Anzug mit einem nicht ganz bis zum Kragen zugeknöpften weißen Hemd – damals noch immer die vorsichtige Kleiderwahl eines sich allmählich wandelnden Technik-Nerds. MacKenzie war nicht dabei. »Jeff ist das Gegenteil von mir«, hatte sie in einem ihrer seltenen Interviews der Zeitschrift Vogue gestanden. »Er ist gern unter Leuten. Er ist sehr gesellig.« 97
In der Tat amüsierte sich Bezos blendend. Haus und Garten wimmelten von Stars mit gewaltiger Strahlkraft, doch da er der Gastgeber und der Boss des Unternehmens war, das die Eventfotografen engagiert hatte, konzentrierte sich die Aufmerksamkeit auf ihn. Von den vielen Bildern, die an diesem Abend geknipst wurden, sollte eines später intensiv studiert und oft nachgedruckt werden. Bezos war darauf zusammen mit Patrick Whitesell zu sehen, dem mächtigen Direktor der Unterhaltungs- und Medienagentur Endeavor, und dessen Frau, der früheren Nachrichtenmoderatorin Lauren Sánchez, die sich zwischen den beiden sichtlich wohlfühlte.
Bezos’ Aufpasser bemühten sich, dafür zu sorgen, dass er mit so vielen Gästen wie möglich sprach. Irgendwann mussten sie seine Unterhaltung mit der Schauspielerin Kate Beckinsale und ihrer Begleiterin, Ski-Ass Lindsey Vonn in einem spektakulären cremeweißen Jumpsuit, unterbrechen. Immer wieder beugte sich sein langjähriger Stellvertreter Jeff Blackburn zu ihm herunter, ein einen Meter dreiundneunzig großer früherer College-Footballspieler, der Amazons Videostreaming-Sparte Prime Video leitete. Anfangs ebenso an Bezos’ Seite, aber an diesem Abend früh gegangen war Roy Price, der Chef der Amazon Studios, in Jeans und einer schwarzen Motorradjacke über einem weißen T-Shirt mit V-Ausschnitt.
Als Event, das Aufsehen erregen und Amazons Präsenz in Hollywood verstärken sollte, funktionierte die Party prächtig. Branchenblätter brachten zahlreiche Fotos und schrieben darüber wie über einen Ball der High Society aus der guten alten Zeit. Bezos’ »Absicht an diesem Wochenende war klar«, 98 schrieb der Entertainmentkolumnist Peter Bart in Deadline . »Er will mehr Präsenz in der Stadt, sowohl für sich selbst als auch für sein Unternehmen.«
Im Lauf der nächsten Wochen sollte Bezos in Hollywood allgegenwärtig sein. Er war die Zielscheibe eines Scherzes in Jimmy Fallons Eröffnungsrede bei den Golden Globes (»Eigentlich ist er gestern schon angekommen, aber es war niemand da, der für ihn unterschrieben hätte«). An diesem Abend richtete er im Stardust Ballroom des Beverly Hills Hilton eine der spektakulärsten After-Show-Partys aus. Casey Affleck bekam den Golden Globe als bester Darsteller in einem Filmdrama; im Monat darauf gewann er den nämlichen Preis bei den Oscars, trotz eines anschwellenden Sturms der Entrüstung, bei dem es um Anschuldigungen wegen sexueller Belästigung vonseiten früherer Kolleginnen ging.
Amazon wurde nun im selben Atemzug mit Netflix genannt, einem weiteren Hollywood-Emporkömmling, der eine radikale Umwälzung für die Unterhaltungsbranche bedeuten sollte. Doch in den Amazon Studios, weit entfernt vom Glamour, wuchsen die Spannungen. Unabhängige Filme wie Manchester by the Sea und Nischen-TV-Hits wie Transparent über eine jüdische Familie in L. A., die mit Fragen der Geschlechtsidentität ringt, konnten Lob und Begeisterung auf sich ziehen. Doch sie stellten nicht die Art von Mainstream-Unterhaltung dar, die ein großes Publikum auf der ganzen Welt begeistern und andere Sparten von Bezos’ Internethandelsimperium beflügeln konnte.
Und so erließ Bezos eine Anordnung gegenüber Roy Price und den bereits alarmierten Managern der Amazon Studios. Sie sollte wie ein Damoklesschwert über ihnen schweben und zu einer kaum glaublichen Abfolge von Ereignissen führen, die Amazons Hollywood-Ambitionen jeglichen Glanz rauben und vorübergehend alles in Zank und Streit versinken lassen sollten: »Ich will mein eigenes Game of Thrones .«
Alles hatte, wie so oft bei Amazon, mit einer schwer nachvollziehbaren Entscheidung von Bezos begonnen, die seine Kollegen befremdete und sich erst im Lauf der Zeit als clever erweisen sollte. Ende 2010 war Amazon eine von mehreren Firmen, die Online-Zugang zu einem identischen Katalog von Spielfilmen und Fernsehsendungen anboten. Die Kunden bezahlten ein paar Dollar dafür, dass sie einen Titel einmal per Internet streamen durften, oder sie bezahlten mehr, um ihn zu »besitzen« und öfter anzusehen.
Unterdessen hatte Netflix einen Dienst für 8 Dollar im Monat eingeführt, der von seinem ursprünglichen DVD-per-Post-Programm völlig unabhängig war. Damit konnten die Abonnenten die älteren Fernsehsendungen und Filme im digitalen Katalog der Firma jederzeit streamen. Obwohl die Netflix-Videothek normalerweise keine Neuerscheinungen enthielt und die Firma noch keinen eigenen Content produzierte, reagierten ihre Kunden genau wie die Investoren positiv auf ihren Vorstoß für eine weniger streng reglementierte und kundenfreundlichere Zukunft für das Entertainment zu Hause.
Im Lauf der Jahre hatten Amazon-Manager immer wieder erwogen, Netflix zu kaufen, jedoch stets den Preis als zu hoch empfunden und die Sache daher nie ernsthaft verfolgt. Nun hatte es den Anschein, als hätten sie ihre Chance verpasst – die Firma aus Los Gatos, Kalifornien, entwickelte sich zu einem ernsthaften Konkurrenten. Typischerweise war Bezos nicht bereit, einem Rivalen einen bedeutenden Sieg zu überlassen. Er bat Bill Carr, den für digitale Musik und Video verantwortlichen Vice President, sich etwas einfallen zu lassen, um in dem wachsenden Geschäft von Subscription-Video-on-Demand oder SVOD konkurrenzfähig zu sein. Im Lauf der nächsten Monate trafen sie sich regelmäßig, bis Bezos die Lösung eines Tages selbst präsentierte: Sie würden einen kostenlosen Videodienst für Abonnenten anbieten – und zwar für die Mitglieder von Amazon Prime.
Carr und andere Manager verblüffte die Idee. Prime, das ursprünglich 79 Dollar im Jahr gekostet hatte, garantierte Amazon-Kunden, dass ihre Käufe ohne zusätzliche Versandkosten innerhalb von zwei Tagen bei ihnen eintrafen. Jetzt wollte Bezos Prime anders und weniger durch Transaktionen geprägt definieren: als uneingeschränkten Zugang zu einer Sammlung digitaler Inhalte. »Zuerst habe ich es nicht kapiert«, sagte Bill Carr. »Aber im Lauf meiner Karriere hatte ich mittlerweile begriffen, dass man, wenn Jeff mit einer neuen Idee ankommt, zuerst aufmerksam zuhört und eine Menge Fragen stellt, um herauszufinden, wie man das Ganze verstehen muss, und dann später die Details mit ihm bespricht.«
Rückblickend betrachtet war die Lösung genial. Amazon-Kunden wären nicht erfreut gewesen, wenn sie für einen Service zusätzlich hätten bezahlen müssen, der schlechter war als das bereits etabliertere Angebot von Netflix. Das Streamen als »Gratis«-Leistung einzuführen – die Menschen haben einen Hang zu Gratisangeboten – könnte manche Prime-Mitglieder veranlassen, ihre jährliche Mitgliedsgebühr rational zu begründen, selbst wenn sie nur ein paar Mal im Jahr etwas bei Amazon bestellten. (Anschließend erhöhte Amazon zweimal die Gebühr für Prime: 2014 auf 99 Dollar und 2018 auf 119 Dollar.)
