Pandemie
D ie jüngsten Herausforderungen schienen für Amazon weiter nichts als Bodenschwellen zu sein. Der HQ2-Fehlschlag, der Skandal in Bezos’ Privatleben, der entgangene JEDI-Vertrag sowie die Kämpfe mit Donald Trump und den Kartellbehörden – all das konnte Amazons unaufhaltsamen Aufstieg kaum bremsen. Jeff Bezos und sein Weltreich schienen zumindest momentan völlig unberührt von den Naturgesetzen der Wirtschaft zu agieren, die das Wachstum großer Unternehmen verlangsamten, ihre Handlungsfähigkeit einschränkten und das Urteilsvermögen unermesslich reicher Führungskräfte trübten.
Natürlich tauchten neue Hindernisse auf, doch Amazon umschiffte sie gekonnt. Am 20. September 2019 verließen Tausende Amazon-Beschäftigte ihre Schreibtische, um sich an der Seite von IT-Leuten und Studenten aus der ganzen Welt in einem von der jugendlichen Aktivistin Greta Thunberg organisierten Klimastreik zu verbünden. In Seattle versammelten sie sich um 11:30 Uhr vor den Spheres und hielten Schilder in die Höhe: »Amazon, lasst uns die Messlatte anheben, nicht die Temperatur« und »Kein AWS für Öl und Gas«, während sie verlangten, dass das Unternehmen sein Ziel hinterfragen müsse, immer mehr Auswahl, schnellere Lieferung und Kundenzufriedenheit anzustreben, ohne die Kosten für die Umwelt in Betracht zu ziehen.
Einen Tag zuvor hatte Jeff Bezos auf einer Pressekonferenz in Washington das Klimaschutzversprechen »Climate Pledge« vorgestellt und versprochen, dass Amazon bis 2040 seine Kohlendioxidemissionen auf Netto-Null reduzieren werde, also zehn Jahre vor den ehrgeizigsten Zielen des Pariser Klimaabkommens. Unternehmen wie Verizon, Microsoft und Mercedes-Benz sollten sich der Initiative anschließen, zudem kaufte Amazon die Namensrechte für eine neue Sportarena in Seattle und nannte sie »Climate Pledge Arena«.
Weltweit berichteten die Medien über die Protestaktion der Beschäftigten, und das in einem weit positiveren Tonfall als über die vagen und ehrgeizigen Versprechen von Amazons Climate Pledge. Der Kontrast läutete das Aufkommen einer neuen Form von politischer Macht ein, die von den Mitarbeitern der Tech-Firmen ausgeübt wurde und nicht von ihren allmächtigen Firmenbossen. Diese gefährliche Opposition innerhalb der eigenen Reihen abzuwehren sollte für Amazon während der unerwarteten Belastungen des bevorstehenden Jahres zu einer der größten Herausforderungen werden. Allerdings legte sich das Interesse an Amazons erheblichem CO 2 -Ausstoß bald wieder. Die Firma hatte der Welt ja versichert, dass sie etwas dagegen zu tun gedachte.
Bezos selbst schwebte in sicherem Abstand über jeglicher Kritik an Amazon und seinem Einfluss auf die Gesellschaft und den ganzen Planeten. Im November fand sich die Elite aus Medien und Politik zu einer festlichen Veranstaltung in der Smithsonian National Portrait Gallery in der Bundeshauptstadt ein, um die Neuerwerbungen in deren Sammlung von Porträts verdienstvoller amerikanischer Bürger zu würdigen. Bezos, einer der sechs Geehrten, brachte eine große Entourage mit, darunter Angehörige des Amazon-Vorstands, leitende Mitarbeiter der Washington Post, seine Eltern, seine Kinder und seine Freundin Lauren Sánchez.
