Betriebslizenz
A nfang 2018 liefen die einzelnen Fäden von Jeff Bezos’ privaten Interessen und Amazons geschäftlichen Triumphen schließlich zusammen und erzeugten das Bild eines Unternehmens und seines Gründers auf einem strahlenden Weg nach oben. Weltweit besaßen Millionen von Menschen einen Amazon Echo 236 und holten sich damit Amazon von der Türschwelle ins Haus hinein, während die virtuelle Assistentin Alexa den Anbruch des Zeitalters der reibungslosen Sprachsteuerung verhieß. Der Amazon Go-Store ohne Registrierkassen hatte endlich in Seattle seine Tore geöffnet und sollte schon bald in anderen größeren Städten der USA aufmachen. In dem kostspieligen Rennen um die Vorrangstellung im Online-Handel in Indien duellierte sich das Unternehmen auf Augenhöhe mit der zu Walmart gehörenden Firma Flipkart. In Hollywood hatte sich Amazon mit Erfolgsserien wie The Marvelous Mrs. Maisel und Fleabag als Teil einer revolutionären neuen Welle profiliert und Videostreaming als weitere Einnahmequelle für das florierende Prime-Ökosystem etabliert.
In seinem ursprünglichen Online-Geschäft hatte sich Amazon die ungebremste Wucht des chinesischen Kapitalismus zunutze gemacht, um seinen durch externe Anbieter bestückten Marketplace auszuweiten, den Kauf von Whole Foods Market abgeschlossen und ein Transportnetz für die letzte Meile entwickelt, welches das Wachstum des Unternehmens unterstützte und seine Abhängigkeit von Paketlieferfirmen und staatlichen Postdiensten verringerte. AWS blieb der Hauptmotor des Unternehmens für Cashflow und Gewinn, doch hatte Amazon auch noch eine zweite Geldquelle aufgebaut: ein lukratives Online-Werbegeschäft.
Selbst mit einer Belegschaft von knapp 600.000 Mitarbeitern – fast zwei Drittel davon in den Logistikzentren – war Amazon Anfang 2018 nach wie vor erfinderisch und bewies enorme Hebelwirkung auf seine Fixkosten. Für diese einzigartige Kombination und dafür, dass das Unternehmen scheinbar nicht den Gesetzen der organisatorischen Schwerkraft unterlag, welche die meisten Großunternehmen behinderte, belohnten sie die Investoren in diesem Juni mit einem Börsenwert, der zum ersten Mal 800 Milliarden Dollar überstieg. Und der Aktienpreis stieg weiter.
Bezos ließ all diese Rädchen selbstständig weiterlaufen und kehrte nur gelegentlich und meist ohne Vorwarnung zu ihnen zurück, um provokante neue Ideen vorzubringen, Kosten zu deckeln und auf die wachsende Bürokratie einzudreschen. Im Stillen dokterte er am Geschäftsmodell und der technischen Ausrüstung der Washington Post herum, überwachte die neue Geschäftsführung bei Blue Origin und begeisterte sich daran, Testflüge der New-Shepard -Rakete von seiner Ranch in West-Texas zu starten. Aufgrund des öffentlichen Drucks, etwas von seinem Vermögen abzugeben, das inzwischen 100 Milliarden überschritten hatte, dachte er außerdem über wohltätige Zwecke nach. Und wie immer lag ihm Amazons langfristige Zukunft am Herzen – nicht nur die aufsehenerregenden Neuerungen, zu denen das Unternehmen imstande war, sondern auch die Frage, wo es diese erschaffen sollte.
Zur Eröffnung der Spheres, dreier miteinander verbundener Gewächshäuser aus Glas und Stahl, bestückt mit einer üppigen Pracht aus Tropenpflanzen, künstlichen Bächen und Aquarien, empfing Bezos am 29. Januar 2018 Journalisten, politische Schwergewichte wie den Gouverneur des Staates Washington Jay Inslee und weitere Gäste auf dem Amazon-Firmencampus in der Innenstadt von Seattle. Dies markierte den Höhepunkt einer achtjährigen Reise. 237 Zu ihrem Beginn hatte Amazon von der dem Microsoft-Mitbegründer Paul Allen gehörenden Firma Vulcan Inc. elf flache Gebäude im South-Lake-Union-Viertel gemietet im Glauben, sie würden in der absehbaren Zukunft für das Wachstum des Unternehmens ausreichen. Bezos war der Ansicht, ein dynamischer, urbaner Campus würde dazu beitragen, Amazon für die begehrten jungen IT-Leute attraktiv zu machen und sie bei der Stange zu halten. Doch anders als erwartet wuchs die Belegschaft nicht langsam, sondern schoss jährlich um 30 bis 60 Prozent in die Höhe, flankiert von der raschen Expansion des Amazon-Geschäftsmodells, und die sechsstöckigen Häuser in South Lake Union platzten bald aus allen Nähten.
2012 kaufte Amazon der Vulcan den gesamten Campus ab und dazu noch weitere drei Häuserblocks in der Nähe, um einen Komplex von Bürohochhäusern zu planen. Im Oktober desselben Jahres hatte Bezos Gelegenheit zu einem Rundgang durch den Firmensitz von Ferrari in Maranello. Seit jeher empfänglich für die Spleens und Gebräuche anderer Firmen, ließ er sich vielleicht von den Innengärten in der Fabriketage des Luxusautobauers inspirieren und entwickelte anschließend eine radikale Idee für Amazons neue Konzernzentrale.
»Alexa, eröffne die Spheres«, sagte Bezos bei der Einweihung, als er vor der versammelten Menge auf einem Podium stand. »Okay, Jeff«, antwortete die körperlose Stimme von Alexa, die der Sängerin Nina Rolle aus Boulder gehörte, während ein Ring an der blau beleuchteten, mit Nebeldüsen bestückten Kuppeldecke die unzähligen exotischen Pflanzen und Bäume mit Wasser zu besprühen begann. Belegschaft und Gäste applaudierten, während Bezos in sein unverwechselbares bellendes Lachen ausbrach.
Doch nicht alle waren in Feierlaune. Als in jenem Januar 2018 die Spheres eröffnet wurden, arbeiteten 45.000 Amazon-Beschäftigte in Seattle, 238 und das Unternehmen belegte etwa ein Fünftel der gesamten erstklassigen Büroflächen der Stadt. Neue Hotels, Restaurants und Baustellen breiteten sich in einem bereits dicht bebauten Stadtkern aus. Amazon hatte den unkonventionellen Charakter seiner Heimatstadt verändert, die einst als Industriestadt und als Heimat alternativer Trends wie Grunge-Musik und Mode gegolten hatte.
Sämtliche Nachteile des Städtewesens im 21. Jahrhundert hatten diese rasanten Veränderungen begleitet. Historische Viertel mit einem reichhaltigen Kulturerbe wie der überwiegend schwarze zentrale Distrikt knapp 5 Kilometer östlich von Amazons Sitz hatten sich in erschreckendem Tempo gentrifiziert. Die durchschnittliche Miete für Einzimmerwohnungen stieg laut der National Low Income Housing Coalition in Seattle zwischen 2013 und 2017 um 67 Prozent. 239 Der Verkehr auf der Autobahn I 5 stadteinwärts sowie über die Brücken nach West-Seattle und in die östlichen Vororte kam in der Stoßzeit regelmäßig zum Erliegen. Infolge strenger Regelungen bezüglich der Nutzung von Grundstücken und Widerstands aus der Bevölkerung gegen den Bau neuer Sozialwohnungen verloren Familien mit niedrigem Einkommen ihr Zuhause, und Obdachlosigkeit wurde auf den Straßen Seattles zu einer beklemmenden Alltagserscheinung.
Die meisten Vertreter der Stadt stimmen darin überein, dass Seattle darauf unvorbereitet war und nicht schnell genug Gegenmaßnahmen ergriff. »Was uns in der Stadtverwaltung verblüfft hat, waren Ausmaß und Tempo von Amazons Wachstum«, sagte Stadtrat Tim Burgess, der 2017 kurzzeitig Bürgermeister von Seattle war. »In vieler Hinsicht war die Stadt dafür nicht gewappnet.« Maud Daudon, die frühere Vorsitzende der Handelskammer von Seattle, sagte, die Stadt sei von Amazons Aufstieg »als Kommune zwangsläufig ein bisschen kalt erwischt worden. Es war einfach eine derart massive Umwälzung.«
Die gleiche Dynamik spielte sich etwa 1300 Kilometer weiter südlich im Silicon Valley ab, wo der Widerwille langjähriger Anwohner gegenüber den durch Firmen wie Google und Facebook ausgelösten Veränderungen umgangssprachlich als »Techlash« bezeichnet wurde. In Seattle war es dann eben ein »Amazonlash«.
Die mit dem Verlauf des unaufhaltsamen Firmenwachstums beschäftigten Manager und Angestellten waren leichte Angriffsziele. Im Gegensatz zu älteren Firmen wie Microsoft und Boeing spendete Amazon praktisch nichts 240 an lokale Wohltätigkeitsorganisationen wie den regionalen Ortsverband von United Way und verdoppelte nicht einmal die Spendenbeiträge seiner Mitarbeiter. (Amazon widersprach dieser Darstellung und erklärte, die Firma »hat lokale Initiativen in Seattle lange unterstützt«.) Bezos schien lieber jeden Cent in neue Produktlinien zu stecken oder für die Kunden die Preise zu senken. Die Kommunikation zwischen Amazon und seiner Heimatstadt beschränkte sich auf gestelzte E-Mails zwischen John Schoettler, Amazons langjährigem Immobilienchef, und Beamten vom Stadtplanungsamt. Im Gegensatz zu anderen illustren Persönlichkeiten wie Bill und Melinda Gates oder Eddie Vedder, dem Frontmann von Pearl Jam, war Jeff Bezos weitgehend unsichtbar und spielte praktisch keine Rolle in der Stadt.
Getroffen von Kritik durch die Seattle Times und andere lokale Medien, dass Amazon keinerlei Engagement in Bezug auf wohltätige Zwecke in der Stadt zeige, begann das Unternehmen 2016 nach Möglichkeiten zur Mitwirkung zu suchen. Schoettler setzte sich als Erster dafür ein, ein früheres Travelodge-Hotel auf einem Grundstück des Unternehmens einer einheimischen Nonprofit-Organisation namens Mary’s Place zu schenken, die sich um obdachlose Frauen und Kinder kümmerte. Als das Hotel abgerissen wurde, verlegte Amazon das Hilfsprojekt in ein nahe gelegenes Days Inn und reservierte später in einem seiner neuen Bürogebäude acht Etagen dafür. Im gleichen Jahr unterstützte Amazon auch eine Vereinigung, die mithilfe einer Wählerinitiative erfolgreich dafür eintrat, mit Geldern in Höhe von 54 Milliarden Dollar eine Stadtbahn und andere öffentliche Verkehrsmittel in der Region zu erweitern.