Es waren immer noch magere Zeiten für Amazon, also erhielt Carr ein in seinen Augen beträchtliches Budget von etwa 30 Millionen Dollar, um den Service namens Prime Video aus der Taufe zu heben. Er konnte nicht ahnen, dass vier Jahre später Amazon-Manager darüber nachdenken sollten, für 240 Millionen Dollar die Lizenz für ein Programmpaket der 20 th Century Fox zu erwerben, zu dem supererfolgreiche Serien wie 24 zählten. Bei der Besprechung debattierten sie darüber, ob Amazon in seiner zwanzigjährigen Geschichte jemals so viel für irgendetwas bezahlt habe, eingeschlossen die neue Konzernzentrale, die gerade ein paar Blocks entfernt von South Lake Union im Denny-Triangle-Viertel von Seattle im Bau war.
Sie entschieden sich für das Geschäft und legten dann richtig los. Amazon erwarb die Streamingrechte für die Dramaserie Justified von Sony Pictures, für Downton Abbey von PBS, für Orphan Black von BBC America und für zahllose andere beliebte Serien. Netflix schloss einen umfassenden Vertrag mit Disney über seine Marvel- und Pixar-Filme sowie Klassiker des Animationsfilms und mit ABC über Serien wie Scandal und mit The CW für Gossip Girl . 2014 hatte Amazon 40.000 Titel in seinem Videokatalog; Netflix hatte 60.000. Reed Hastings und Netflix waren Amazon nach wie vor an jeder Ecke einen Schritt voraus. »Netflix hat unsere Strategie angeheizt«, sagte Carr. »Es ist mir nicht peinlich zuzugeben, dass wir von ihnen gelernt haben.«
Mittlerweile hatte Jeff Wilke die Aufsicht über das digitale Videogeschäft seinem mehr künstlerisch angehauchten Kollegen Jeff Blackburn aus dem S-Team übergeben, dem früheren Sportler, der nun mit seiner Intelligenz und seiner umgänglichen Art als Leiter der Abteilungen für Fusionen und Übernahmen (M&A) und Unternehmensentwicklung bei Amazon fungierte. Blackburn kontrollierte nicht nur die Ausgaben für die Content-Lizenzen, sondern auch das Ziel, die Amazon-Prime-Video-App auf so viele Set-Top-Boxen, Videospielkonsolen und Smart-TVs wie möglich zu bekommen. Ende 2015 begann sein Team die Verhandlungen mit dem Kabelgiganten Comcast, um den Dienst auf der neuen Xfinity-X1-Kabelbox vorzuinstallieren, die letztlich ihren Weg in Dutzende Millionen amerikanische Haushalte finden würde. Doch laut mehreren Managern, die an diesem lange ausgebrüteten Deal arbeiteten, wurde einem von Blackburns Untergebenen, einem launenhaften Manager namens Jim Freeman, angesichts des Looks von Prime Video auf dem Startbildschirm von Comcast so mulmig, dass er ausrief: »Netflix würde dieses Geschäft nie abschließen!«
Die Gespräche versandeten. Ein paar Wochen später schloss Comcast stattdessen das Geschäft mit Netflix ab, 99 obwohl Reed Hastings sich dort nicht viele Freunde gemacht hatte, als er Netflix’ 2014 vorgeschlagene Fusion mit Time Warner Cable wettbewerbswidrig 100 genannt hatte. Comcast machte schließlich in seinem gesamten Marketing Werbung für Netflix. Amazon musste den Schwanz einziehen, gelangte aber wenige Jahre später zu einer eigenen Vereinbarung mit der Kabelnetzfirma. 101
Solche Duelle mit Netflix um den Ankauf von Premium-Programmen und deren Vertrieb waren teuer, anstrengend und trugen letztlich wenig dazu bei, das Wettbewerbsgleichgewicht zu verändern. Beide Firmen hatten eine wertvolle Lektion gelernt, die eine Generation zuvor schon Kanäle wie HBO und Showtime hatten lernen müssen: Indem sie sich ein Wettrennen darum lieferten, Höchstpreise für die Lizenzen für verschiedene Filme und Sendungen zu bezahlen, hatten sie die Hollywood-Studios und andere Akteure der Unterhaltungsbranche reicher gemacht, sich jedoch selbst geldverschlingende Dienste aufgehalst, die nur schwer voneinander zu unterscheiden waren.
Wenn sie mit wirklich einzigartigen Videoangeboten Zuschauer anziehen wollten, so war es wesentlich sinnvoller, Top-Fernsehsendungen und Filme selbst zu produzieren.
Beide Unternehmen kamen bei ihren Ambitionen, Videostreamingdienste zu entwickeln, früh zu dieser Erkenntnis. Bei Amazon beauftragte Bill Carr mit Roy Price einen seiner Stellvertreter damit, eine Außenstelle in Los Angeles aufzubauen und Möglichkeiten für die Produktion eigenen Contents zu ergründen.
Price war in Beverly Hills aufgewachsen und stammte aus einer richtigen Hollywood-Dynastie. Roy Huggins, sein Großvater mütterlicherseits, war ein bekannter Film- und Fernsehautor gewesen. In den Fünfzigerjahren wurde er als Kommunist gebrandmarkt, kam auf die schwarze Liste und musste vor dem Ausschuss für Unamerikanische Umtriebe aussagen. Später schuf er erfolgreiche Serien wie Auf der Flucht und Detektiv Rockford – Anruf genügt . Price’ Vater Frank Price war ein Gigant der Traumfabrik: Er leitete in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern Columbia Pictures und brachte Klassiker wie Gandhi und Ghostbusters heraus, war später Präsident der Universal Studios und zeichnete verantwortlich für The Breakfast Club, Back to the Future und die Peinlichkeit Howard – Ein tierischer Held . Der jüngere Price wuchs umgeben von Prominenten auf – er machte mit Sidney Poitier Ferien auf den Bahamas und lernte von Lee Majors schwimmen, dem Star aus Der Sechs-Millionen-Dollar-Mann .
Price hatte bei Disney und McKinsey & Company gearbeitet, ehe er 2004 zu Amazon kam, um dort die digitale Videostrategie des Unternehmens aufzubauen. Jahrelang hatte er sich dafür eingesetzt, Serien und Filme zu entwickeln, um sich mit Amazons Videoangebot von anderen abzuheben. Er war, laut Firmenjargon, ein starker Verfechter des Führungsprinzips »Think Big« und imstande, seine Ideen überzeugend in sechsseitigen Exposés darzulegen. Bezos reizte der Gedanke auch, aber typischerweise wollte er den gesamten Hollywood-Entwicklungsprozess neu denken. Er war kein Freund der »Gatekeeper«, die allein aufgrund ihrer persönlichen Geschmacksurteile darüber entschieden, was die Leute lesen oder anschauen durften – was ohnehin nur zu einer vernachlässigbaren Erfolgsrate führte, wie man an den vielen gefloppten Sendungen mit schwachen Konzepten sah.
Bezos schlug einen völlig neuen Ansatz vor, den er »das wissenschaftliche Filmstudio« nannte. Jeder sollte ein Drehbuch einsenden können, nicht nur die Elite aus L. A. und New York; Kunden und unabhängige Juroren sollten dann diese und die beigelegten Storyboard-Illustrationen beurteilen. Aus ihrem Feedback würden schließlich objektive Daten gewonnen, mit deren Hilfe Amazon eine Entscheidung darüber fällen konnte, was man tatsächlich produzieren wollte. »Es war eine typische Jeff-Idee«, sagte Price später über den ursprünglichen Ansatz der Amazon Studios. »Statt einer Erfolgsquote von zehn Prozent hätten wir dann genug Daten, um die Quote auf vierzig Prozent anzuheben.«
2010 forderte Amazon alle und jeden auf, Drehbücher einzureichen, 102 und lobte für die besten davon Hunderttausende Dollar als Preisgelder aus. Natürlich funktionierte es nicht. Professionelle Autoren hielten sich fern, und alles in allem waren die Einreichungen nicht besonders gut. Amazon brauchte acht Jahre, um das System einzumotten (aus dem eine Kindersendung hervorging: Gortimer Gibbon – Mein Leben in der Normal Street, und ein weiterer Pilotfilm, Those Who Can’t, der von der Warner Media-Tochter truTV zu einer Serie ausgebaut wurde). Bezos sah stillschweigend ein, dass er eben doch Profis brauchte, um vielversprechende Konzepte herauszufiltern und zu entwickeln.