In seiner Rede brachte Bezos einige seiner Standardelemente unter, wie etwa Witze über das Fire Phone und seine verspätete Erkenntnis in den Anfängen von Amazon, dass sie sich lieber Packtische besorgen sollten, statt die Bücher kniend auf dem Fußboden versandfertig zu machen. Das Publikum lachte mit. Doch es war die außergewöhnliche Einführungsrede seines ältesten Sohnes Preston, der eine Facette des Milliardärs beschrieb, die der Allgemeinheit vermutlich unbekannt war:
In meiner Erinnerung war ich etwa acht Jahre alt, saß in der Küche und sah ihm dabei zu, wie er langsam ein Stück Draht um einen Nagel wickelte. Dann nahm er die Drahtenden und hielt sie an eine Batterie. Direkt danach führte er den Nagel an ein Metallstück, und sie blieben aneinander haften. Ich muss schwer beeindruckt ausgesehen haben, als er ein Whiteboard aus dem Keller holte und versuchte, mir, einem Achtjährigen, so gut es ging die absolute Magie zu erklären, die einem Nagel magnetische Kräfte verleihen kann … Diese Erinnerung ist deshalb etwas so Besonderes für mich, weil er mir vielleicht schon ein Dutzend Mal zuvor gezeigt hatte, wie das funktioniert. Doch dieses eine Mal blieb es hängen … Es war diese liebevolle Fürsorge, dieses freudige Streben nach Wissen und die geduldige Beharrlichkeit, die das ermöglicht haben. Das sind die Eigenschaften, die ich an meinem Dad liebe. Das ist es, was ihn so besonders macht. Und ich hoffe, genau wegen dieser Qualitäten wird man sich eines Tages an ihn erinnern.
Bezos wirkte aufrichtig gerührt. »Jetzt muss ich mich erst mal ein bisschen fassen«, sagte er, nachdem er ans Rednerpult getreten war. »Ich wusste nicht, was Preston sagen würde. Er wollte es mir vorher nicht verraten. Es sollte eine Überraschung für mich sein.« Es war ein spontaner Moment für einen Vater und Business-Titanen, der normalerweise anstrebte, jeden öffentlichen Auftritt im Voraus schriftlich niederzulegen und durchzuspielen.
Zwei Monate später sollte Bezos eine weitere Gelegenheit haben, sein öffentliches Profil zu pflegen, das sich auf interessante und unerwartete Art entwickelte. Mitte Januar 2020 besuchte er Indien, seine erste Reise in das Land seit seiner Public-Relations-Aktion im Jahr 2014, als er oben auf einem Lastwagen einen riesigen Scheck präsentiert hatte. Seit damals hatte sich vieles verändert. Auf dieser Tour posierten Bezos und Lauren Sánchez vor dem Tadsch Mahal, bezeugten ihren Respekt am Grab von Mahatma Gandhi und erschienen in modischer indischer Abendkleidung zu einer Premiere von Prime Video in Mumbai. Amazon war seit fünf Jahren in Indien präsent, doch Bezos behauptete immer wieder, dass die Firma dort noch in den Startlöchern stehe. »Dieses Land hat etwas Besonderes«, sagte Bezos zu seinem Senior Vice President und früheren technischen Berater Amit Agarwal auf der Bühne eines Amazon-Gipfels für unabhängige Anbieter. »Dies wird das Jahrhundert Indiens werden.«
Doch diesmal waren sein typischer Techno-Optimismus und seine »geduldige Beharrlichkeit«, wie Preston Bezos es genannt hatte, nicht annähernd so willkommen. Verbände lokaler Geschäftsinhaber protestierten gegen seine Ankunft, nannten ihn einen »Wirtschaftsterroristen« und schwenkten Transparente, auf denen es hieß: »Jeff Bezos, hau ab!« Zwei Tage vor seiner Ankunft hatte die indische Wettbewerbskommission eine neue Überprüfung wettbewerbswidriger Rabatte bei Amazon und seinem größten Rivalen angekündigt, dem zu Walmart gehörenden Unternehmen Flipkart. Gleichzeitig attackierten Regierungsminister Bezos wegen Artikeln in seiner Zeitung, der Washington Post, über die Verfolgung religiöser und ethnischer Minderheiten in Indien. Premierminister Narendra Modi lehnte eine Begegnung mit Bezos rundheraus ab, und viele Beobachter glaubten, die Regierung stehe stillschweigend hinter den Bestrebungen zum Aufbau eines Internethandels von Mukesh Ambani, der reichsten Person Indiens und dem Boss des immer weiter wachsenden Telekommunikations- und Einzelhandelskonzerns Reliance Industries.