Bezos wusste um diese Initiativen, sagten Amazon-Mitarbeiter, die damit befasst waren. Manche glaubten, er habe sie unterstützt, weil sie Amazon zu einem besseren Image verhalfen und nur einen relativ geringen finanziellen und zeitlichen Aufwand erforderten. Typischerweise konzentrierte er sich aufs Geschäft und war vor allem an Transaktionen interessiert, wenn es um gesellschaftliches Engagement ging. Interne Unternehmensdokumente empfahlen, dass man genug tun solle, um »die Betriebslizenz« 241 zu behalten – das Unternehmenskonzept, das sich auf die Akzeptanz der Öffentlichkeit gegenüber einem Unternehmen, seinen Mitarbeitern und seinem Geschäftsgebaren bezieht.
Jahrzehntelang war diese dauerhafte Übereinkunft zwischen Unternehmen und den Kommunen, in denen sie ansässig waren, relativ stabil geblieben. Ein Unternehmen konnte Arbeitsplätze schaffen, seine Steuern bezahlen und ein Mindestmaß an Dienst an der Gemeinschaft leisten und ansonsten in aller Ruhe seinen Geschäften nachgehen. Doch im 21. Jahrhundert rückte die Beziehung zwischen Städten und den ausufernden globalen Mischkonzernen in ihrer Mitte in den Fokus bohrender Fragen. Was kostete es die Öffentlichkeit, wenn Städte Unternehmen mit Steuererleichterungen und geschenkten Grundstücken lockten? Wie konnten Unternehmen verlässliche Partner ihrer Kommunen werden? Und wenn es die Regierungen nicht schafften, hartnäckige Probleme wie Einkommensungleichheit und Armut zu lösen, inwieweit waren dann die Unternehmen dafür verantwortlich, einzugreifen und sie zur Rede zu stellen?
In Seattle wurde die Unternehmensverantwortung durch Kshama Sawant verkörpert, eine selbst ernannte marxistische Sozialistin, die 2014 in den Stadtrat von Seattle gewählt wurde. Sawant und ihre Verbündeten regten einen ganzen Katalog von Zusatzsteuern an, die Amazon zwingen sollten, für die negativen Auswirkungen seines Wachstums zu bezahlen. Der frühere Bürgermeister Tim Burgess sagte: »Ihre Wahl war ausschlaggebend für den Wandel von Tonlage und Art des öffentlichen Diskurses.«
Im Juni 2017 unterstützte Sawant zusammen mit anderen einen Gesetzentwurf, der eine Erhöhung der Einkommensteuer um 2,25 Prozent für Personen vorschlug, die mehr als 250.000 Dollar im Jahr verdienten. 242 Amazon-Mitarbeiter sagten, die Maßnahme, die einstimmig vom Stadtrat verabschiedet, jedoch erfolgreich vor Gericht angefochten und nie umgesetzt wurde, habe Bezos’ Aufmerksamkeit erregt, der sich sonst wenig um Lokalpolitik scherte. Später im selben Jahr lancierte Sawant eine »Kopfsteuer«, 243 die Firmen abhängig von der Zahl ihrer Mitarbeiter vor Ort eine neue Abgabe auferlegen würde. Die Idee wurde abgeschmettert, sollte aber im Lauf der folgenden Jahre immer wieder auftauchen. Infolgedessen fühlten sich Amazon-Mitarbeiter zunehmend unwillkommen in einer Stadt, die lange von Boom-und-Pleite-Zyklen geplagt worden war, ein Zustand, den ein berühmtes Plakat aus den Siebzigerjahren prägnant auf den Punkt brachte: »An die letzte Person, die SEATTLE verlässt: Mach das Licht aus.«
Zur gleichen Zeit stellte ein weiterer Faktor eine schwere Belastung für Bezos’ langfristige Pläne dar: Obwohl Amazon gerade neue Büroräume baute, ging dem Unternehmen in Seattle allmählich der Platz aus. Seit 2018 traten Monat für Monat Tausende neue Mitarbeiter in die Dienste des Unternehmens. Angestellte, die in Bürogebäuden wie Doppler und Day One arbeiteten, erinnerten sich an eine so eklatante Raumknappheit, dass manche Kollegen einen Schreibtisch im Flur bekamen. Die Firmenevents waren Massenveranstaltungen, und 2018 konnte Amazon das alljährliche Sommerpicknick erstmals nicht mehr auf dem CenturyLink Field abhalten. 244 Es waren jetzt einfach zu viele Beschäftigte.
Auch die Rekrutierung neuer Mitarbeiter wurde schwieriger. Das Unternehmen konnte einfach nicht noch wesentlich mehr Menschen – Ingenieure, aber auch Anwälte, Betriebswirtschaftler und Personaler – dazu bewegen, in die raue Gegend voller Nebel und Regenwolken im pazifischen Nordwesten zu ziehen. Für die nächste Wachstumsphase würde Amazon sich woanders umsehen müssen.
Eine im August 2016 erstellte Studie hatte diesen unvermeidlichen Schritt bereits erwogen. Das Dokument mit dem hochtrabenden Titel »Update zur Initiative der Immobilienstandortwahl, Standortwahl für einen Amazon-Campus in Nordamerika« war von leitenden Mitgliedern des Amazon-Teams für Unternehmensentwicklung verfasst worden. Es beschrieb die relativen Vorzüge und die verfügbare Menge an IT-Leuten in fünfundzwanzig Städten, darunter Dallas, New York und Washington, D. C., wo Amazon etwa 20.000 Mitarbeiter finden könnte und über die Effizienz einer großen Zweigniederlassung verfügen würde.
Das Dokument und die anschließende Diskussion des S-Teams waren der erste Schritt auf einem provokanten neuen Weg – dem Nachlassen von Amazons Abhängigkeit von seiner Heimatstadt. Ein Jahr später, im September 2017, sollten verblüffte städtische Beamte in Seattle genau wie alle anderen aus den Medien erfahren, dass Amazon ein zweites Hauptquartier aufzubauen plante.
Dem Vernehmen nach war das Projekt, das als HQ2 bekannt werden sollte, Bezos’ geistiges Kind. Der Gründer von Amazon hatte durchaus registriert, dass der Staat Washington ein Bündel von Anreizen im Wert von 8,7 Milliarden Dollar autorisiert hatte, um Boeing dazu zu bringen, sein Großraumflugzeug 777X in Washington zu bauen. 245 Ihm entging auch nicht, dass Elon Musk Teslas geplante Fabrik für Lithiumionenakkumulatoren mit dem magischen Namen »Gigafactory« belegte und dann einen Staat gegen den anderen ausspielte, ehe er ein Gelände östlich von Reno, Nevada, wählte und Steuererleichterungen im Wert von 1,3 Milliarden Dollar kassierte. Musk beteiligte sich persönlich an der Suche und setzte bei Treffen mit Gouverneuren und Begehungen möglicher Standorte sein unvergleichliches Charisma ein. Nach Ablauf des Verfahrens hatte Nevada Tesla das größte Bündel von Steuererleichterungen in der Geschichte des Bundesstaats offeriert und dem Unternehmen praktisch erlaubt, zehn Jahre lang steuerfrei zu operieren. 246
Man muss Amazon zugutehalten, dass es Seattle oder den Staat Washington nie um Steuererleichterungen gebeten oder solche erhalten hat. Doch jetzt fiel Bezos ein, dass es Amazon mit seinen gut bezahlten Jobs und seinem Ruf als Innovator auch gelingen müsste, von einer ähnlich wirtschaftsfreundlichen Region ein dickes Anreizbündel zu bekommen. Amazons Entwicklungsteam wurde angewiesen, »einen nachhaltigen Vorteil für uns ausfindig zu machen« – nicht nur geldwerte Leistungen, die das Unternehmen vielleicht rasch aufgebraucht hätte, sondern eine Stadt, die bereit sein könnte, ihnen exklusive und dauerhafte Steuererleichterungen zu gewähren.
Wie gewohnt waren Bezos’ Ansprüche hoch und sein Geduldsfaden dünn. Als sich Amazon beispielsweise im Januar 2017 Steuervergünstigungen in Höhe von 40 Millionen Dollar sicherte, um für die Dauer von fünfzig Jahren ein Luftdrehkreuz am Flughafen Cincinnati/Northern Kentucky zu mieten, versandte Bezos jene enttäuschte E-Mail, in der er sich fragte, warum Musk eine besondere »Superkraft« für das Anhäufen von Steuererleichterungen besaß. Und wie das Wall Street Journal später berichtete, wurde Amazons Team für wirtschaftliche Entwicklung ein Ziel des S-Teams übertragen, und zwar eine Milliarde Dollar an jährlichen Steuervergünstigungen zusammenzutragen. 247
Die kühnste Idee für das An-Land-Ziehen solcher Steuervergünstigungen stammte natürlich wieder von Bezos selbst. Im Lauf des Sommers 2017 sann er über die Schlussfolgerungen aus der Studie der Abteilung für wirtschaftliche Entwicklung vom Vorjahr, die sich verändernde politische Stimmung in Seattle und den gewaltigen Erfolg nach, den Tesla, Boeing und das taiwanesische Unternehmen Foxconn dabei gehabt hatten, sich bei bundesstaatlichen und kommunalen Regierungen Steuervergünstigungen zu sichern. 248 Und er verfiel auf eine sehr Bezos-typische Idee – eine Novität in ihrer kompletten Umkehr der traditionellen Art, wie Unternehmen lokale Behörden umwarben.
Statt zahlreiche Büros in mehreren Städten aufzumachen oder diskret mit einem Ort über eine Niederlassung zu verhandeln, sollte Amazon nun die Absicht verkünden, eine zweite Konzernzentrale einzurichten – ein Pendant zu seinem Stammsitz in Seattle. Dann sollte das Unternehmen die Standortsuche auf alle Großstädte in Nordamerika ausdehnen und sie in den Wettbewerb um etwa 50.000 Arbeitsplätze und Investitionen in Höhe von fünf Milliarden Dollar über einen Zeitraum von fünfzehn Jahren treten lassen. Dieses Verfahren könne, laut Bezos, das herausstellen, was die Kommunen von der Firma haben wollten, anstelle dessen, was ihre Kritiker an ihr fürchteten. »Zum Teil war es ein Cheerleader-Auftritt«, sagte ein Mitglied des HQ2-Teams, das sich wie viele andere Beteiligte aus Angst vor Vergeltung nicht offiziell äußern wollte. »Wer wollte uns haben? Das würde sich während des Verfahrens von selbst ergeben.«
Um das Projekt in Gang zu bringen, setzten Mitglieder der Teams für Öffentlichkeitsarbeit und wirtschaftliche Entwicklung ein sechsseitiges Dokument auf, von dem sich vieles in der Pressemitteilung und der HQ2 RFP (Angebotsanfrage) niederschlug, die Amazon am 7. September 2017 veröffentlichte. 249 In der Angebotsanfrage wurde nicht nur der Wunsch des Unternehmens nach einer Metropolregion mit über einer Million Einwohnern, einer wirtschaftsfreundlichen Umgebung sowie Zugang zu qualifizierten Fachkräften und Transportnetzen dargelegt, sondern auch präzise beschrieben, was nötig war, um den Wettbewerb zu gewinnen: das Wort »Anreiz« oder »Anreize« kam einundzwanzig Mal darin vor, flankiert von der Erklärung, dass Formen der Steuererleichterung »ausschlaggebende Faktoren für den Entscheidungsprozess« sein würden und ein wettbewerbsfähiges Angebot vielleicht sogar erfordern könne, dass Regionen spezielle Gesetze verabschieden müssten.