2012 begann Price regelmäßig von Seattle nach L. A. zu reisen und Experten für Contententwicklung zu engagieren, die sich um Entwicklung und Strategie für Komödien und Kindersendungen kümmern sollten. Damals versuchte Amazon immer noch, die kalifornische Umsatzsteuer zu vermeiden, daher wurde die Gruppe als unabhängige Tochter namens People’s Production Company gegründet und dazu vergattert, spezielle Visitenkarten und E-Mail-Adressen ohne Verweis auf Amazon zu verwenden. In Sherman Oaks teilte man sich über einem Fuddruckers-Restaurant Büroräume mit IMDb, der Amazon-Tochter, die eine beliebte Datenbank für Filme und Fernsehsendungen pflegt, bevor man später in einen etwas schickeren, aber nichtssagenden Bürokomplex in Santa Monica umzog, den sogenannten Water Garden.
In diesem Jahr justierten Price und Bezos ihre ursprünglichen Vorgaben neu. Die Manager der Amazon Studios setzten sich mit Agenten und Autoren zusammen, überarbeiteten Drehbücher und machten Möglichkeiten für Pilotfilme ausfindig. Doch dann ließen sie die Zuschauer abstimmen und so ihre Entscheidungen darüber beeinflussen, welche Filme zu vollständigen Serien entwickelt werden sollten. Im April 2013, zwei Monate nachdem Netflix gleich mit der Erstausstrahlung eines Films der Produktionsfirma Media Rights Capital einen Hit gelandet hatte – der Polit-Dramaserie House of Cards –, schickte Amazon seine erste sogenannte Pilotenstaffel ins Rennen.
Die Kunden konnten vierzehn Pilotfilme testen. Die Politkomödie Alpha House (die ungefähr in die gleiche Richtung ging wie HBOs spätere, witzigere Serie Veep – Die Vizepräsidentin ) und eine Internet-Comedy namens Betas (genau wie HBOs Silicon Valley ) zählten zu den Auserwählten. Doch als die Staffeln später im Jahr schließlich ausgestrahlt wurden, zogen sie zwar die Aufmerksamkeit der Medien auf sich, machten aber bei den Zuschauern nur wenig Furore. Die Autoren dieser Serien bekamen ein positives Feedback von Amazon, äußerten sich später jedoch enttäuscht über das Ausbleiben von Nielsen-Ratings für Online-Sendungen und das Fehlen jeglicher nennenswerten Werbeunterstützung.
Mit Stellvertretern, die für Dramen, Komödien und Kindersendungen zuständig waren, legte Price den Grundstein für eine einzigartige Sensibilität der Amazon Studios: Sie wollten qualitativ hochwertige Serien produzieren, die eher zu Serien umgewandelten Filmen ähnelten als eigenständigen Episoden. Indem man hochwertige Independent-Filme als Inspirationsquelle nutzte und die Tatsache berücksichtigte, dass die Kunden bereits sehr viele Fernsehoptionen hatten, machte man sich daran, Fernsehen zu erschaffen, das anders und anspruchsvoll war und die Auswahl erweiterte, die den Zuschauern zur Verfügung stand. Die Sendungen sollten Fenster zu unvertrauten Lebensweisen und Welten öffnen. Man wollte die Art von Sendungen schaffen, welche die großen Fernseh-Networks in ihrer Fixierung darauf, unterschiedliche Versionen von Alltagskost wie Navy CIS auszustoßen, niemals anfassen würden. Amazon »hatte den Nimbus eines Kleinanbieters«, sagte Price. »Wir mussten die Leute überraschen und uns auf die Qualität konzentrieren.«
Der Ansatz zahlte sich schnell aus. Zu den Pilotfolgen, die Prime-Mitglieder Anfang 2014 testen konnten, zählten Mozart in the Jungle über die Eskapaden einer fiktiven New York Symphony; Bosch über einen geplagten Ermittler der LAPD und Transparent , eine Serie, in deren Mittelpunkt eine Transgender-Matriarchin namens Maura Pfefferman stand. Im März holte Bezos das Team der Amazon Studios nach Seattle, um zu besprechen, welche Pilotfolgen man weiterproduzieren solle. Die Pilotfolge von Transparent hatte reihenweise überschäumende Kritiken bekommen, in denen sie für ihre gewagte Thematik und das offene Ende gelobt wurde, doch sie hatte nicht die höchste Zuschauerzahl von allen Neuvorstellungen erreicht. Trotzdem eröffnete Bezos das Meeting, indem er den Besprechungsraum betrat und erklärte: »Also, ich denke, wir werden Transparent weiterverfolgen.«
Genau das taten sie, und die Serie verlieh den Amazon Studios den Ruf, visionäre Kreative und historisch vernachlässigtes Material zu fördern. Im Januar 2015 gewann Transparent als erste Streaming-Serie einen Golden Globe 103 – sowohl in der Kategorie Beste Serie – Komödie/Musical als auch in der Kategorie Bester Serien-Hauptdarsteller für Jeffrey Tambor.
Falls Price sich der schönen Illusion hingegeben hatte, das öffentliche Gesicht dieses Erfolgs zu werden, so wurde diese rasch zerstört, denn Bezos wollte auch an der Preisverleihung teilnehmen. Er brachte MacKenzie mit und saß bei den Golden Globes an einem Tisch mit Price, seinem Comedychef Joe Lewis, dem Schöpfer der Serie Joey Soloway und den wichtigsten Darstellern.
Später besuchten sie von HBO und Netflix ausgerichtete After-Show-Partys. Begleitet von seiner Frau sonnte sich Bezos im Glanz der Bewunderung von ganz Hollywood. »Sie machte immer den Eindruck, als amüsiere sie sich gut«, sagte ein Mitarbeiter der Amazon Studios rückblickend über das Paar bei Hollywood-Events, »während er sich ganz offensichtlich blendend amüsierte.«
Wenige Wochen später erschien Bezos auf CBS This Morning mit Tambor und Soloway, um weiteren Beifall für den Sieg von Transparent entgegenzunehmen. Er erklärte, Amazon habe die Serie unterstützt, weil sie auf erstaunliche Weise eine Geschichte erzähle. »Wenn wir etwas machen, wollen wir kein Remake von irgendetwas produzieren«, sagte er. »Wir möchten eine bestimmte Perspektive beleuchten, eine Verbesserung erzielen, etwas, worauf die Kunden reagieren können. Transparent ist dafür ein perfektes Beispiel.«
Der Filmliebhaber Bezos begeisterte sich nun für die Idee, Original-Content zu erschaffen. Dies sollte sich – neben Alexa, den Amazon Go Stores, den Expansionen in Indien und Mexiko und den Amazon Web Services – zu einem weiteren wichtigen und langfristigen Standbein entwickeln. Zum Erstaunen der Leiter der Amazon Studios, die sich oft fragten, ob der Boss eines Hundert-Milliarden-Unternehmens nichts Besseres zu tun hatte, bat er sie oft, nach Seattle zu kommen, um darüber zu sprechen, welche Projekte grünes Licht bekommen sollten. »Das Beste an dieser Pilotfolge ist, dass sie nur eine halbe Stunde dauert«, motzte er Anfang 2015 bei einer Debatte darüber, ob man The New Yorker Presents weiterspinnen solle, eine Dokuserie des legendären gleichnamigen Magazins aus dem Verlagshaus Condé Nast.