Dennoch schien nichts von den hartnäckigen Herausforderungen in Indien oder anderswo Amazons Unternehmensleistung im Ganzen zu beeinträchtigen. Am 30. Januar, nachdem Bezos in die USA zurückgekehrt war, legte das Unternehmen einen sagenhaften Geschäftsbericht vor. Die Zusicherung, Prime-Mitglieder einen Tag nach Eingang ihrer Bestellung zu beliefern statt nach zwei Tagen, hatte die Verkäufe gewaltig hochschnellen lassen, und die anhaltende Performance von AWS sowie die nachhaltige Leistung des Werbegeschäfts, der Goldgrube im eigenen Garten, hatten 3,3 Milliarden Dollar Gewinn abgeworfen, weit über den Erwartungen der Wall Street. Amazon verkündete zudem, dass es mittlerweile weltweit 150 Millionen Prime-Mitglieder gab, 396 ein Plus von 100 Millionen gegenüber dem Vorjahr, und dass das Unternehmen etwa 800.000 Personen beschäftige, womit es seine Stellung als zweitgrößter privater Arbeitgeber in den Vereinigten Staaten behaupten konnte, übertroffen lediglich von Walmart.
Im Anschluss an die Veröffentlichung der Quartalszahlen trieben die Investoren den Preis von Amazon-Aktien in die Höhe; der Börsenwert des Unternehmens überschritt die magische Schwelle von einer Billion Dollar und sollte sich wenige Wochen später dauerhaft auf dieser Höhe einpendeln. Es hatte fast den Anschein, als könnte die ganze Geschichte hier ein Ende nehmen – Jeff Bezos’ Reinvermögen betrug atemberaubende 124 Milliarden Dollar, und Amazons Aura der Unbesiegbarkeit wirkte unangreifbarer denn je. Doch genau in diesem Moment erblickten die Führungskräfte zum ersten Mal den mythologischen schwarzen Schwan – das seltene und unvorhergesehene Verhängnis –, der seine Schwingen über der verwüsteten Landschaft ausbreitete, die schon bald für das Jahr 2020 stehen sollte.
Dr. Ian Lipkin, der Epidemiologe von der Columbia University, bekannt als »Meistervirusjäger«, nachdem er den Ausbruch des West-Nil-Virus Ende der Neunzigerjahre und die SARS-Epidemie im Jahr 2003 zurückverfolgt hatte, besaß genug Erfahrung, um beunruhigt zu sein. Auf einer Chinareise im Januar sah er in Peking und Guangzhou verlassene Straßen und leere Geschäfte, während die Krankenhäuser einen Ansturm von Patienten erlebten. Das neue, hoch ansteckende Coronavirus, das die Krankheit Covid-19 auslöste, war dem Vernehmen nach auf einem offenen Markt für Fleisch, Fisch und Meeresfrüchte in der Stadt Wuhan ausgebrochen und hatte sich binnen Wochen über das Land ausgebreitet.
Am 5. Februar, dem Tag, nachdem er mit dem letzten Direktflug von Peking nach Newark zurückgekehrt war und sich in seiner Wohnung an Manhattans Upper West Side in Quarantäne begeben hatte, bekam Lipkin einen Anruf von Katie Hughes, einer langjährigen Managerin für Gesundheit und Sicherheit bei Amazon. Genau wie andere US-Firmen hatte auch Amazon die Reisen seiner Mitarbeiter nach und von China eingeschränkt, doch nun beobachtete man die Ausbreitung des Virus in Italien, wo Amazon etliche Lagerhäuser und Frachtverteilzentren unterhielt. Hughes fragte Lipkin, ob er Amazon helfen könne, die Risiken für das Unternehmen zu analysieren und den heraufziehenden Sturm zu überstehen.