Diese unverblümte Ausdrucksweise fanden manche geschmacklos. Nach der Veröffentlichung gingen bei Mike Grella, einem in Washington, D. C., ansässigen Mitarbeiter in Amazons Team für wirtschaftliche Entwicklung, der Standorte für AWS-Datenzentren ausfindig machen sollte, Anrufe von ihm persönlich bekannten städtischen Beamten aus dem ganzen Land ein. Die Angebotsanfrage sowie die Vorstellung, dass Amazon ein privates Verfahren in aller Öffentlichkeit abwickeln wollte, wo es unberechenbaren politischen Kräften und der öffentlichen Meinung ausgesetzt wäre, hatten sie erschreckt.
Doch dann passierte etwas Komisches: »Zuerst waren sie alle empört«, sagte Grella. »Und dann fügten sie sich ausnahmslos.«
Die Ankündigung von Amazons HQ2-Initiative löste einen Medienrummel aus. In den zwei Wochen danach brachten Medienunternehmen laut der Datenbank LexisNexis mehr als 800 Artikel und Kommentare über den Wettbewerb. Lokalzeitungen bewerteten die Chancen ihrer Stadt, und altgediente Amazon-Beobachter schlossen Wetten ab. 250 Die New York Times prophezeite, dass Denver das Rennen machen würde, indem sie »den Lifestyle und die Bezahlbarkeit der Stadt, gepaart mit ausreichend IT-Leuten von den in der Region angesiedelten Universitäten« 251 ins Feld führte. Das Wall Street Journal entschied sich für Dallas. 252 Führungskräfte von Amazon favorisierten Boston, berichtete Bloomberg News . 253
Es gab auch ein paar andere Meinungen. Der Kongressabgeordnete Ro Khanna aus dem Silicon Valley twitterte, dass Hightech-Unternehmen nicht »bei Städten in meinem Bezirk oder anderswo um Steuererleichterungen bitten sollten. Sie sollten lieber in die Kommunen investieren.« 254 In einer Kolumne der Los Angeles Times wurde das Verfahren »arrogant, naiv und mehr als ein kleines bisschen zynisch« 255 genannt. Doch wie Bezos gehofft hatte, waren die Reaktionen meist positiv und erhellend. Während Kritiker der Hightech-Industrie in Seattle und im Silicon Valley die Rolle der Hightech-Giganten bei der Beschleunigung von Gentrifizierung und Obdachlosigkeit anprangerten, lechzten andere Städte danach, sie zu sich zu holen. Das Ergebnis war ein beispielloses öffentliches Gerangel um die einmalige Chance auf ein Füllhorn hoch bezahlter Jobs und dringend benötigter wirtschaftlicher Aktivität.
Bis zum Einsendeschluss am 19. Oktober 2017 gingen insgesamt 238 Vorschläge ein. Städte wie Detroit, Boston und Pittsburgh legten ihren Bewerbungen Videos bei, in denen sie ihre Reize mit erhebender Musik und Spezialeffekten wie aus einem iMovie anpriesen. Ein von der Region Tampa-St. Petersburg produzierter Werbefilm enthielt Ausschnitte aus einem fröhlich im Sand ausgetragenen Beachvolleyball-Match; Dallas brüstete sich unter anderem mit »Würze«, »Vibe« und »Margaritas«. Wenig fotogene städtische Beamte in Anzügen und Krawatten traten vor die Kamera und richteten unterwürfige Worte an Amazon.
Ein paar Städte griffen zu ausgefalleneren Maßnahmen. Birmingham, Alabama, stellte in der Stadt verteilt drei riesige Pappkartons auf und bat die Einwohner, Selfies damit zu machen und sie in den sozialen Netzwerken zu posten. Der Bürgermeister von Kansas City kaufte 1000 Produkte auf Amazon.com und ließ sie alle mithilfe von Superlativen über seine Stadt bewerten. 256 Das kanadische Calgary besprühte die Gehsteige in Seattle mit Graffiti und hängte in der Nähe der Büros von Amazon ein 60 Meter langes rotes Transparent auf, auf dem stand: »Wir wollen nicht behaupten, dass wir für euch gegen einen Bären kämpfen würden … aber wir würden es tun.« 257 Stonecrest in Georgia, ein gut 30 Kilometer östlich von Atlanta gelegener Vorort, bot an, sich in »Amazon« umzubenennen. Tucson, Arizona (Einwohnerzahl 2019: 545.000), wollte der Firma einen 7 Meter hohen Saguarokaktus zukommen lassen, den diese dann einem Museum schenkte. Und so weiter und so fort.
Viele Vertreter von Stadtverwaltungen erklärten, ihnen bliebe nichts anderes übrig, als ihren Wählern zu demonstrieren, dass sie um eine derart lukrative Beute rangen. »Meiner persönlichen Ansicht nach liegt die Zukunft der Arbeit einzig und allein in Hightech, und wenn man daran nicht in irgendeiner Form teilhat, ist man wirtschaftlich komplett abgehängt«, sagte Ryan Smith, ein leitender Mitarbeiter im Büro für wirtschaftliche Entwicklung des Gouverneurs von Nevada, der an der gescheiterten Bewerbung von Las Vegas beteiligt war.
Die Bewerbungen wurden an ein kleines Team aus etwa einem halben Dutzend Führungskräften aus den Abteilungen für Personal, Öffentlichkeitsarbeit, Public Policy und wirtschaftliche Entwicklung in Amazons Niederlassungen in Seattle und Washington weitergeleitet. Jahrelang war Amazons Anwesenheit in der US-Hauptstadt kaum wahrzunehmen gewesen. Das Policy-Team belegte eine Etage in einem heruntergekommenen Washingtoner Reihenhaus, über einem Büro, in dem zwei Lobbyisten für die Cherokee Nation ihrer Arbeit nachgingen. Die Mitarbeiter mussten sich eine einzige Toilette teilen und ein VPN nutzen, um Zugang zum Amazon-Network zu bekommen. Amazons Engagement für Regierungsbeziehungen war so gering ausgeprägt, dass Jay Carney, als er für die Obama-Regierung tätig war, sagte, er habe »nie jemanden von Amazon gesehen, kein einziges Mal, nicht einmal, als wir nach Seattle gefahren sind, um Spenden zu sammeln«.
Nachdem Carney 2015 als Senior Vice President für globale Unternehmensangelegenheiten zu Amazon gestoßen war, begann das Washingtoner Team direkt an ihn zu berichten und bekam mehr Ressourcen. Amazon war gerade in ein modernes Bürogebäude an der New Jersey Avenue 601 gezogen, gegenüber der Juristischen Fakultät der Georgetown University. Das Unternehmen bekam jede Menge Aufmerksamkeit vonseiten der Regierung. Nun konnte es sich nicht mehr vor aller Augen verstecken.
Obwohl Carney in Washington angesiedelt war, reiste er häufig nach Seattle, daher wurde das Büro von Brian Huseman geleitet, Vice President bei Public Policy und früherer Strafverfolger beim Justizministerium. Huseman, der aus Oklahoma stammte, war eine polarisierende Gestalt und bei seinen Bürokollegen als gewiefter innenpolitischer Player bekannt. Im Herbst 2017, als das HQ2-Verfahren begann, plante er minuziös Amazons Teilnahme an einer festlichen Veranstaltung in Washington, wo Bezos von der Human Rights Campaign den National Equality Award verliehen bekam.
Huseman gestaltete auch die Innenräume von Amazons Büros in Etage neun, sodass sich die Aufzüge zu einem Empfangsbereich hin öffneten, der von einer Wand aus alten Türschreibtischen umstanden war – ein Symbol für Amazons Sparsamkeit. Weiter hinten im Flur gab es einen Raum für öffentliche Veranstaltungen, ausgerüstet mit einem Kiva-Roboter, dem Prototyp einer Paketauslieferungsdrohne und Videobildschirmen, auf denen in Endlosschleife Clips aus Produktionen der Amazon Studios liefen. In einem anderen Flur und hinter einer Personenschleuse befanden sich die nüchternen, im Amazon-Stil eingerichteten Büros. Einer dieser Räume ließ sich nur mit einem speziellen Schlüssel öffnen und war für das HQ2-Team reserviert, damit sie dort ihren geheimen Tätigkeiten nachgehen konnten. Die Fenster waren mit Zeitungspapier abgeklebt. Wenn jemand dabei ertappt wurde, wie er hineinzuspähen versuchte, wurde er der Security gemeldet.
In den Wochen nach dem Eintreffen der ersten HQ2-Angebote arbeitete das Team in Washington zwölf Stunden am Tag, sechs bis sieben Tage die Woche, und begutachtete die Flut der Bewerbungen. Irgendwann geriet das Ganze in Gefahr, gefährlich beliebig zu werden, bis ein Gruppenmitglied seine Kollegen daran erinnerte, dass sie objektive Kriterien entwickeln und alle greifbaren Daten dem S-Team übermitteln mussten. Sie nahmen sich noch einmal die Angebotsanfrage vor und erstellten Tabellen, die die verschiedenen Faktoren gegeneinander abwogen, wie zum Beispiel die Einwohnerzahl, die Anzahl der vor Ort vorhandenen Absolventen von MINT-Studiengängen, die Beschäftigtenzahlen und das Bruttosozialprodukt der betreffenden Region.
Die Bemühungen waren stark von Idealismus durchdrungen. Mitglieder des HQ2-Teams glaubten ernsthaft, dass jede Stadt die Chance hatte zu siegen. Irgendwann schrieben alle auf ein Blatt, welche Städte ihrer Meinung nach in die engere Wahl kommen würden, und legten es in einen Umschlag, der anschließend zugeklebt wurde. Holly Sullivan, Amazons eloquente und gut vernetzte Leiterin der Abteilung für wirtschaftliche Entwicklung, kam dem richtigen Ergebnis am nächsten. »Wir glaubten wirklich, wir würden am wichtigsten Projekt der wirtschaftlichen Entwicklung innerhalb einer Generation arbeiten und das Leben von Hunderttausenden verändern«, sagte jemand aus dem HQ2-Team.