Bezos stellte bohrende Fragen, beugte sich jedoch Price’ Urteil, selbst wenn er anderer Meinung war. »Sie können machen, was Sie wollen, aber ich an Ihrer Stelle würde eine Nacht darüber schlafen«, sagte er in Bezug auf die New-Yorker -Serie.
In der nächsten Woche nahmen sich Price und sein Dramachef Morgan Wandell das dystopische Drama The Man in the High Castle vor, das auf dem gleichnamigen Roman (dt. Buchtitel Das Orakel vom Berge ) von Philip K. Dick basierte, dazu noch ein paar andere Serien sowie das relativ kostengünstige Projekt The New Yorker Presents . Eine leitende Mitarbeiterin der Amazon Studios, die an der Besprechung teilnahm, sagte, sie habe sich damals im Stillen gefragt, ob Price damit einer direkten Anweisung zuwiderhandelte.
Damals arbeitete Price Vollzeit in L. A. und gewöhnte sich schnell an seinen neuen Hollywood-Lifestyle. Er hatte sich von seiner Frau getrennt und war in eine Wohnung in Downtown L. A. gezogen. Den Mitarbeitern der Amazon Studios entging seine Verwandlung nicht. Früher, in Seattle, hatte man ihn meist in Sakkos und hellen Chinos und gelegentlich mit einer Fliege gesehen. Jetzt in Los Angeles nahm er ab und begann, Schuhe von Valentino und eine Lederjacke zu tragen, ließ sich das Logo der wegweisenden, aus L. A. stammenden Punkband Black Flag auf die rechte Schulter tätowieren und kaufte sich einen auffälligen Dodge Challenger. »Er wirkte wie jemand, der voll in der Midlife-Crisis steckt«, sagte jemand aus dem Team.
Amazon hatte einen Lauf. Mozart in the Jungle bekam gute Kritiken und sollte die Amazon Studios zum ersten Fernseh-Network machen, das zwei Jahre nacheinander einen Golden Globe für die beste Komödie gewann. Die Strategie von Bezos und Price ging auf – also bekam Price die Befugnis, größere Wagnisse einzugehen und schneller zu agieren. Er hatte seinen Freund Conrad Riggs, einen früheren Partner des Survivor -Produzenten Mark Burnett, dafür engagiert, Reality-TV-Shows für Amazon zu entwickeln. Auf einer Reise nach London im Juni 2015 besuchte Riggs zusammen mit Jeremy Clarkson, dem früheren Moderator von Top Gear , einer Reality-TV-Show der BBC über Autos, der aus der Sendung gekickt worden war, weil er einen BBC-Produzenten verbal und körperlich attackiert hatte, ein Konzert von The Who. Riggs registrierte, dass Clarkson sogar ein noch größerer Star war als die Mitglieder der weltberühmten Rockband. Schließlich überbot Amazon Apple und Netflix, um ihn und seine drei Co-Moderatoren für drei Jahre und 250 Millionen Dollar 104 unter Vertrag zu nehmen und mit ihnen eine ähnliche Show namens The Grand Tour aufzuziehen. Es war einer der größten Deals in der ungeschriebenen Geschichte des Fernsehens. Riggs erinnerte sich, dass Bezos die Ausgabe per E-Mail binnen »etwa fünfzehn Sekunden« genehmigte.
Roy Price konnte offenbar nichts falsch machen. Im Monat darauf nahm er an der Comic-Con in San Diego teil, wo Amazon der alljährlichen Versammlung von Science-Fiction- und Fantasy-Begeisterten die ersten beiden Episoden von The Man in the High Castle präsentierte. Für die Amazon Studios bedeutete die Serie die Möglichkeit, bei dem wachsenden Publikum für teure Genreproduktionen zu punkten, und tatsächlich wurde sie bei der ersten Vorführung auf der Comic-Con von den Fans begeistert aufgenommen. Die Studiomanager waren überglücklich.
An diesem Abend feierte Price zusammen mit Kollegen und den Schöpfern der Serie bei einem Abendessen und unzähligen Champagnerrunden. Danach teilte er sich ein Uber-Taxi mit seinem Amazon-Kollegen Michael Paull und einer Frau, die er an diesem Abend erst kennengelernt hatte: Isa Hackett 105 , Executive Producer der Serie und Tochter des legendären Science-Fiction-Autors Philip K. Dick.
Darüber, was in diesem Taxi und auf der Party danach geschah, gibt es mehrere Versionen, die in zentralen Punkten voneinander abweichen. Allerdings sind sich alle darüber einig, dass Price, der zu lockeren und gelegentlich auch grenzüberschreitenden Scherzen neigte, ein paar Drinks zu viel intus hatte und mehrere anzügliche Witze und sexualisierte Bemerkungen an Hackett richtete, von der er wusste, dass sie lesbisch und verheiratet war. Hackett fand seine Bemerkungen ziemlich vulgär und unangebracht.
Nachdem sie aus dem Taxi ausgestiegen waren, verlangte Price, dass Hackett mit ihm für ein Selfie posierte, indem er ihr erklärte, es wäre gute Werbung für die Serie, wenn die Leute glaubten, sie hätten eine Affäre. Hackett war entsetzt. Drinnen auf der Party begegnete Price ihr abermals und hörte anscheinend nicht auf, ihr drastische Anzüglichkeiten an den Kopf zu werfen.
Der begriffsstutzige Price ahnte nicht, dass er Hackett beleidigt hatte, und versuchte am nächsten Tag, sie auf Facebook als Freundin hinzuzufügen. Doch sie war außer sich. Sie meldete den Vorfall einem leitenden Mitarbeiter von Amazon Studios, der die Sache an Amazons Rechtsabteilung weiterleitete. Amazon beriet sich anschließend mit einer Firma aus L. A., die auf Fehlverhalten am Arbeitsplatz spezialisiert war, um der Sache auf den Grund zu gehen. Eine der erfahrensten Personen aus deren Ermittlungsteam begann, Amazons weibliche Angestellte in Hollywood über ihren Boss zu befragen. Zu Wort kam auch Hackett, die erklärte, sie hoffe, der bedauerliche Vorfall werde sich als Katalysator für gravierende Umwälzungen in dem Studio erweisen.
Das Bild, das sich nach und nach herauskristallisierte, war wenig schmeichelhaft. Mehrere von Price’ Mitarbeiterinnen äußerten sich negativ und sagten, dass er des Öfteren am Arbeitsplatz unangemessene Witze mache. Sie schilderten auch einige seiner abstoßenden Gewohnheiten – wie zum Beispiel bei Besprechungen mit untergeschlagenen Füßen im Schneidersitz dazusitzen, die Augen zu schließen und vor und zurück zu schaukeln. Außerdem kritisierten sie ihn als schlechten Manager, der den größten Teil seiner Aufgaben delegierte und offenbar lieber mit Promis essen ging, um sie dann auf seinem Instagram-Kanal zu präsentieren.
Amazon bot sich nun die Gelegenheit, Price ohne Aufsehen aus seiner Führungsposition zu entfernen und zukünftiges Unheil zu vermeiden. Doch das geschah nicht. Er hatte dazu beigetragen, das Studio zu entwickeln und aufzubauen, das mittlerweile vielversprechend angelaufen war. Bezos’ ausgeprägte Schwäche für Macher schien von anderen bei Amazon durchaus geteilt zu werden, unter anderem von Jeff Blackburn. Außerdem zeigte sich Price reuig und wollte sich bei Hackett entschuldigen, doch Amazons Anwälte baten ihn, sie nicht mehr zu kontaktieren. Sie wiesen ihn an, auf Firmenpartys nichts mehr zu trinken, Fortbildungen über Verhalten am Arbeitsplatz zu besuchen und Methoden zu erlernen, sich als Manager weiterzuentwickeln. Wie das Unternehmen später in einer Presseerklärung verlauten ließ, habe man »auf den Vorfall in angemessener Weise reagiert, unter anderem durch das Hinzuziehen einer externen Ermittlerin«.