Lipkin war Prime-Mitglied und bewunderte das Unternehmen, auch wenn er dessen Auswirkungen auf kleinere Händler bedauerte und versuchte, so oft wie möglich in Läden vor Ort einzukaufen. Er wusste auch genug über die neue Infektion, um zu erkennen, dass die Amazon-Beschäftigten, falls seine schlimmsten Befürchtungen zutrafen, einer großen Gefahr gegenüberstanden. Andere Firmen konnten schließen und ihre Beschäftigten nach Hause schicken. Amazons Hunderte Logistikzentren mit ihren unzähligen Mitarbeitern weltweit hatten das Potenzial, als Petrischalen für ein ansteckendes Virus zu fungieren, während das Lieferpersonal tagaus, tagein mit der Allgemeinheit in Kontakt kam. Lipkin willigte ein, als Berater zu fungieren.
In regelmäßigen Online-Gesprächen mit den Amazon-Teams für Personalentwicklung und das operative Geschäft erteilte Lipkin im Februar 2020 Ratschläge zu allem, angefangen damit, wie man Oberflächen in den Lagerhäusern gründlich säubert und die Luft mit sogenannten MERV-13-Filtern reinigt, bis hin zu der Anordnung, Masken und Handschuhe zu tragen und an jedem Standort Stationen zum Messen der Körpertemperatur einzurichten. »Diese Leute orientieren sich an Mathematik und Technologie, und wenn man ihnen einen Vorschlag macht, der streng wissenschaftlich und evidenzbasiert ist, setzen sie ihn um«, sagte Lipkin. »Die Kostenfrage hat nie eine Rolle gespielt, was ich nicht von jeder Gruppe sagen kann, für die ich gearbeitet habe.«
Am 27. Februar sprach Lipkin per Video mit dem gesamten S-Team. Er berichtete Bezos und den anderen Führungskräften von seinen jüngsten Reisen durch China und schilderte die Gefahren, die auf Amazon-Mitarbeiter zukommen könnten. Obwohl es noch einige Wochen dauern sollte, bis die Trump-Regierung den landesweiten Notstand erklärte und der epidemiologische Fachjargon Eingang in den Wortschatz vieler Amerikaner fand, schienen die Amazon-Manager bereits recht gut informiert zu sein. Sie stellten ihm gezielte Fragen nach der Inkubationszeit des Virus und seinem R-Null-Potenzial, also der Zahl von Personen, die von einem einzigen Individuum angesteckt werden können. Lipkin erinnerte sich nicht daran, was Bezos gefragt hat, doch er meinte: »Ich habe den Mann noch vor Augen. Er sah ziemlich fit aus.«
Am Tag nach der Videokonferenz des S-Teams mit Lipkin stellte Amazon jegliche nicht unbedingt erforderliche Reisetätigkeit seiner Mitarbeiter ein. 397 Nachdem am 4. März ein Angestellter der Niederlassung in Seattle mit dem Virus diagnostiziert worden war, bot die Firma den Büroangestellten an, zwei Wochen lang von zu Hause aus zu arbeiten, 398 und verlängerte dann mehrmals die Frist für die Rückkehr ins Büro, ehe schließlich alle angewiesen wurden, für den Rest des Jahres zu Hause zu bleiben. 399 Eine Woche später strich Amazon sämtliche persönlich geführten Bewerbungsgespräche 400 und ging mit den meisten Bewerbern zu virtuellen Gesprächen über, bei denen die hauseigene Videokonferenz-Software Amazon Chime verwendet wurde. Diese Schritte wiesen auf eine tiefe Kluft sowie eine der größten Herausforderungen für Amazon hin: Das Unternehmen gestattete Büroangestellten den Übergang zu sicherer Arbeit im Homeoffice, während es seine Lagermitarbeiter als unerlässlich für den Geschäftsbetrieb erachtete und sie damit einem größeren Risiko aussetzte.