Anfang Januar präsentierten Sullivan und Finanzdirektor Bill Crow sämtliche Daten und Bewerbungen dem S-Team. Kollegen zufolge soll Bezos, der sich der Verantwortung sehr wohl bewusst war, jedem Kandidaten einen ernsthaften Blick zu widmen, die Bewerbungen aller 238 Regionen durchgelesen haben. Es dauerte Stunden.
Als sie sich anschickten, am 18. Januar 2018 die zwanzig Finalisten zu verkünden, reichten Mitarbeiter, die am HQ2-Projekt beteiligt waren, mehrere Vorschläge dafür ein, wie man die Shortlist enthüllen könnte. Eine Idee aus dem Public-Relations-Team war, die Spannung dadurch zu steigern, dass man jede Stunde eine neue Stadt bekanntgab, doch dagegen legte Bezos sein Veto ein. Vielleicht hatte er begriffen, dass Amazon nicht noch mehr tun musste, um die bereits beträchtliche Aufmerksamkeit zu erhöhen, die HQ2 ganz von allein in der Öffentlichkeit erzeugte – oder dass die politischen Winde, die das Verfahren umwehten, ohnehin bereits allzu unberechenbar waren.
In den Tagen, bevor die Finalisten verkündet wurden, teilten die Leute vom HQ2-Team die Liste mit den über zweihundert Städten, die es nicht geschafft hatten, unter sich auf, riefen bei den lokalen Beamten an und bereiteten sie auf die schlechten Nachrichten vor. Die meisten fragten nach dem Warum und zeigten sich enttäuscht aufgrund der vielen Zeit und der Ressourcen, die sie in die gescheiterte Bewerbung investiert hatten. Die Amazon-Mitarbeiter reagierten mit einem Datenschwall. »Ihre Metropolregion hat nur 375.000 Einwohner, und von denen besitzen lediglich 10 Prozent einen höheren Studienabschluss«, lautete eine typische Erklärung. »Sorry, da sind einfach nicht genug Arbeitskräfte auf dem Markt.« Die Vertreter der meisten Städte stimmten darin überein, dass Amazons Herangehensweise gewissenhaft war und vor allem Holly Sullivan mehr Zeit als nötig dafür aufwendete, Fragen zu beantworten und Beziehungen zu retten, die sich für das Unternehmen in der Zukunft noch als hilfreich erweisen könnten.
Nachdem Amazon die Shortlist bekannt gegeben hatte, was allein in dieser Woche weitere 1400 Artikel in den Medien nach sich zog, machte sich das HQ2-Team auf die Reise. Eine Gruppe von zwölf Mitarbeitern, angeführt von Sullivan und Immobilienchef John Schoettler, war von Februar bis Ende April fast ununterbrochen unterwegs und tingelte mit nur wenigen Wochen Ruhezeit auf drei separaten Exkursionen durch Städte an der Westküste, im Süden und an der Ostküste. Sie reisten auf Amazon-Art in der Economy-Class von Linienflügen oder mit Bussen, fingen am frühen Morgen an und hörten spätnachts wieder auf.
Die Städte wurden ein paar Tage im Voraus von ihrem Besuch verständigt und erhielten nur wenig mehr Informationen, als dass Amazon die von ihnen vorgeschlagenen Grundstücke besuchen und etwas über die in der Stadt vorhandenen Fachkräfte und das Bildungssystem erfahren wollte. 258 Manche waren besser vorbereitet als andere. Eric Garcetti, der Bürgermeister von L. A., beeindruckte die Amazon-Truppe mit einer dynamischen Präsentation und einem Frühstück mit den Präsidenten der lokalen Universitäten. In Nashville trafen die Amazon-Manager mit dort ansässigen Musikern zusammen. In Dallas unternahmen die Stadtoberen mit der Gruppe eine Straßenbahnfahrt mit der historischen M-Linie entlang der Sehenswürdigkeiten der Innenstadt und luden sie dann zu einem Abendessen in einem Country-Western-Restaurant im hippen Uptown-Viertel ein. »Das Amazon-Team war sehr authentisch hinsichtlich seiner Interessen«, sagte Mike Rosa, der Senior Vice President der Dallas Regional Chamber. »Manche der Verfasser von Artikeln, in denen es hieß: ›Das war alles nichts als Schwindel‹, waren nicht im selben Raum wie ich. Sie waren so authentisch, wie es bei jedem anderen Projekt der Fall war, an dem ich beteiligt war.«
Von Seattle aus blieb Bezos weiter interessiert und engagiert, auch wenn er sich im Gegensatz zu Elon Musk mit seiner Gigafactory im Hintergrund hielt. HQ2 löste ganz von allein ein Mediengewitter aus, und er wollte nicht, dass seine eigene Sichtbarkeit – und der Anblick seines enormen Reichtums – von dem ihm wichtigeren Fokus auf der Schaffung von Arbeitsplätzen und Investitionen in die Gemeinschaft ablenkte. Kollegen berichteten, dass Sullivan von Bezos und anderen Mitgliedern des S-Teams regelmäßig E-Mails bekam, in denen sie nach Einzelheiten über die Grundstücksbesichtigungen und die Vorschläge der Städte gefragt wurde. Bei einem Aufenthalt in Seattle saß sie mit Bezos im 6. Stock des Day-One-Turms und wartete in gespanntem Schweigen auf seine Fragen, während er Ordner voller Bewerbungen durchblätterte.
Für Bezos war die HQ2-Suche nicht nur ein Thema von drängendem Interesse für die Zukunft seines Unternehmens, sondern ein PR-Spektakel, das mittlerweile einen langen Schatten über jeden seiner öffentlichen Auftritte warf. Im April fuhr er nach Dallas, um am George W. Bush Presidential Center’s Forum on Leadership an der Southern Methodist University zu sprechen. Auf der anschließenden Cocktailparty kam der Bürgermeister von Dallas, Mike Rawlings, auf ihn zu und setzte alles auf eine Karte. »Hören Sie mal«, sagte er, »wir sind die richtige Stadt für Sie.« Bezos hielt sich bedeckt und sagte nur, dass er von Freunden, die dort lebten, viel Gutes über die Stadt gehört habe. »Er strahlte eine gewisse Zurückhaltung aus, die mir kein gutes Gefühl gab«, berichtete mir Rawlings später.
Das Team schloss seine Städtebesuche noch im selben Monat ab und erstellte für das S-Team ein sechsseitiges Schriftstück mit seinen Ergebnissen und Empfehlungen. Im Zuge meiner Recherchen konnte ich dieses Dokument zusammen mit zwei weiteren zentralen HQ2-Dokumenten einsehen. Im Juni 2018 verfasst, unterteilte das erste Schriftstück die zwanzig Finalisten in drei Gruppen: unbrauchbar, heiß umstritten und erste Riege. Austin, Columbus, Denver, Indianapolis, Miami, Montgomery County in Maryland, Newark und Pittsburgh landeten allesamt in der ersten Kategorie und fielen heraus, vor allem weil sie zu klein waren und weder über die erforderliche Infrastruktur noch die benötigten Arbeitskräfte verfügten. Darüber hinaus hatte das Team durch seine Besuche und die Analyse der öffentlichen Meinung den Eindruck gewonnen, dass Austin und Denver Amazon feindlich gesinnt sein könnten. »Bei unseren Besuchen stellte sich deutlich heraus, dass Austin und Denver das Projekt nicht so stark unterstützten wie andere Orte«, schrieben sie. Pittsburgh »erholt sich noch immer von wirtschaftlich schweren Zeiten«. Newark wurde in Bausch und Bogen abgelehnt, weil qualifizierte Tech-Leute aus New York »dort nicht arbeiten wollen würden«.
Atlanta, Boston, Los Angeles, Nashville, Toronto und Washington fielen in die Kategorie »heiß umstritten«. Die HQ2-Gruppe nannte hohe Kosten und hohe Steuern als Minuspunkte für Boston und Toronto. Sie beschrieben die Verkehrsüberlastung in Atlanta als ebenso problematisch wie den jüngst erfolgten Beschluss der Gesetzgeber Georgias, die Steuerbefreiung für den Einkauf von Flugzeugbenzin für Delta Air Lines zu kippen. Grund dafür war die umstrittene Entscheidung der Fluglinie, Mitgliedern der National Rifle Association nach dem Schulmassaker von Parkland, Florida, keine Rabatte mehr zu gewähren. 259 Amazon fand den Beschluss des Staates Georgia, eine Firma für ihre politischen Werte zu bestrafen, beunruhigend.
In dem Schriftstück hieß es außerdem: »Wir alle hatten hohe Erwartungen an Nashville, doch die Stadt ist für eine Investition von unserer Größe nicht bereit.« Über Los Angeles hieß es: »Es ist die Stadt mit den meisten Staus der Welt, besitzt keine geografische Vielfalt, und außerdem ist Kalifornien kein wirtschaftsfreundlicher Staat.«
Zur ersten Riege zählten Chicago, Dallas, New York City, Nord-Virginia, Philadelphia und Raleigh. Obwohl es diese Orte am wärmsten empfahl, äußerte das HQ2-Team doch auch Bedenken. Sie fürchteten, dass es bei einer Wahl des geografisch isolierten Dallas schwieriger werden könnte, hoch qualifizierte Kräfte anzuwerben. New York City war am kostspieligsten, was lokale Steuern, Angestelltengehälter und Immobilienpreise anging, und da es dort so viele andere große Arbeitgeber gab, »könnten wir unsere Präsenz nicht so zu unserem Vorteil nutzen wie an anderen Orten«. Nord-Virginia war zwar wirtschaftsfreundlich, galt aber nicht gerade als Nährboden für Hightech-Experten und war auch nicht besonders preiswert.
Abschließend empfahl das HQ2-Team dem S-Team, die Endrunde der Städte weiter einzudampfen, damit das Unternehmen mit gewählten Vertretern der Städte sprechen und sich die besten Grundstücke sichern könne. Es sprach sich dafür aus, den Sieger am 7. September zu verkünden, dem ersten Jahrestag der Suchankündigung. »Unser Ziel bei diesem nächsten HQ2-Meilenstein ist es, weiter positive Presse zu bekommen und den Ruf unseres Unternehmens zu stärken, aber gleichzeitig unseren Kritikern keine unnötige Munition in die Hand zu geben oder der Wahrnehmung Vorschub zu leisten, dass es sich hier um eine überkandidelte Reality-Show handelt«, hieß es in dem Dokument, bevor nach Monaten des Reisens, der Geschäftsessen, der Spekulation und des Verhandelns drei überraschende Finalisten empfohlen wurden: Chicago, Philadelphia und Raleigh. »Diese Städte verfügen zwar nicht über die größte Konzentration an qualifizierten IT-Leuten, doch wir glauben, dass sie die Voraussetzungen für den Ausbau eines Mitarbeiterpools in unseren vielen Geschäftsbereichen besitzen«, schloss das Schriftstück.