Als eine weibliche Angestellte der Amazon Studios später einen Freund aus der Rechtsabteilung fragte, was denn aus den Ermittlungen geworden sei und warum auf diese keine Disziplinarmaßnahmen gefolgt seien, antwortete er ihr, dass die Firma aus den Vorwürfen folgenden Schluss gezogen habe: »Das ist nicht der Roy, den wir kennen.«
Roy Price konnte seinen Job behalten, stand nun aber einer noch verhängnisvolleren Bedrohung gegenüber. Jeff Bezos hatte sich voll und ganz auf die Chancen und Herausforderungen beim Aufbau einer erfolgreichen Film- und Fernsehsparte eingestellt. Und wenn der Amazon-Boss sich auf etwas fixierte, dann wollte er meist alles größer, gewagter und ehrgeiziger haben. Die Firma gab 2016 etwa 3,2 Milliarden Dollar für Prime Video aus 106 und 2017 knapp 4,5 Milliarden. 107 Selbst sein sonst so langmütiger Vorstand beäugte die wachsenden Ausgaben argwöhnisch und stellte pointierte Fragen dazu. »Jeff war uns gedanklich voraus, was das Verhältnis zwischen Content und Prime betraf«, formulierte es ein früheres Vorstandsmitglied, der Risikokapitalgeber Bing Gordon.
Bezos führte ins Feld, dass das Mediengeschäft die Attraktivität und »Stickiness« (die Konsumentenbindung einer Website) von Amazon Prime erhöhe, was die Leute wiederum dazu motiviere, mehr Geld auf Amazon auszugeben. »Wenn wir einen Golden Globe gewinnen, verkaufen wir schlagartig auch mehr Schuhe«, 108 sagte er auf der Bühne bei einer Tech-Konferenz im Jahr 2016. Nicht wenige seiner Angestellten in Hollywood zogen dies in Zweifel. Sie verstanden sich nicht als Schuhverkäufer, obwohl alle dankbar dafür waren, dass sie einen profitablen Internetriesen hinter sich hatten, der die von ihnen eingegangenen kreativen Risiken deckte. Sie trackten jede Sendung und analysierten, wie viele Leute zusahen und daraufhin ihre kostenlosen Prime-Testzeiträume in ein festes Abonnement umwandelten oder ihre bereits laufende Mitgliedschaft verlängerten. Doch es gab nur wenig Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Zuschauer- und Kaufverhalten – erst recht keine, die die enormen Ausgaben für das Videostreaming gerechtfertigt hätten. Zudem wurde jegliche Korrelation durch die Tatsache vernebelt, dass Prime ganz von allein rapide wuchs.
Die Wahrheit lag auf der Hand: Bezos wollte einfach, dass Amazon Fernsehsendungen und -serien produzierte. Er hatte begriffen, dass die jahrzehntealte Art, wie Fernsehsendungen und Filme produziert und vertrieben wurden, sich wandelte, und wollte Amazon dafür in eine zentrale Position bringen. Wie in der ersten Zeit von Alexa, Amazon Go und Amazon India mochte die wirtschaftliche Rechtfertigung dünn sein, doch Gelegenheiten zum Geldverdienen würden sich mit jedem neuen Tag ergeben.
Damals bereitete sich das Unternehmen gerade darauf vor, Prime Video in 242 Ländern einzuführen und separate Gebühren dafür zu berechnen. Unter dem Codenamen Magellan sollte das Projekt Amazons Eintrittskarte in viele Weltregionen sein, wo das Unternehmen noch nicht mit einem Online-Vertrieb vertreten war. Video war das Einstiegsprodukt für neue Märkte, wie es einst Bücher gewesen waren. Doch die dritte Staffel von Transparent , in der es darum geht, dass die Hauptfigur über eine geschlechtsangleichende Operation nachdenkt, war nicht die Begrüßung, die Bezos für Länder wie Kuwait, Nepal und Belarus vorschwebte.
Und so waren die Weichen für eine Reihe von Besprechungen in angespannter Atmosphäre zwischen Bezos und den Amazon Studios gestellt, die in der zweiten Hälfte des Jahres 2016 begannen und sich über das gesamte Jahr 2017 hinzogen. Allmählich mussten sie unbedingt einen großen Hit landen, vergleichbar mit HBOs Blockbuster Game of Thrones . Doch Price stieß nach wie vor Mittelmäßiges aus wie One Mississippi, Good Girls Revolt und Mad Dogs . Er hatte zwar den Ankauf von Manchester by the Sea verantwortet, der Preise und die denkwürdige Party in Bezos’ Haus nach sich gezogen hatte, Amazon aber auch mit den Vorwürfen wegen sexueller Belästigung gegen Casey Affleck in Verbindung gebracht hatte. Price bezahlte außerdem erstaunliche 80 Millionen Dollar für Woody Allens erste Fernsehserie mit dem Titel Crisis in Six Scenes , die wenig Anklang fand. (Price war ein großer Woody-Allen-Fan und ein guter Freund von Allens langjährigem Agenten John Burnham; Kollegen sagten, die Serie sei Price’ »Traumprojekt« gewesen.) Price trat also nicht nur in Geschäftsbeziehung zu einem Filmemacher, dessen Werk bald von Kontroversen belastet sein sollte, sondern schuf zur gleichen Zeit, als Bezos abrupt die Richtung wechseln und Prime Video zu einem überall gefragten globalen Angebot machen wollte, nach wie vor prestigeträchtigen amerikanischen Content, der sich für Preise empfahl.
Price verstand Bezos’ Anweisung, wandte jedoch ein, dass es Jahre dauere, solche Projekte zu entwickeln. Im Januar 2017 engagierte er eine in Israel geborene Fernsehmanagerin namens Sharon Tal Yguado, die am weltweiten Vertrieb der beliebten Zombie-Serie The Walking Dead beteiligt gewesen war. Die Neueinstellung, auf die Price die Kollegen nicht richtig vorbereitet hatte, ehe sie offiziell verkündet wurde, sorgte für weiteres Reibungspotenzial innerhalb der Amazon Studios. Trotzdem fand Yguado einen Draht zu Bezos, mit dem sie die Liebe für literarische SciFi-Sagas wie Die Kultur und Ringwelt teilte. Etwas später im selben Jahr sollte Tal Yguado Amazon dazu verhelfen, für, wie es hieß, 250 Millionen Dollar die Rechte an noch unentwickeltem Material aus den Herr-der-Ringe -Büchern von J. R. R. Tolkien zu erwerben.
Bezos gingen die Veränderungen jedoch nicht schnell genug. Bei Besprechungen in aggressiver Atmosphäre forderte er ungeduldig sein Game of Thrones ein. Price versuchte, ihn zur Vernunft zu bringen. Es würde keinen zweiten Instant-Hit wie diesen geben – der nächste wäre eine Produktion, die so frisch und gewagt wirkte wie einst der Blockbuster von HBO. Er bat um mehr Zeit und gab zu bedenken, dass vielversprechende Kandidaten in der Pipeline seien, wie etwa eine Serie, die auf der von Tom Clancy erschaffenen Figur Jack Ryan basierte.
Bezos stellte Price auch darüber zur Rede, ob er Titel und Konzepte in ausreichendem Umfang mit einer Online-Fokusgruppe aus Vorabzuschauern testete, die Amazon aufgebaut hatte, dem sogenannten Preview-Tool. Unter anderem hatte das Tool dazu beigetragen, einer Serie mit Billy Bob Thornton, die ursprünglich Trial of the Century geheißen hatte, einen bestechenden neuen Titel zu verleihen, und zwar Goliath . Doch Price behauptete, das Tool sei unzuverlässig – man könne nicht dieselben Crowdsourcing-Prinzipien dafür verwenden, die Vorzüge von Serienideen zu messen, wie dafür, den Nutzwert von Küchengeräten aus den Regalen eines unerschöpflichen virtuellen Ladens zu bestimmen. Die Entwicklungsexperten mussten oft schnell sein, um umworbene Deals mit gefragten Fernsehproduzenten und Filmemachern abzuschließen; manchmal mussten sie die Daten vernachlässigen und einfach auf ihr Bauchgefühl setzen. Price fand es überdies suspekt, kreative Konzepte mithilfe von Crowdsourcing zu bewerten: Schließlich waren auch Serien wie Seinfeld und Breaking Bad zuerst unbeliebt gewesen. Vertraute man Geschichtenerzählern oder vertraute man Daten; dem Einfallsreichtum von Künstlern oder der Weisheit der vielen?