Ab Anfang März traf sich eine Untergruppe des S-Teams jeden Nachmittag um 16 Uhr nach Seattler Zeit per Video, um Amazons Umgang mit der Krise zu besprechen. Geleitet wurden die Treffen von der Personalchefin Beth Galetti, flankiert von Jeff Wilke, Andy Jassy, dem Verantwortlichen für das operative Geschäft Dave Clark und Bezos. Normalerweise investierte der Amazon-Boss seine Zeit in Projekte, deren Potenzial sich erst etliche Jahre später entfalten sollte, doch nun richtete er den Blick konzentriert auf die dringenden Anforderungen der Gegenwart. Er stellte Fragen, machte Bemerkungen und initiierte Brainstormings darüber, wie man mithilfe von Technologie die Mitarbeiter schützen und gleichzeitig die steigende Nachfrage der unter Quarantäne gestellten Kunden decken könne.
Außerdem erhöhte er seine eigene Sichtbarkeit. »Liebe Amazonianer«, schrieb er in einem Brief an die ganze Firma am 21. März. »Auf einmal läuft nicht mehr alles wie gewohnt, 401 denn wir leben in einer Zeit mit großen Belastungen und voller Ungewissheit. Es ist aber auch eine Zeit, in der unsere Arbeit von zentraler Bedeutung ist … Die Menschen verlassen sich auf uns.« Der Brief skizzierte einige der bei Amazon früh eingeleiteten Maßnahmen für den Gesundheitsschutz, darunter häufigere Reinigungsarbeiten und die Versuche, trotz allgemeiner Knappheit Masken für die Beschäftigten zu besorgen. Er kündigte auch an, dass Amazon 100.000 Mitarbeiter in den Lagerhäusern einstellen und den Stundenlohn vorübergehend um zwei Dollar anheben würde, gepaart mit einer Erhöhung der Überstundenvergütung und der Gewährung unbezahlten Urlaubs für unbegrenzte Zeit. »Ich fokussiere meine Zeit und meine Gedanken momentan voll und ganz auf Covid-19 und darauf, wie Amazon seiner Rolle am besten gerecht werden kann«, schrieb er.
Nachdem er viele seiner täglichen Aktivitäten jahrelang unter Verschluss gehalten hatte, ging er jetzt offensiv damit an die Öffentlichkeit. Am 26. März postete er auf Instagram ein Foto von sich selbst, wie er auf seiner Farm in West Texas per Videochat mit Tedros Adhanom Ghebreyesus plauderte, dem Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation. 402 Am nächsten Tag konnte man ihn auf einem Bild bewundern, auf dem er mit Jay Inslee sprach, dem Gouverneur des Bundesstaats Washington. 403 Am 8. April twitterte Amazon ein Video, in dem man den CEO mit Maske und hochgekrempelten Hemdsärmeln durch ein Logistikzentrum und einen Whole-Foods-Laden in der Nähe von Dallas spazieren sah 404 – das erste Mal seit Jahren, dass er sich in einem Lagerhaus umgesehen hatte, wie mehrere Mitarbeiter aus dem operativen Geschäft bestätigten. Gleichzeitig ließ er seine Mittwochsbesprechungen bei der Washington Post und bei Blue Origin ausfallen. Die dortige Führungsriege erklärte, in der Frühphase der Pandemie hätten sie ihn wochenlang nicht zu Gesicht bekommen.
Bezos’ gesteigerte öffentliche Sichtbarkeit war zum Teil der Schritt eines Firmenchefs, der in angespannten Zeiten Führungsqualitäten demonstrieren wollte. Als sich das Virus weiter ausbreitete, folgte die Angst. Die Fehlzeiten in den Logistikzentren schossen nach oben; manchen Schätzungen zufolge erschienen 30 Prozent der Amazon-Beschäftigten nicht mehr zur Arbeit, 405 da sie selbst an Covid erkrankt waren oder von Kollegen, Freunden oder Verwandten gehört hatten, die sich die Krankheit zugezogen hatten, und daher fürchteten, sie könnten die nächsten sein. 406 Diesmal würden die langfristigen Ziele des Climate Pledge keinen Ausweg bieten. Amazon musste gleichzeitig mit hohen Fehlzeiten und einer explodierenden Kundennachfrage zurechtkommen und im Handumdrehen viele der lange eingeschliffenen Abläufe in der riesigen Lieferkette von Amazon verändern.