Solche Schriftstücke präsentieren bei Amazon allerdings lediglich Optionen und Empfehlungen; sie markieren den Beginn des Beratungsprozesses, nicht sein Ende. Bezos und das S-Team setzten sich im selben Monat in Seattle mit der Leitung von HQ2 zusammen, lasen schweigend das Dokument und vertieften sich dann in eine vielstündige Diskussion, die den Verlauf des gesamten Projekts verändern sollte.
Raleigh, North Carolina, war unternehmerfreundlich, hatte geringe Lebenshaltungskosten und wenig Verkehr, war jedoch zu klein für Amazons wachsende Bedürfnisse. In Chicago standen die einzelnen Verwaltungsorgane häufig in Konflikt miteinander, und Stadt wie Bundesstaat wurden von Kreditagenturen regelmäßig als finanziell instabil eingestuft. Philadelphia war nicht gerade eine Keimzelle für IT-Spezialisten, und wie sich jemand später erinnerte, machte AWS-Chef Andy Jassy bei dem Meeting seine Abneigung gegen die Stadt geltend, die der erbitterte Rivale seiner Lieblings-Footballmannschaft war, der New York Giants, und ließ durchblicken, dass er und seine Mitarbeiter niemals dort hinziehen wollen würden. Jassy meinte das vermutlich nur scherzhaft, doch manche Mitglieder des HQ2-Teams, die gerade monatelange Kleinarbeit geleistet und mit Zahlen jongliert hatten, äußerten sich später verärgert darüber, dass das Verfahren nun den willkürlichen persönlichen Vorlieben hochrangiger Führungspersönlichkeiten unterworfen wurde.
Die HQ2-Manager verließen das Meeting mit einer radikal anderen Shortlist als derjenigen, die sie vorgeschlagen hatten. In dem zweiten Schriftstück, das ich einsehen konnte und das im August erstellt worden war, sann das Team über seinen Beschluss aus der Sitzung vom Juni nach, fünf Orten genauer auf den Zahn zu fühlen: Dallas, Los Angeles, New York City, Nord-Virginia und Nashville. Damit waren die drei Topbewerber aus dem Rennen, die das HQ2-Team empfohlen hatte, doch das Schriftstück empfahl, noch einmal über Chicago nachzudenken, allerdings nur, »um potenzielle negative Reaktionen zu minimieren, falls Chicago in dem Verfahren nicht weiter nach vorne rücken sollte«.
Die Prioritäten bei der HQ2-Suche hatten sich verschoben. Die Jagd nach dem umfassendsten Anreizbündel war von einem Interesse an den größten Städten, den besten Möglichkeiten zur Mitarbeiterrekrutierung und dem freundlichsten politischen Umfeld abgelöst worden. Das war kein Zufall. Denn zur gleichen Zeit, als die Manager an ihrer Shortlist feilten, verschlechterten sich Amazons Beziehungen zu seiner Heimatstadt rapide.
In Seattle hatten Kshama Sawant und der links orientierte Stadtrat erneut eine Kopfsteuer vorgeschlagen, die sogenannte Personalstundensteuer, die großen Arbeitgebern bis zu 500 Dollar pro Beschäftigtem abverlangen und insgesamt bis zu 86 Millionen Dollar einbringen sollte, um Problemen wie Obdachlosigkeit und dem Mangel an bezahlbaren Wohnungen entgegenzuwirken. Es war eine drakonische Maßnahme: Im Vergleich dazu hatte Chicago fast dreißig Jahre lang eine geringfügige Kopfsteuer von vier Dollar pro Arbeitnehmer verlangt, ehe Bürgermeister Rahm Emanuel nachwies, dass diese für Arbeitsplatzverluste verantwortlich war, und den Stadtrat davon überzeugte, sie abzuschaffen.
Sollte der im April 2018 eingebrachte Vorschlag angenommen werden, würde sich Amazons lokale Steuerschuld um 22,5 Millionen Dollar pro Jahr erhöhen, 260 zusätzlich zu den 250 Millionen Dollar, die das Unternehmen bereits an bundesstaatlichen und lokalen Steuern entrichtete. Das wäre zwar nur ein Bruchteil von Amazons Gewinn von zehn Milliarden Dollar im Jahr 2018, doch es war die feindselige Haltung, die zählte. Seattle bewegte sich auf eine Doppelbesteuerung von Unternehmenseinkommen und Belegschaft zu, was unter anderem deshalb erforderlich wurde, weil Washington einer von sieben US-Bundesstaaten ohne persönliche Einkommensteuer ist (eine Tatsache, die Bezos und andere Amazon-Größen im Lauf der Jahre enorm begünstigt hatte). Amazon fand, die Firma bezahle bereits eine Menge an kommunalen Steuern, und wenn die Stadt ihr Geld nicht auf die richtige Weise ausgab und dafür, die drängendsten Probleme anzugehen, dann war dies kaum Amazons Schuld.
Nach dem Kopfsteuervorschlag setzte sich Bezos mit John Schoettler in Verbindung und wies die Immobilienabteilung an, den Bau von »Block 18« zu stoppen, 261 einem 17-stöckigen Hochhaus in der Nähe von Day One, und den größten Teil des 75.000-Quadratmeter-Gebäudes unterzuvermieten, das Amazon am nahe gelegenen Rainier Square errichtet hatte, statt selbst dort einzuziehen. Laut einer mit den Berechnungen vertrauten Person prognostizierte das Immobilienteam, dass der Umzug die Firma über 100 Millionen Dollar kosten würde (obwohl dieselbe Person sagte, dass das Unternehmen später bei der Transaktion etwa kostendeckend arbeitete). Doch Bezos erklärte, das sei ihm egal: Amazon würde in einer Stadt, die die Firma nicht haben wollte, nicht gedeihen.
Gleichzeitig erließ Bezos eine weitere interne Anordnung: Er begrenzte Amazons Belegschaft in Seattle auf etwa 50.000 Mitarbeiter. Amazon, das bereits über 19 Prozent der erstklassigen Büroflächen der Stadt belegte, 262 sollte diesen Personalabbau binnen zwölf Monaten bewerkstelligen. Danach müssten die Manager innerhalb des Unternehmens ihr Mehr an Mitarbeitern auf Amazon-Niederlassungen in anderen Städten verlagern. Schoettler und das Immobilienteam beeilten sich, der neuen Forderung nachzukommen. Da Amazon nur eine Viertelstunde entfernt etwa 700 Leute beschäftigte, nämlich auf der anderen Seite des Lake Washington in Bellevue – einer wohlhabenden Schlafstadt vor den Toren Seattles, die sich damals mit opportunistischen Werbekampagnen an lokale Firmen wandte –, beschloss die Führungsriege von Amazon, dass das in Seattle abgebaute Personal dorthin wechseln könne, und nannte als Zielvorgabe den Umzug von 20.000 Mitarbeitern. Noch im Herbst unterschrieb Amazon einen Mietvertrag in Bellevue für das 20-stöckige Hochhaus, in dem früher das Online-Reisebüro Expedia seinen Hauptsitz gehabt hatte. 263
Auch wenn der Personalabbau nie öffentlich bekannt gegeben wurde, machte Amazon jedoch den Schritt, die Baumaßnahmen an Block 18 einzustellen und den Rainier Square Tower unterzuvermieten, offensiv publik. Dies war ein Machtspiel, eine kraftstrotzende Demonstration von Amazons Einfluss in seiner Heimatstadt sowie der Unternehmensmaxime »Das Kapital geht dorthin, wo es willkommen ist, und bleibt dort, wo man es gut behandelt«. 264 »Ich habe das als einen ungewöhnlich starken Schachzug eines Unternehmens empfunden, das eine solche Entscheidung nicht leichtfertig trifft«, sagte Maud Daudon, die frühere Vorsitzende der Seattle Metropolitan Chamber of Commerce.
Doch die Stadtoberen vernahmen die Botschaft klar und deutlich. Im Mai wurde die Kopfsteuer von 480 Dollar pro Beschäftigtem auf eine Abgabe von 275 Dollar pro Beschäftigtem gesenkt, ein Kompromiss, von dem sie irrigerweise glaubten, er sei für Amazon akzeptabel. Die Steuer wurde vom Stadtrat einstimmig verabschiedet, woraufhin Amazon spontan 25.000 Dollar für einen Ausschuss bereitstellte, der die Entscheidung vom November kippen sollte. Andere in Seattle ansässige Firmen wie Starbucks und Vulcan sowie im Familienbesitz befindliche Lieblinge wie die Fastfoodkette Dick’s Drive-In leisteten ebenfalls einen Beitrag und schlossen sich gegen die neue Steuer zusammen.
Nun wandte sich die Allgemeinheit bei Wählerbefragungen gegen den Stadtrat und stellte sich an die Seite ihrer lokalen Unternehmen und größten Arbeitgeber; die verblüfften Stadträte sahen sich urplötzlich ausmanövriert. Als sich herauskristallisierte, dass das Referendum gegen die Steuer genug Unterschriften erhalten würde, um zur Abstimmung zu kommen und wahrscheinlich angenommen zu werden, vollzog der Stadtrat eine schmachvolle Kehrtwendung und hob seine eigene Steuer mit sieben zu zwei Stimmen auf. 265 Jenny Durkan, die Bürgermeisterin von Seattle, die das Gesetz über die Kopfsteuer unterzeichnet hatte, besiegelte nun dessen Aufhebung. 266
Doch das waren nicht die einzigen Fehleinschätzungen in dieser Angelegenheit. Bezos und andere Amazon-Manager sahen nichts als einen Stadtrat, der von unternehmensfeindlichen linken Politikern gekapert worden war. Sie schienen weder zu begreifen noch sich darum zu scheren, dass die sich wandelnde öffentliche Meinung in Seattle symptomatisch für etwa Größeres war: Widerstand gegen Hightech-Firmen und die umwälzenden Veränderungen, die sie in den Städten auslösten. Das war der sogenannte Techlash, der außerhalb des Sichtfelds von Amazons gut bezahlter Führungsriege anrollte. Ihre Unfähigkeit, diese Strömungen zu erkennen, sollte gravierende Folgen haben.