Bei der Washington Post kämpfte Bezos mit den gleichen Fragen: Dort hatte er auf zusätzliche Methoden zum Messen der Beliebtheit von Artikeln gedrungen, sich aber letztlich dem Urteilsvermögen seiner Experten aus der Redaktion gebeugt. Bei Amazon, seinem eigenen Spielfeld für den rücksichtslosen Umbau ganzer Branchen mithilfe von Informatik, Experimenten und Unmengen von Daten, war er ungeduldiger. Er wollte einen wissenschaftlichen Ansatz für kreative Entscheidungen, und er wollte schnell Ergebnisse sehen. Und in dieser Hinsicht lagen Bezos und Roy Price immer weniger auf einer Linie.
Anfang 2017 war Amazon in sein neues 37-stöckiges Bürohochhaus mit den getönten Fensterscheiben eingezogen, das mit Day One den gleichen Namen bekommen hatte wie die frühere Konzernzentrale 600 Meter weiter weg. Bezos’ alte Vorstellungen von Firmenanonymität waren für ein Unternehmen von Amazons Sichtbarkeit mittlerweile obsolet. Das Gebäude wurde vom ersten Amazon-Go-Supermarkt flankiert und trug ein riesiges gelbes Leuchtschild mit der Programmierphrase »Hello World« auf der Seite, die dem Park im Osten zugewandt war.
Bezos’ neues Büro und die Flucht von Besprechungsräumen lagen im fünften Stock – genau wie im alten Gebäude –, damit er die Treppe nehmen konnte und so zusätzlich Bewegung bekam. In jenem März reisten die Manager der Amazon Studios nach Seattle, um sich dort mit ihm zu treffen, während auf der anderen Straßenseite eilig und unter enormer Lärmentwicklung ein weiterer Wolkenkratzer sowie die drei miteinander verbundenen Amazon Spheres errichtet wurden – Treffpunkte für die Mitarbeiter und Orte, die nach ihrer Fertigstellung auch als Gewächshäuser fungieren sollten.
In einem der Besprechungsräume monierte der frustrierte Firmenchef den trägen Erzählfluss von The Man in the High Castle . »Die Umsetzung ist schrecklich«, klagte er. »Warum habt ihr das nicht gestoppt? Warum habt ihr das nicht neu gedreht?«
Bezos kritisierte Price weiter. »Sie und ich liegen nicht auf einer Linie«, schimpfte er. »Es muss einen Weg geben, um diese Konzepte zu testen. Sie wollen mir erzählen, dass wir Entscheidungen über hundert Millionen Dollar fällen und dann keine Zeit haben, um zu evaluieren, ob es gute Entscheidungen sind? Es muss einen Weg geben, wie wir herausfinden können, was funktioniert und was nicht, damit wir nicht all diese Entscheidungen in einem Vakuum treffen müssen.«
Nach weiteren Auseinandersetzungen brachte Bezos die Sache auf den Punkt: »Hören Sie mal, ich weiß, was man braucht, um eine tolle Serie zu produzieren. Es kann nicht so schwer sein. All diese legendären Serien haben grundlegende Gemeinsamkeiten.« Und dann legte er los: Indem er seine charakteristische Fähigkeit demonstrierte, zigmal am Tag zwischen einzelnen Disziplinen hin- und herzuwechseln und komplexe Angelegenheiten auf ihre Essenz herunterzubrechen, begann er aus dem Stegreif, die Zutaten für episches Erzählen herunterzurattern:
Price half dabei, die Liste weiter auszubauen, und schrieb brav alles mit. Danach mussten die Manager der Amazon Studios Bezos regelmäßige Updates über die in der Entwicklung befindlichen Projekte schicken; dazu zählten Arbeitsblätter, in denen beschrieben wurde, inwiefern jedes der genannten erzählerischen Elemente in jeder Produktion enthalten war, und wenn ein Element fehlte, mussten sie erklären, warum. Doch Price schärfte seinen Kollegen auch ein, die Checkliste vor der Außenwelt geheim zu halten. Amazon sollte erfahrenen Autoren nicht die Zutaten zu einer guten Geschichte diktieren. Gute Serien durchbrachen solche Regeln, sie unterwarfen sich ihnen nicht.
Price’ riskante Entscheidungen schienen sich zu häufen. Er autorisierte eine Dokuserie über Novak Đoković, die Nummer eins der Weltrangliste der Männer im Tennis, für die Hunderte von Stunden Filmmaterial aufgezeichnet wurden, bis sich der serbische Star verletzte und aus dem Projekt zurückzog. 109 Dann traf er eine Vereinbarung mit dem dänischen Regisseur Nicolas Winding Refn über die gewaltbetonte und schwerfällige Krimiserie Too Old to Die Young , über Matthew Weiners weitschweifige Anthologie-Serie The Romanoffs und ein nie mit einem Titel versehenes Werk von Regisseur David O. Russell, in dem Robert De Niro und Julianne Moore mitspielen sollten und das von einer Familie handelte, die im Norden des Bundesstaats New York ein Weingut führt. Die ersten beiden Serien wurden nach der ersten Staffel eingestellt; die Letztere, produziert von der Weinstein Company, platzte noch vor Produktionsstart infolge der explosiven Enthüllungen über das jahrelange groteske sexuelle Fehlverhalten des Produzenten Harvey Weinstein.
Einigen früheren Mitarbeitern zufolge unterhielt Weinstein eine freundschaftliche Beziehung zu Bezos, Jeff Blackburn und Roy Price und reiste regelmäßig nach Seattle, um Amazon in seiner schwierigen Frühphase in Hollywood beizustehen. Später war keiner von ihnen mehr besonders erpicht darauf, über diese Beziehung zu sprechen. Angestellte von Prime Video sagten jedoch, dass der berüchtigte Produzent irgendwann einmal mit Amazon zusammengearbeitet habe, um einen Service namens Prime Movies zu entwickeln, bei dem Prime-Mitglieder eine gewisse Anzahl von Gratis-Tickets bekommen hätten, mit denen sie bestimmte Filme im Kino hätten anschauen können. Das Programm, ein Vorläufer des unglücklichen Start-ups MoviePass, kam nie über die Planungsphase hinaus.
Price’ Abmachungen mit Woody Allen und Harvey Weinstein rückten sein Urteilsvermögen später in ein schlechtes Licht. Auch legte er weiteres fragwürdiges Verhalten an den Tag. 2017 verlobte er sich mit der Schauspielerin und Autorin Lila Feinberg und versuchte, seine Angestellten zu überreden, ihre Idee für eine Fernsehserie mit dem Titel 12 Parties anzukaufen. Kollegen wiesen ihn darauf hin, dass hier ein Interessenkonflikt vorlag, und so sicherte sich stattdessen die Weinstein Company eine Option auf den Stoff. Sie beschwerten sich außerdem darüber, dass Price sein eigenes Drehbuch namens Shanghai Snow entwickelte, das von stereotypisierten ethnischen Zuschreibungen sowie einem Übermaß an Sex und Gewalt ohne jede thematische Relevanz strotzte und bei niemandem, der es gelesen hatte, gut ankam.
Viele weibliche Angestellte der Amazon Studios waren 2017 weiterhin unglücklich mit ihrem Boss oder ihrem Arbeitsumfeld. Eine beschrieb einen Besprechungsraum im Büro von Amazon Offices, an dessen Wänden zahlreiche Porträts von Jeffrey Tambor, Woody Allen und Kevin Spacey (dem Star des Amazon-Films Elvis & Nixon ) hingen. Alle drei sollten durch die sich gerade formierende Bewegung gegen sexuelle Belästigung ins Straucheln kommen. Bekannt unter dem Hashtag #MeToo sollte die Bewegung auch Roy Price zu Fall bringen und Amazon in einen Skandal verwickeln, den dessen Management bereits überwunden glaubte.