In dieser Hinsicht befand sich Amazon in einer beneidenswerten Lage. Dave Clark, der ehemalige Musiklehrer mit der Brille, hatte sich als einzigartiges Talent dafür erwiesen, große, komplexe Systeme zu entwickeln wie das Netzwerk von Lagerhäusern mit ihren Kiva-Robotern und die hauseigene Transportabteilung Amazon Logistics, die mittlerweile weltweit für fast die Hälfte 407 und in den USA für zwei Drittel 408 aller Amazon-Lieferungen verantwortlich war. Wenn man mit Lieferketten Kriege gewann, wie es in dem alten Militärsprichwort hieß, dann hatte Bezos einen der erfahrensten Generäle der Welt an seiner Seite.
Bis zum 4. April hatten Clark und sein Team, Lipkins Rat entsprechend, Fiebermessstationen in den Logistik-, den Sortier- und den Frachtverteilzentren eingerichtet. Anstatt die verbreiteten Infrarotthermometer zu benutzen, die man in der Hand halten musste und bei deren Verwendung daher in Schutzkleidung gehüllte Mitarbeiter den Beschäftigten beim Betreten der Gebäude in nächster Nähe hätten gegenübertreten müssen, gab Amazon Millionen für den Ankauf von Wärmebildkameras aus, die dann an den Eingängen platziert wurden, um die Mitarbeiter aus der Distanz auf Fieber zu testen. Die Manager bestellten auch gewaltige Mengen an Masken und arbeiteten sich durch Hunderte E-Mails von Anbietern, die alle aus der plötzlichen Not der Geschäftswelt Profit schlagen wollten. »Auf einmal schien jeder einen Cousin oder Onkel, eine Tante oder Freundin der Familie zu haben, der oder die im Besitz einer Maskenfabrik in China war«, erinnerte sich Clark.
Um seine Vorräte aufzustocken, sah sich Amazon auch in seinen eigenen Hallen um und nahm die 3-D-Drucker aus seinem Prime-Air-Drohnenlabor wieder in Betrieb, um Plastikvisiere herzustellen. 409 Amazon gab an, man habe bis Anfang April Millionen Masken an die Mitarbeiter verteilt und spende N95-Masken an medizinisches Personal im Pandemieeinsatz. 410 »Es war eine verrückte Zeit«, sagte Clark. »Jeder Tag dauerte mindestens eine Woche.«
In der ganzen Aufregung sah sich das Unternehmen gezwungen, entgegen seinen gut eingespielten Wachstumsinstinkten zu handeln. Man zog Werbeaktionen zum Mutter- und Vatertag ebenso zurück 411 wie die Empfehlungen auf der Amazon-Website, die den Kunden anzeigten, was andere mit ähnlicher Einkaufshistorie gekauft hatten. Zudem wurde der Prime Day auf den Herbst verschoben, um den Druck von den Lagern zu nehmen. Auch wurde angekündigt, über einige kritische Wochen im Frühjahr hinweg lediglich »Artikel des täglichen Bedarfs, medizinische Güter und andere stark nachgefragte Produkte« 412 von externen Händlern zu akzeptieren, die an Amazons Versandprogramm für Drittanbieter, Fulfillment by Amazon (FBA), teilnahmen.