Nachdem Bellevue zum unmittelbaren Ausweichquartier für die wachsende Belegschaft bestimmt worden war, zogen manche Amazon-Manager den Schluss, dass das HQ2 nun noch größer sein müsse als ursprünglich vorgesehen und höchstwahrscheinlich schneller aus dem Boden gestampft werden müsse als anfangs erwartet. Als das 17-seitige Dokument vom August verfasst wurde, konzentrierten sich das HQ2- und das S-Team auf New York City und Crystal City, Nord-Virginia – Regionen, von denen sie glaubten, sie könnten die bevorstehende Expansion unterbringen. »Wenn Kosten und Wirtschaftsklima die Hauptfaktoren sind, dann empfehlen wir Nord-Virginia als optimalen Standort. Wenn das Vorhandensein qualifizierter Fachkräfte vor Ort ausschlaggebend ist, dann empfehlen wir New York City«, hieß es in dem Schriftstück.
Das HQ2-Team prognostizierte, dass beide Städte politisch aufgeschlossen wären – selbst wenn sich Amazon für Long Island City in Queens entscheiden sollte, etwas abseits der Geschäftswelt Manhattans gelegen, eine einstmals raue Industriegegend, die sich in den letzten fünfzehn Jahren mit verstörender Geschwindigkeit gentrifiziert hatte. »Wir besitzen die Unterstützung des Staates und haben eng mit dem Direktor für wirtschaftliche Entwicklung des Staates New York zusammengearbeitet, der ein enger Vertrauter von Gouverneur [Andrew] Cuomo ist«, stand in dem Dokument. »Bürgermeister [Bill] de Blasio wird sich zwar nicht als ausgesprochener Befürworter des Projekts erweisen und steht Großunternehmen im Allgemeinen kritisch gegenüber, doch wir glauben, dass er eine Entscheidung für New York City begrüßen würde.«
Wie bereits zuvor war das Dokument lediglich der Ausgangspunkt für eine Diskussion des S-Teams. Und als HQ2-Manager in jenem September die Besprechung verließen, verblüfften sie ihre Kollegen mit der Entscheidung der Führungsriege. Bezos und das S-Team hatten entschieden, das HQ2 zwischen New York City und Nord-Virginia aufzuteilen und ein kleineres »Operations Center of Excellence« in Nashville einzurichten. Amazon hatte ein ganzes Jahr mit der Suche nach einem Einzelstandort zugebracht, doch angesichts des Bedarfs an qualifizierten Leuten sowie Bezos’ Vorgabe, dass Amazon in erster Linie außerhalb von Seattle expandieren solle, wäre eine einzige Niederlassung nicht mehr genug. Wie es jemand aus dem HQ2-Projekt ausdrückte: »Ich konnte es nicht fassen, aber dann irgendwie doch. Es ist eben Amazon, und manchmal ist es einfach absurd.«
Diese Entscheidung brachte Amazons firmeninterne Meinungsmacher in Bedrängnis. Mehr als ein Jahr lang hatten sie die zynischsten Auslegungen des HQ2-Verfahrens ebenso aggressiv zurückgewiesen wie jegliche Mutmaßungen darüber, dass es in Bezug auf eines der doppelten Machtzentren an der Ostküste nicht mit rechten Dingen zugegangen sei. Jetzt würde Amazon diesen Pessimismus rechtfertigen: Eines der reichsten Unternehmen der Welt, geleitet vom reichsten Menschen der Welt, weitete seine Anwesenheit in die Polit- und Finanzhauptstädte aus – Städte, in denen Jeff Bezos luxuriöse Privatanwesen besaß. Was das Ganze noch peinlicher machte, war, dass Amazons Aktien am Dienstagmorgen, dem 4. September, je 2050 Dollar wert waren – und damit den Börsenwert des Unternehmens über die gewaltige Schwelle von einer Billion Dollar trieben, ehe der Aktienkurs wieder sank. 267
Das dritte HQ2-Dokument, das ich einsehen konnte, stammte vom Oktober 2018 und widmete sich dieser Herausforderung, indem es Optionen darlegte, wie man die Entscheidung bekannt geben und dabei den potenziellen Wirbelsturm negativer Reaktionen umschiffen könne. Man begriff, dass »die Ankündigung den landesweiten Nachrichtenzyklus dominieren wird, ganz egal, was wir tun«, und rechnete damit, dass »gut informierte Kritiker« Amazon womöglich vorwerfen würden, sein Versprechen gebrochen zu haben, nur eine einzige Stadt als Pendant zu Seattle auszuwählen.
Zu diesen mutmaßlichen Kritikern zählten die Interessengruppe Good Jobs First, die sich für Unternehmens- und Regierungsverantwortung in der Unternehmensentwicklung einsetzte, sowie das Institute for Local Self-Reliance, das die Interessen von Kommunen und Kleinunternehmen gegenüber Handelsketten und Mischkonzernen vertrat. Namentlich erwähnt wurde auch der NYU-Professor Scott Galloway, der HQ2 als »Hunger-Games-Schönheitswettbewerb« 268 angeprangert hatte, dessen Ausgang dadurch vorbestimmt sei, »wo Jeff sich gern öfter aufhalten möchte, 269 ich tippe auf die Metropolregion New York City«, genau wie Lina Khan, die einen Artikel für das Yale Law Journal schrieb, in dem sie Amazon wettbewerbsfeindliches Verhalten vorwarf und die amerikanischen Kartellgesetze als hoffnungslos veraltet bezeichnete. 270
Verhängnisvollerweise versäumte es das Dokument, die progressiven Politiker im New Yorker Stadtrat zu erwähnen oder die charismatische Kandidatin der Demokraten für das Repräsentantenhaus, die in jenem Herbst in New Yorks 14. Wahlbezirk antrat – Alexandria Ocasio-Cortez. »Da wir diese Ankündigung als Gelegenheit erachten, zu beweisen, dass Amazon ein positiver Investor in die Gemeinschaft ist und ein Beschäftigungsmotor und ein guter kommunaler Partner, halten wir es für wichtig, die Redezeit unserer Kritiker zu begrenzen … die, wie wir glauben, schon mit den Hufen scharren, damit sie unsere Ankündigung dazu benutzen können, um ihre eigenen Ziele zu verfolgen«, hieß es in dem Schriftstück.
Das Unternehmen offenbarte die Sieger wenige Wochen später, morgens am Dienstag, den 13. November. »Amazon entscheidet sich für New York City und Nord-Virginia als neue Firmensitze«, trompetete die Pressemitteilung. 271 Merkwürdigerweise fehlte sowohl in der Ankündigung als auch in den Themen der Amazon-Sprecher jegliche Erwähnung der Abkürzung »HQ2«. Bei einer Firma mit einem Boss, der über jedes Wort in jedem Dokument endlos brütete, konnte das kein Zufall sein; Amazon versuchte offenbar, einige seiner eigenen Verlautbarungen der letzten vierzehn Monate zu vernebeln.
Wie erwartet, erhob sich ein Sturm der Entrüstung vonseiten der enttäuschten anderen Finalisten. Jetzt erkannten sie, dass Amazon die Machtkorridore und verfügbaren IT-Leute der bevölkerungsreichsten Metropolen über andere in der ursprünglichen Angebotsanfrage hervorgehobene Aspekte gestellt hatte, wie etwa Lebenshaltungskosten, geografische Vielfalt und den Umfang der Anreizbündel. Holly Sullivan rief den Bürgermeister von Dallas, Mike Rawlings, persönlich an, um ihm die schlechte Nachricht zu überbringen. Die finanziellen Anreize von Dallas und dem Staat Texas hatten sich zusammen auf 1,1 Milliarden Dollar belaufen, was erheblich mehr war als die 573 Millionen an Barzuwendungen, die Arlington County und Virginia boten, allerdings nicht ganz so viel wie das Lockangebot von Stadt und Staat New York mit 2,5 Milliarden an Steuerfreibeträgen und Rabatten. Außerdem war es um ungefähr 40 Prozent billiger, in Dallas zu bauen als an der Ostküste – was aber letztlich alles keine Rolle gespielt hatte. »Helfen Sie mir mal auf die Sprünge – warum haben Sie uns das alles aufgebürdet, wenn Sie eigentlich von vornherein nur das im Sinn hatten?«, warf Rawlings Sullivan verärgert an den Kopf.
Die Stadtoberen in den Verliererstädten hatten noch andere Gründe für Zynismus. Auf einer im März 2019 in Salt Lake City abgehaltenen Konferenz für wirtschaftliche Entwicklung sollten etwa 300 Anwesende Zeugen werden, wie Holly Sullivan spontan erwähnte, dass sie während des Verfahrens regelmäßig Rücksprache mit Stephen Moret gehalten habe, dem Chef der Virginia Economic Development Partnership. »Es hat mich gefreut, wie freimütig sie aussprach, dass sie regelmäßige Unterredungen mit ihm über das Projekt geführt hat«, erklärte jemand aus dem Publikum, der die Bemerkung mitgehört hatte. Doch das »warf wirklich Fragen über die wahre Offenheit dieses Unterfangens auf«.
In Arlington County jubelten Moret und andere kommunale Bedienstete über ihren Sieg. Doch in New York und im Stadtbezirk Queens erhob sich sofort Opposition unter lokalen Vertretern der Stadt, die außen vor geblieben und nun von der Neuigkeit überrascht worden waren. Stadtratssprecher Corey Johnson gab eine Erklärung ab, in der er Amazon, den Gouverneur und den Bürgermeister dafür abkanzelte, die Stimme der Bevölkerung übergangen und den Stadtrat von den Verhandlungen ferngehalten zu haben. 272 Jimmy Van Bramer, der stellvertretende Stadtratsvorsitzende, veröffentlichte ein gemeinsames Statement zusammen mit Staatssenator Michael Gianaris, in dem sie fälschlicherweise behaupteten, dass die Steueranreize, mit denen man Amazon angelockt hatte, einmalig seien. »Wir sind Zeugen eines zynischen Spiels, in dem Amazon New York dazu übertölpelt hat, einer der reichsten Firmen der Welt unerhörte Massen von Steuergeldern in den Rachen zu werfen«, schrieben sie und ignorierten damit die größeren Brocken, die Boeing, Foxconn und andere in anderen Bundesstaaten bekommen hatten.
Die frisch gewählte Ocasio-Cortez meldete sich ebenfalls zu Wort: »Wir bekommen den ganzen Tag Anrufe und Anfragen von Bürgern aus Queens«, twitterte sie. 273 »Amazon ist ein milliardenschweres Unternehmen. Der Gedanke, dass es zu einer Zeit, wo unsere U-Bahn immer maroder wird und unsere Kommunen MEHR Investitionen brauchen statt weniger, Hunderte Millionen Dollar an Steuererleichterungen bekommen soll, ist für die Anwohner hier extrem beunruhigend.«
Als es sich darauf vorbereitete, dieser Kritik zu begegnen, erlebte das HQ2-Team die nächste böse Überraschung. Ihre Kollegen aus dem Immobilienteam, so mussten sie erfahren, hatten in der allerletzten Minute in den »Vorvertrag« mit beiden Städten eine Klausel eingeschmuggelt, in der von ihnen gefordert wurde, beim Beschaffen der erforderlichen Flugrechte sowie der Genehmigungen für Bau und Betrieb eines Hubschrauberlandeplatzes behilflich zu sein.