Im Oktober 2017 wurden ungefähr einhundert stilprägende Persönlichkeiten, Vordenker, Autoren, Musiker, Schauspieler und Produzenten mitsamt ihren Familien am Van Nuys Airport in L. A. abgeholt und mit einer Flotte von Privatflugzeugen nach Santa Barbara geflogen. Von dort aus chauffierte man sie in einem Konvoi aus schwarzen Limousinen ins nahe gelegene Four Seasons Resort. Das Fünf-Sterne-Hotel war an diesem Wochenende für die Öffentlichkeit geschlossen, genau wie der Coral Casino Beach & Cabana Club auf der anderen Straßenseite. Betreuerinnen erwarteten jede Familie, jeweils eine pro Kind. In den Hotelzimmern warteten Geschenke im Wert von Tausenden Dollars auf die Gäste, einschließlich Luxusreisegepäck, mit dem sie alles nach Hause transportieren konnten.
Dies war Campfire, Amazons private Klausurtagung für Literaten und glamouröse Promis. Die Firma hatte das alljährliche Event erstmals 2010 als Wochenendsalon für Autoren und ihre Familien in Santa Fe, New Mexico, ausgerichtet. 2016, als das Event für den ursprünglichen Veranstaltungsort zu groß wurde, verlagerte Amazon es nach Santa Barbara. Bezos bezeichnete es gern als den »Höhepunkt meines Jahres« und schien es zu genießen, wenn es anderen ebenso gefiel. Der Umzug nach Südkalifornien fiel passenderweise mit Amazons Ambitionen zusammen, sich von der Bücherbranche in die große Welt des Entertainments auszudehnen.
Das Wochenende, für das Amazon ganz alleine aufkam, bestand aus Vorträgen, üppigen Mahlzeiten, vertraulichen Gesprächen und Wanderungen. Bezos brachte einige der interessantesten Menschen der Welt zusammen und erfreute sich an ihrer Gesellschaft. Bei fast jedem Vortrag saß er in der ersten Reihe, die Arme um die Schultern seiner Frau und seiner vier Kinder gelegt. Meist stand er im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, und sein Lachen übertönte das aller anderen. Die Gäste mussten Vertraulichkeitsvereinbarungen unterschreiben und durften unter keinen Umständen jemals mit der Presse über Campfire sprechen.
Auf der Gästeliste standen in diesem Jahr Oprah Winfrey, Shonda Rhimes, Bette Midler, Brian Grazer und Julianne Moore sowie die Indie-Schauspielerin und Musikerin Carrie Brownstein, der Schriftsteller Michael Cunningham, der Chefredakteur der Washington Post Marty Baron und der Musiker Jeff Tweedy. Benjamin Berell Ferencz, der letzte noch lebende Chefankläger bei den Nürnberger Prozessen, hielt einen Vortrag. Ebenfalls zu den Festlichkeiten eingeladen waren mehrere Führungskräfte der Amazon Studios, darunter Price, der seine Verlobte Lila Feinberg mitbrachte.
Als Campfire seinen Anfang nahm, war Price’ Position in der Firma bereits ins Wanken geraten. Im Vormonat hatten Hulu und HBO mehrere Primetime-Emmys abgeräumt, während Amazon leer ausgegangen war. Das Wall Street Journal registrierte dieses enttäuschende Ergebnis in einem kritischen Beitrag, demzufolge Amazon Studios Hits wie The Handmaid’s Tale – Der Report der Magd und Big Little Lies verschmäht hätten. Der Artikel zitierte David E. Kelley, den Schöpfer von Lies und Goliath , der das ganze Unterfangen als »eine Art Rohrkrepierer« 110 bezeichnete und in Bezug auf Amazon meinte: »Sie sind komplett überfordert.« 111
Doch das war das geringste von Price’ Problemen. In den vergangenen Monaten war die rührige Journalistin Kim Masters aus L. A. der Geschichte über Price’ unangebrachte Bemerkungen gegenüber Isa Hackett nach der Comic-Con von 2015 sowie Amazons darauf folgenden internen Ermittlungen nachgegangen. Zahlreiche Medien, darunter die New York Times, BuzzFeed und der Hollywood Reporter , die vor anderen Berichten in Verbindung mit #MeToo nicht zurückgeschreckt waren, verzichteten auf die Story. Price hatte persönlich einige derselben Anwälte engagiert, die Harvey Weinstein vertreten hatten. Doch im August druckte die Online-Nachrichtensite The Information eine Kurzversion von Masters’ Artikel. Hackett lehnte jeden Kommentar ab und bezeichnete ihre Begegnung mit Price lediglich als »belastenden Vorfall«.
Als das Campfire-Wochenende begann, nahm die #MeToo -Bewegung Fahrt auf. Ronan Farrow hatte gerade im New Yorker über seine vernichtenden Ermittlungsergebnisse im Fall Harvey Weinstein berichtet. (Weinstein hatte an früheren Campfire-Wochenenden teilgenommen und Vorträge gehalten, war jedoch jetzt Persona non grata.) Am Nachmittag vor dem ersten Tag twitterte die Schauspielerin Rose McGowan, ein Opfer Weinsteins, an die Adresse @JeffBezos, dass sie Roy Price von Weinsteins Vergehen berichtet und die Amazon Studios gedrängt habe, »Vergewaltiger, mutmaßliche Pädophile und sexuelle Belästiger nicht weiter zu finanzieren«. Price hatte ihr empfohlen, die Straftat bei der Polizei anzuzeigen. Dennoch hatte Amazon viele Geschäfte mit der Weinstein Company und etlichen anderen Hollywoodgrößen abgewickelt, denen sexuelle Belästigung und andere gesetzwidrige Verhaltensweisen vorgeworfen wurden. Das war innerhalb der angespannten gesellschaftlichen Atmosphäre eine unbestreitbare Tatsache – und gerade zum Auftakt von Amazons großem Wochenende eine besonders peinliche.
Schließlich änderte der Hollywood Reporter , wo Masters feste freie Mitarbeiterin war, seinen Kurs und veröffentlichte ihren ganzen Text. 112 Diesmal hatte sich Isa Hackett geäußert und das »schockierende und surreale« Erlebnis sowie die unangebrachten Bemerkungen geschildert, die Price ihr vor mehr als zwei Jahren nach der Comic-Con in jenem Uber-Taxi an den Kopf geworfen hatte. Die Manager der Amazon Studios mussten bereits einen Tag vor dem offiziellen Beginn des Events bei Campfire sein, und so befand sich Price in seiner Hotelsuite, als die Story publik wurde. Seine Verlobte Lila Feinberg war mit anderen Leuten von Amazon Studios unten und brach in Tränen aus, als sie es auf ihrem Smartphone las.
Es war ein extrem peinlicher Augenblick. Price und Feinberg wurden aufgefordert, unverzüglich nach L. A. zurückzukehren. »Es war entsetzlich aufwühlend und demütigend. Logisch, oder?«, sagte Price später. Andere Manager der Amazon Studios nahmen an einem mit höchster Dringlichkeit anberaumten Konferenzgespräch mit Jeff Blackburn teil, der sie anwies, vor Ort zu bleiben.
Hinter den Kulissen rang Amazon abermals um die richtige Strategie. Blackburn beurlaubte Price mit sofortiger Wirkung, während er seine Loyalität gegenüber dem Mann neu bewertete, der Amazons Vorstoß in die Schaffung eigenen Contents initiiert und ein Team geleitet hatte, das eine Reihe prestigeträchtiger Preise gewonnen hatte. Roy Price hatte Jeff Bezos in Hollywood den Weg bereitet. Führungsfiguren »haben recht, ganz oft«, wie es in den geheiligten Führungsprinzipien hieß.