Laut einer E-Mail, die ein Amazon-Anwalt Anfang des Monats an den Direktor der Empire State Development Corporation geschrieben hatte, sollte dieser idealerweise »auf dem Gelände« liegen, aber falls nicht, dann »in annehmbarer Entfernung« zu den Büroflächen der Firma. 274 Amazon würde für sämtliche Kosten aufkommen. Beide Städte, seit dem 14-monatigen HQ2-Wettbewerb bereits gewohnt, den Wünschen des Tech-Giganten nachzukommen, hatten eingewilligt, einen weiteren zu erfüllen.
Die lokalen Medien griffen diese neue Forderung rasch auf und machten sich darüber lustig (»Lösegeld für Queens«, plärrte die New York Post vom 14. November mit einer Illustration von Bezos, wie er mit Geldsäcken in der Hand aus einem Hubschrauber hängt). 275 Mitglieder des Amazon-HQ2-Teams waren verwirrt: Das Unternehmen besaß überhaupt keine Hubschrauber. Die plastische Vorstellung von betuchten Internet-Managern, die über verstopfte Innenstadtstraßen und überfüllte U-Bahn-Waggons hinwegschwebten, war entsetzlich. Schon allein der Gedanke war un-amazonisch . Sparsamkeit – und die damit einhergehende Bescheidenheit – war eines der vierzehn geheiligten Führungsprinzipien.
Einige Mitarbeiter wandten ein, dass die Hubschrauberlandeplätze eine schreckliche Idee seien, bekamen jedoch zu hören, dass die Bitte von ganz oben käme und unverzichtbar sei. »Der Hubschrauberlandeplatz war das Schlimmste, was sie überhaupt fordern konnten«, klagte Mitchell Taylor, Bischof der Kirche Center of Hope International in Long Island City und ein Unterstützer von HQ2. »Warum muss man das groß herausposaunen? Man hätte einfach später einen Heliport einrichten können.«
Die Amazon-Mitarbeiter waren genauso perplex wie ihre Kollegen bei Blue Origin, als eine Firma namens Black Ops Aviation und deren Mitbegründerin, die frühere Fernsehfrau Lauren Sánchez, auf einmal bei Starts der New-Shepard- Rakete in West-Texas auftauchten, um Werbefilme für das geheimnisvolle Raumfahrtunternehmen zu drehen. Falls sich nicht etwas ganz Grundlegendes geändert hatte, so waren großspurige Auftritte, bei denen man aus der Luft in ein Firmenbüro einschwebte, nicht gerade Jeff Bezos’ Stil.
Im Kielwasser der peinlichen HQ2-Ankündigung und des Aufruhrs um den Heliport explodierte die Opposition von unten gegen Amazons geplante Ausbreitung in Long Island City. Beflügelt von ihrem Wahlsieg wandte sich das Team von Alexandria Ocasio-Cortez dieser neuen Sache zu. Man organisierte Proteste in lokalen Kirchen; Freiwillige zogen durch die Straßen und verteilten Flugblätter, auf denen die Anwohner davor gewarnt wurden, dass die gleichen Kräfte der Gentrifizierung und Vertreibung, die sich Seattles bemächtigt hatten, nun auch Queens verändern würden.
Amazon traf das völlig unvorbereitet. Das Unternehmen hatte sich für Geheimhaltung entschieden statt für Außenwirkung und für Autonomie statt dafür, erfahrene Firmen für Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit einzuschalten, um möglichen negativen Reaktionen entgegenzuwirken. Als Neulinge im hemdsärmeligen New Yorker Politzirkus waren die Amazon-Manager der irrigen Annahme aufgesessen, dass Unterstützung von Cuomo, de Blasio und anderen Verbündeten ausreichte, um zu triumphieren. »New York war von dem Moment an verloren, als sie es verkündeten«, sagte Tom Stringer, der Leiter der Standortwahl bei der Wirtschaftsberatungsfirma BDO.
Nach dem ersten Schock bemühte sich Amazon, eine bürgernahe Zustimmungskampagne zu entwickeln. Sie engagierten die Politikberatungs- und Kommunikationsfirma SKDK sowie den Lobbyisten Mark Weprin, einen früheren Stadtrat von Queens. Und sie hatten eine absolut optimistische Botschaft – nämlich dass Amazon im Lauf von fünfzehn Jahren bis zu 40.000 Arbeitsplätze in eine ehemalige Industriebrache am Wasser bringen würde; dass die Steuerermäßigungen lediglich Rabatte auf die öffentlichen Einnahmen seien, die Amazon generieren würde, und dass viele dieser Anreize im Rahmen eines städtischen Programms zugunsten der Förderung der wirtschaftlichen Entwicklung in den Stadtbezirken der Peripherie sogar vorgeschrieben seien. 276
Doch das waren vernunftgeprägte Argumente, und der Kampf um New York eskalierte allmählich zu einem Kampf der Gefühle, in dem eine Bevölkerung, die unter dem Eindruck stand, dass ihre Stadt, ihre Wohnungen und ihre öffentlichen Transportnetze bereits aus allen Nähten platzten, und die über das zunehmende Wohlstandsgefälle verärgert war, gegen das Gespenst eines abwesenden Monopolisten und den reichsten Menschen der Welt antreten musste.
Bei einer Anhörung vor dem Stadtrat im Dezember bekam Amazon die erste Gelegenheit, sich seinen Kritikern zu stellen. Mindestens ein Berater wollte Jay Carney ins Rennen schicken, da er glaubte, dass dieser als früheres Mitglied der Obama-Regierung den lokalen Demokraten sympathisch wäre. Doch Amazon lehnte das ab, da man fand, das würde das Spektakel noch vergrößern. Statt Carney sollte Brian Husemann, der Vice President of Public Policy, zusammen mit Holly Sullivan auftreten.
Die beiden bereiteten sich in Amazons Niederlassung in Washington, D. C., auf die Anhörung vor. Sullivan war dynamisch und schlagfertig, doch die Berater fürchteten, dass Husemann zugeknöpft und arrogant wirkte. Er bestand darauf, seine einleitenden Worte selbst zu verfassen, darunter die abgenutzte Amazon-Phrase: »Wir sind stolz darauf, das kundenorientierteste Unternehmen der Welt zu sein.« Die Berater baten ihn, den Satz zu streichen – der Stadtrat wollte wissen, was Amazon für den Bezirk tun konnte, nicht für den Planeten. Doch er bestand darauf.
Die Anhörung am 12. Dezember 2018 war ein Desaster. Drei Stunden lang wechselten sich Angehörige des Stadtrats dabei ab, die beiden in Bezug auf alles in die Zange zu nehmen, angefangen dabei, warum der reiche Tech-Gigant Steueranreize brauchte, bis hin zum Verkauf von Gesichtserkennungstechnologie durch AWS an die Einwanderungs- und Zollbehörde. Ein paar Breitseiten wurden auch auf sie abgefeuert. »Warum brauchen Sie einen Heliport?«, fragte Corey Johnson, der Sprecher des Stadtrats irgendwann. Nachdem Husemann ausweichend geantwortet hatte, fuhr Johnson ihn an: »Begreifen Sie eigentlich, wie abgehoben das für normale New Yorker ist?!« Unterdessen entfalteten wütende Demonstranten auf dem Balkon Anti-Amazon-Transparente (»Amazon liefert Lügen!«) und jubelten.
Nach der desaströsen Sitzung konzentrierte sich Amazon wieder auf die Methoden des altmodischen Straßenwahlkampfs. Holly Sullivan und ihr langjähriger Kollege aus der Bundeshauptstadt, der sanftmütige und introvertierte Direktor der Public-Policy-Abteilung Braden Cox, klapperten ganz Queens ab und trafen sich mit Bürgerinitiativen und Lokalbeamten. Schoettler lud zwanzig Inhaber von Kleinbetrieben zum Abendessen in ein italienisches Restaurant in Long Island City ein. 277 Die Firma schickte ihre Unterstützer zu Protestveranstaltungen und machte Umfragen, die zeigten, dass die Mehrheit der Bevölkerung den Plan unterstützte. In den Briefkästen der Bewohner von Queens landeten Flugblätter mit den Worten »Ein gutes neues Jahr wünschen Ihnen Ihre zukünftigen Nachbarn von Amazon«, in denen die zu erwartenden Jobs, die Ausbildungsplätze und die Steuereinnahmen betont wurden, die Amazon generieren würde.
Doch als sich die Debatte ins neue Jahr hinein ausdehnte, verschmolz sie allmählich mit einem anderen und potenziell gefährlichen Thema: Gewerkschaften. New York City war schlicht und einfach eine Gewerkschaftsstadt. Amazon hatte sich in seinen Logistikzentren mit Händen und Füßen gegen sämtliche Versuche gewerkschaftlicher Organisation gewehrt, und Bezos hatte gegenüber David Niekerk, dem Vice President der Personalabteilung, erwähnt, dass eine unzufriedene und verhärtete Arbeiterschaft eine der größten Gefahren für das Unternehmen darstelle.
Doch Amazon verfügte sogar über gewerkschaftliche Unterstützung in der Stadt: die einflussreichen Gewerkschaften für Bau und Gewerbe, die das Unternehmen auch in Seattle unterstützten und deren Mitglieder die neuen Gebäude errichten würden. Andere Gewerkschaften, denen es in den letzten zehn Jahren nicht gelungen war, die Arbeiter in den Whole-Foods-Supermärkten und den Amazon-Logistikzentren zu organisieren, sahen allerdings ihre Chance gekommen. Amazon befand sich jetzt auf ihrem Terrain.
Obwohl das alles nicht viel mit den hoch qualifizierten Fachkräften zu tun hatte, die sich in Amazons neuen Büros tummeln würden, änderte dies nichts. Ein dynamischer politischer Kampf nahm nun Fahrt auf und wurde zum Selbstläufer.
Eine zweite, den Plänen von Amazon in Queens gewidmete Anhörung vor dem Stadtrat fand am 30. Januar 2019 statt. Mit verkrampfter und missmutiger Miene übernahm Huseman den größten Teil der Wortbeiträge und äußerte eine verklausulierte Drohung. »Wir möchten in eine Kommune investieren, in der man uns haben will«, erklärte er dem Stadtrat. Dann ließen Huseman und Sullivan weitere drei Stunden mit zermürbenden Fragen und launigen Anekdoten über die historische Bedeutung von Gewerkschaften für New York City über sich ergehen.
Schließlich stellte Corey Johnson, der Sprecher des Stadtrats, eine pointierte Frage: Würde sich Amazon zu Neutralität verpflichten, wenn seine Arbeiter in New York City sich organisieren wollten?
»Wir respektieren das Recht aller Beschäftigten, sich entsprechend staatlicher und einzelstaatlicher Gesetze zu organisieren, wenn sie das wünschen« , war die juristische Standardklausel, die Huseman hätte zitieren sollen – doch er tat es nicht.
Stattdessen polterte er los: »Nein, dem würden wir nicht zustimmen«, und die Schlacht war verloren. Als Bürgermeister Bill de Blasio bei einer Pressekonferenz später am selben Tag zu dem Thema befragt wurde, tönte er: »Willkommen in New York City. 278 Wir sind eine Gewerkschaftsstadt.« Und fügte hinzu: »Es wird enormen Druck auf Amazon geben, gewerkschaftliche Organisation zuzulassen, und ich werde einer derjenigen sein, die diesen Druck ausüben.«
Am 8. Februar meldete die Washington Post , dass das Unternehmen seine Pläne für New York überdenke. 279 »Die Frage ist, ob es sich lohnt, wenn die Politiker in New York das Projekt nicht wollen, vor allem nachdem die Menschen in Virginia und in Nashville so aufgeschlossen waren«, erklärte eine anonyme Quelle, bei der es sich höchstwahrscheinlich um jemanden aus der Public-Relations-Abteilung von Amazon handelte, gegenüber der Zeitung. 280
Vor Ort in Queens wurden die Leute von Amazons HQ2-Team und deren Lobbyisten im Unklaren gelassen und glaubten, ein Vertragsabschluss stünde unmittelbar bevor. Am 13. Februar trafen sich Huseman, Sullivan und Braden Cox im Büro des Gouverneurs mit Vertretern mehrerer Gewerkschaften, um die Grundlage für ein Übereinkommen auszuarbeiten, das es Amazon-Arbeitern in New York City gestatten würde, »faire Abstimmungen« 281 darüber abzuhalten, ob sie sich gewerkschaftlich organisieren wollten. Bürgermeister de Blasio sollte später sagen: »Es hatte den Anschein, als ginge etwas voran.«
Dann, am Morgen des Valentinstags, am 14. Februar, hielten Cox und andere Amazon-Mitarbeiter eine Präsentation und beantworteten Fragen von Mitgliedern des im Großen und Ganzen wohlwollend gesinnten HQ2-Beratungsgremiums der Kommune im Brewster Building in Queens. Anwesend waren auch leitende Mitarbeiter von Bürgermeister und Gouverneur, ebenfalls nichts ahnend.
Hinterher, in der U-Bahn auf dem Rückweg nach Manhattan, gingen bei Mitgliedern der Amazon-Truppe Textnachrichten ein, in denen sie davon unterrichtet wurden, dass das Unternehmen soeben seiner PR-Firma SKDK gekündigt hatte. Das war seltsam. Etwa eine Viertelstunde später liefen ihre Smartphones heiß. Amazon hatte verkündet, den Plan, einen Bürokomplex in Long Island City zu bauen, nicht weiter zu verfolgen.
Jay Carney rief de Blasio und Cuomo an, um ihnen die Nachricht zu überbringen. Ihre Reaktionen unterschieden sich sowohl am Telefon als auch später in der Öffentlichkeit: Der Bürgermeister tobte vor Enttäuschung, während der Gouverneur versuchte, um eine zweite Chance zu feilschen. Am 15. meldete sich ein wütender de Blasio im lokalen Radiosender WNYC und schimpfte, Amazons Schritt sei »respektlos gegenüber den Menschen von New York City … Aus heiterem Himmel einen Anruf zu bekommen: ›Tschüs … wir nehmen jetzt unseren Ball und gehen nach Hause‹ – das ist absolut unangemessen. So etwas habe ich noch nie erlebt.« 282
Obwohl Carney ihn davon abzuhalten versuchte, rang Cuomo darum, den Deal zu retten. Achtzig Geschäftsleute, Gewerkschaftsführer und Politiker unterzeichneten einen ganzseitigen Brief an das Unternehmen, eine unterwürfige Entschuldigung, mit der sie um eine zweite Chance bettelten und die als Anzeige in der New York Times erschien. »Wir wissen, dass die öffentliche Debatte, die auf die Ankündigung des Projekts auf Long Island City erfolgte, grob und nicht besonders freundlich war«, hieß es da. »In New York sind die Meinungen klar – und manchmal auch harsch. Für uns ist das ein Teil des Charmes von New York!« Angeblich telefonierte Cuomo auch mit Bezos, doch der war nicht umzustimmen. 283
Viele bekamen ihr Fett weg. Bürgermeister und Gouverneur hatten Amazon nach Queens gelockt, ohne sich die Unterstützung der lokalen Politiker zu sichern. Doch die Lokalpolitiker waren auch nicht ohne Schuld; sie hatten den Widerstand auf der falschen Behauptung begründet, Amazon bekäme ein unmoralisches Geschenk von 2,5 Milliarden Dollar statt eines Rabatts auf die erheblichen Steuerzahlungen, die das Unternehmen im Lauf von zwanzig Jahren leisten würde. Sie spielten auch mit den tief verwurzelten Ängsten, dass der Charakter einer geliebten Gegend und der angrenzenden Viertel sich verändern werde. Doch ein großer Teil von Long Island City war bereits vor Jahren gentrifiziert worden, und die meisten günstigen Mietwohnungen in der Gegend und den angrenzenden Vierteln unterlagen entweder der Mietpreisbindung oder gehörten großen Sozialwohnungsgenossenschaften, deren Mieter vor steigenden Mieten geschützt waren. Die Alternative zu steigenden Wohnungspreisen ist auch selten Stagnation; meist sind es sinkende Wohnungspreise, geringere Lebenshaltungskosten und Hoffnungslosigkeit. Indem man Amazon ablehnte, entging einem Stadtbezirk in Randlage, in dem bereits eine radikale Umwälzung im Gang war, ein wirtschaftlicher Schub, der indirekt auch seinen ärmeren Bewohnern hätte zugutekommen können.
Doch auch die Amazon-Manager mussten Kritik für das Debakel einstecken. Unerfahren in der Kampfkunst der Lokalpolitik von New York City zählten sie auf den Rückhalt durch zwei hohe Beamte, die meist überhaupt nicht miteinander auskamen, darunter ein Bürgermeister, dessen Unterstützung für das Projekt »praktisch schon besiegelte, dass der Rest des Stadtrats sich dagegenstellen würde«, wie Carney später zugab.
Darüber hinaus waren ihre Synapsen durch fünfzehn Monate des Bettelns – vonseiten der Städte und ihrer eigenen Kollegen – während des HQ2-Verfahrens deformiert worden. Bezos und sein S-Team malten sich aus, sie würden als stolze Eroberer empfangen, und waren vollkommen naiv in New Yorks Fangstricke aus Regelungen, Gewerkschaftspolitik und Bürgerbeteiligung getappt. Es schien ihnen herzlich egal zu sein, was man brauchte, um in New York City eine »Betriebslizenz« zu erhalten. Und im Gegensatz zu Elon Musk, der die Suche nach dem Standort für seine Gigafactory persönlich geleitet hatte, war Bezos in dem öffentlichen Verfahren unsichtbar geblieben und hatte versucht, seine Absichten unter Verschluss zu halten – obwohl er alles minuziös aus der Ferne steuerte und die Journalisten ohnehin seine persönlichen Vorlieben errieten, indem sie sein Privatflugzeug im Auge behielten, um zu sehen, welche der HQ2-Kandidatenstädte er wohl besuchte. 284
Typischerweise hielt sich Amazon auch bedeckt hinsichtlich der Gründe für seinen Rückzug, sondern führte Widerstand vonseiten lokaler Politiker und deren Wählerschaft ins Feld. »Die Entscheidung, sich bei diesem speziellen Projekt von New York City abzuwenden, beruhte in Wirklichkeit auf der Frage: ›Hatten wir die langfristige politische Unterstützung?‹«, wie Holly Sullivan auf der Konferenz 2019 sagte. »Wir bekamen mehr und mehr das Gefühl, dass wir sie nicht hatten.«
Doch einer der speziellen Knackpunkte war natürlich die Erwähnung von Gewerkschaften, die bei Jeff Bezos und seinen Kollegen die gleiche Abwehrreaktion ausgelöst hatte, die sie schon während des gesamten Zeitstrahls von Amazons Bestehen an den Tag gelegt hatten – im Jahr 2000 in einem Callcenter in Seattle, 2013 in deutschen Logistikzentren und zuletzt in Frankreich, zu Beginn der tödlichen Covid-19-Pandemie. In all diesen Fällen, wenn gewerkschaftliche Organisation und Arbeiterstreiks aufs Tapet kamen, kappte Amazon entweder seine Erweiterungspläne in der entsprechenden Region, machte vorübergehend dicht oder schloss die Niederlassung ganz. Trotzdem beharrte Amazon später darauf, dass Bedenken wegen gewerkschaftlicher Organisation nichts mit dem Rückzug des Unternehmens aus New York zu tun gehabt hätten.
Intern folgte bei Amazon nur wenig Selbstreflexion auf das Fiasko von New York City. Das D.C.-Team verfasste kein »Fehlerprotokoll« – wie es häufig der Fall ist, wenn Bezos zum Teil selbst für einen Fehler verantwortlich ist. Brian Huseman schaffte es irgendwie, nicht dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden, dass er durch seine Stümperei die Zustimmung der Anwohner in Queens verspielt hatte, und behielt seinen Posten. Holly Sullivan, die unangefochtene Heldin des Verfahrens, wurde zur Leiterin der globalen Entwicklung und später zum Vice President befördert. Nur der sanftmütige Braden Cox schien Federn lassen zu müssen; bei einer Umstrukturierung verlor er schlagartig die meisten seiner direkten Untergebenen und verließ kurz darauf die Firma. Viele seiner Kollegen waren der Meinung, dass man ihn zu Unrecht zum Sündenbock gemacht hatte.
In den Folgejahren erweiterte Amazon seine Büroflächen im Stadtteil Hudson Yards in Midtown Manhattan 285 und verkündete sein Vorhaben, weitere 2000 Mitarbeiter in New York City einzustellen – erheblich weniger als die einst für Long Island City eingeplanten 40.000. Das Unternehmen wuchs auch in Städten wie Bellevue, Austin, Dallas, Denver, Phoenix und San Diego – jedoch weder in Seattle noch in Queens. Nachdem sie ein selbst fabriziertes Desaster durchlitten hatte, stürzte sich die Firma wieder auf ihre Geschäfte. Online-Käufe, Cloud Computing und Prime-Videostreams schienen von den unerwarteten Widrigkeiten, die plötzlich auf Amazon zurollten, völlig unberührt zu bleiben. Das war die eigentliche Lehre aus der HQ2-Saga: Amazon kam der Unbesiegbarkeit gefährlich nahe.