Das hatte Bezos genügt – und dann auf einmal nicht mehr. Es gab immer noch kein Game of Thrones . Price hatte überdies bei einem großen Teil seines Teams das Vertrauen eingebüßt, und seine gesellschaftlichen Fehltritte und gelegentlichen Anzüglichkeiten waren abstoßend und im Fall Hackett verstörend. Amazons Manager hatten von seinem Verhalten gewusst, waren aber davon ausgegangen, es hätte sich jemand darum gekümmert. Konnten sie mitten in einer um sich greifenden kulturellen Abrechnung wirklich einen in Bedrängnis geratenen Manager unterstützen? Am Dienstag erklärte Price sich bereit, seinen Posten zu räumen.
Mitten in dem ganzen Tumult rief Blackburn bei Isa Hackett an, um zu versuchen, eine Einigung mit ihr zu erzielen. Inzwischen lag klar auf der Hand, dass es das Amazon-Management mit seinem überwiegend männlichen S-Team versäumt hatte, ihre Vorwürfe ernst genug zu nehmen. Infolge der aufgestauten Belastung nach dem Versuch, ein traumatisches Erlebnis mit Amazons Ermittlern zu regeln und sich dann, nach dessen Scheitern, offen in den Medien äußern zu müssen, war Hackett von Emotionen überwältigt. Sie weinte am Telefon. »Ich habe versucht, es euch zu sagen. Ihr hattet monatelang Gelegenheit, etwas dagegen zu unternehmen! Ihr habt mich in diese Lage gebracht, was furchtbar schmerzlich für mich und meine Familie war!« Blackburn hörte ihr zu und und stimmte ihrer flehentlichen Bitte zu, dafür Sorge zu tragen, dass Amazon seine vielfältigen Ressourcen dazu einsetzen würde, gegen den umfassenden Sexismus in Hollywood und in der amerikanischen Geschäftswelt vorzugehen.
Ein paar Tage später befand sich Blackburn in Santa Monica und sprach mit diversen Gruppen von Mitarbeitern der Amazon Studios. Manche wollten wissen, warum Price nicht gleich 2015 gefeuert worden sei; andere fragten sich, ob Amazon Price hinauswarf, um von den Verbindungen des Unternehmens zu anderen #MeToo -Gestalten abzulenken wie Harvey Weinstein. Die wenigen, die Price in Schutz nahmen, glaubten, man habe ihn zum Sündenbock gemacht, und gaben zu bedenken, dass Amazon unter seiner Führung mehr weibliche Kreative unterstützt habe als jedes andere Studio. Einigen Leuten zufolge, die bei dem Meeting zugegen waren, räumte Blackburn ein, dass man sich früher um die Situation hätte kümmern sollen, und entschuldigte das Versäumnis mit neuen Erkenntnissen. Seine Erklärung klang zumindest in den Ohren einiger Mitarbeiter hohl. Ende der Woche versuchte Blackburn einen Schlussstrich unter die ganze leidige Geschichte zu ziehen. »Die Amazon Studios waren in letzter Zeit aus den falschen Gründen in der Presse«, schrieb er in einer internen E-Mail an die Mitarbeiter des Studios. »Eigentlich müssten wir mit unserem fantastischen Programm für unsere Kunden und den für nächstes Jahr geplanten neuen Shows Furore machen.«
Price versuchte später, sich öffentlich zu entschuldigen und seinen Namen vom Bannstrahl Hollywoods zu befreien, doch mit wenig Erfolg. »Ich entschuldige mich aufrichtig für all die Unannehmlichkeiten, die ich 2015 durch meine verfehlten Witze gegenüber Isa Dick Hackett verursacht habe«, schrieb er mir in einer E-Mail. »Ich wünschte, Amazon hätte mir erlaubt, mich gleich damals bei ihr zu entschuldigen, wie ich es unbedingt wollte, aber nicht durfte…. Auf jeden Fall hatte ich wirklich nichts anderes im Sinn, als uns alle bei Laune zu halten, während wir mit dem Taxi die paar Blocks von der einen Party zur nächsten fuhren.«
Price’ Verlobte verließ ihn nach dem Skandal postwendend, wenige Wochen vor ihrer geplanten Hochzeit. Price wurde aus der Entertainmentbranche ausgeschlossen und in die Kategorie von Sexualstraftätern wie Weinstein, Les Moonves und Matt Lauer einsortiert. Eingedenk dessen, was sein Großvater eine Generation zuvor während der berüchtigten Hexenjagd auf kommunistische Sympathisanten durchgemacht hatte, zog Price nun bittere historische Parallelen.
Er erwartete nicht, etwas von Bezos zu hören, und so war es auch. Man befand sich hier schließlich bei Amazon, wo die Aufgabe der Mitarbeiter darin bestand, Ergebnisse zu erzielen, nicht persönliche Bindungen zu knüpfen. Nachdem Price geschasst worden war, setzte Amazon seinen Stellvertreter Albert Cheng, den Chief Operating Officer der Amazon Studios, für einen Übergangszeitraum an seine Stelle, der sofort etliche Manager der ersten Stunde aus dem Weg zu räumen begann, darunter auch Joe Lewis, der an der Entwicklung so bahnbrechender Serien wie Transparent und The Marvelous Mrs. Maisel beteiligt gewesen war. (Lewis erhielt einen über zwei Jahre laufenden Produktionsvertrag und sollte Fleabag produzieren, was Amazons wachsende Sammlung von Preisen noch erweiterte.) Kurz darauf engagierte Amazon die NBC-Managerin Jennifer Salke, die die Position dauerhaft übernehmen sollte, und kündigte das Vorhaben an, endlich das nichtssagende Bürogelände in Santa Monica zu verlassen und in einen historischen Filmkomplex in Culver City zu ziehen – die Villa aus Vom Winde verweht .
So sahen die Amazon Studios sich denn unter neuer Leitung. Ironischerweise sollten sich viele der Serien, die die skandalgeplagte alte Garde noch in die Produktion gegeben hatte, wie The Boys und Tom Clancys Jack Ryan , als weltweite Hits erweisen. Bezos gab weiterhin Unsummen für Videostreaming aus. Prime Video verschlang fünf Milliarden Dollar im Jahr 2018 und sieben Milliarden im Jahr darauf. Die Debatte über die tatsächliche Rendite aus dieser Investition riss nicht ab, obwohl die Einwände von Amazons Vorstand und den Kapitalgebern nicht ganz so laut waren. Während Rivalen wie Walmart und Target mit ihrem Service zu Amazon aufschlossen, eine Lieferung innerhalb von zwei Tagen zu garantieren, wurden kostenlose Medien ein noch wichtigerer Teil von Primes Angebotspaket. Amazons eigene Serien und Filme trugen ebenfalls dazu bei, die Position des Unternehmens hinter Netflix und neben Disney, Apple, Paramount, HBO und anderen Firmen im Wettlauf darum zu festigen, die Zukunft des Home Entertainment zu definieren.
Prime Video war ein weiteres der großen Wagnisse, die Jeff Bezos im Lauf eines fruchtbaren Jahrzehnts einging. Indem er seinen Mitarbeitern wieder und wieder die Richtung wies, ihre Leistungen streng überwachte und seinen eigenen zunehmenden Ruhm nutzte, um ihre Sichtbarkeit zu erhöhen, hatte Bezos vielversprechenden neuen Technologien und Geschäftsfeldern den Weg bereitet. Alexa, Amazon Go, Amazon India, Prime Video und alles Weitere konnten sich zwar in Anbetracht der massiven Investitionen noch immer als Enttäuschungen erweisen – sie konnten Amazon aber auch zu neuen potenziellen Gewinnen verhelfen.
Doch während Bezos sich in den kreativen Prozess vertiefte, überwachte er andere Bereiche von Amazon entsprechend weniger eng – wie zum Beispiel Einkauf, Verkauf, Lagerung und Vertrieb von Waren. Selbstverständlich bestand darin Amazons ursprüngliches und größtes Geschäft. Und während das öffentliche Profil des Unternehmens und seines Chefs an Gewicht zunahm, begann sich das Getriebe dieser erbarmungslosen Maschinerie immer schneller zu drehen.