Dieses Verbot verärgerte einige von FBA abhängige Anbieter und löste Vorwürfe aus, wonach die Firma sich selbst unfaire Vorteile verschaffe, indem sie weiter ihre eigenen Lagerbestände an nicht lebenswichtigen Waren verkaufte, wie zum Beispiel Hängematten und Aquarien. (Amazon räumte später gegenüber dem Kartellausschuss ein, dass es ein Fehler gewesen war, diese Waren zu verkaufen.) 413 Das Verbot blieb bis Mitte April bestehen, als Amazon bekannt gab, weitere 75.000 Mitarbeiter einstellen zu wollen, um der gestiegenen Nachfrage gerecht zu werden. 414
Clarks größte Herausforderung bestand darin, dass die Beschäftigten in den Logistikzentren, die für maximale Effizienz und nicht für strenges Abstandhalten angelegt sind, nicht zu eng beieinander stehen durften. Teams, die mit der Durchsetzung der neuen Richtlinie beauftragt waren, 1,80 Meter Distanz zueinander zu wahren, marschierten durch die Lagerhallen und überprüften die Einhaltung der Abstände und der Maskenpflicht, während Reinigungskräfte in Schutzanzügen in den Logistikzentren Desinfektionsspray in Krankenhausqualität versprühten. Doch die meisten von Amazons Lösungen waren technologischer Natur. Die Robotik-Gruppe entwickelte ein System namens »Proxemics«, um Aufzeichnungen der Sicherheitskameras an den Standorten zu analysieren und die Abstände zwischen den Mitarbeitern zu messen. Das System benutzte KI-Algorithmen, um Problembereiche zu identifizieren und für die Geschäftsführer detaillierte Berichte darüber zu erstellen, wie gut sich ihre Häuser schlugen. Mit einem anderen Programm namens »Distance Assistant« 415 verteilte Amazon zusätzliche Kameras und Bildschirme in den Lagerhallen, um die Beschäftigten im Vorübergehen zu kontrollieren. Gingen Arbeiter zu eng nebeneinander, wurden ihre Bilder auf dem Monitor mit roten Kreisen umrandet.
Nicht alles, was die operative Abteilung bei Amazon ausprobierte, hat funktioniert. Ein autonomer Wagen, der durch die Gänge der Whole-Foods-Supermärkte fahren und die Regale mit desinfizierendem UV-Licht bestrahlen sollte, wurde beispielsweise wieder abgeschafft, nachdem Beamte der Gesundheitsbehörde zu dem Schluss gekommen waren, dass eine Übertragung des Virus über die Oberflächen von Lebensmitteln kein ernsthaftes Risiko darstellte. Ein weiteres Projekt, mit dem der Sauerstoffgehalt von Beschäftigten der Logistikzentren mithilfe von Pulsoxymetern gemessen werden sollte, konnte nicht zuverlässig ermitteln, ob jemand an Covid-19 erkrankt war, und wurde ebenfalls aufgegeben, genau wie der Versuch, den Aufenthaltsort der Beschäftigten innerhalb der Lagerhäuser 416 mithilfe ihrer privaten Smartphones und des WLAN-Netzes im jeweiligen Gebäude nachzuverfolgen.
Dr. Ian Lipkin hatte mit dem S-Team über die Dringlichkeit von Schnelltests gesprochen, um das Problem der asymptomatisch Erkrankten anzugehen, die infiziert zur Arbeit kommen und unwissentlich die Krankheit weiter verbreiten. Während die USA mit einem bedenklichen Engpass an Covid-19-Tests rangen und Amazon außerstande war, sich ein eigenes Kontingent zu besorgen, verfügte Bezos, dass Amazon selbst Tests produzieren solle – obwohl das Unternehmen bisher keine Erfahrung auf dem Gebiet besaß. Er agierte »in der realen Welt, also dort, wo es keinen Impfstoff gibt und in absehbarer Zeit bestimmt auch keinen geben wird«, sagte Jay Carney.
Das daraus entstandene Projekt bekam den Namen »Ultraviolet«. Jeff Wilke leitete das Unterfangen, für das sowohl in Amazons Lab126-Büros in Sunnyvale, Kalifornien, als auch am Drehkreuz in Louisville, Kentucky, kurzerhand Räume zu medizinischen Labors umfunktioniert wurden. Zahlreiche Gesundheitsexperten, Wissenschaftler und Beschaffungsspezialisten verließen ihre angestammten Arbeitsplätze und machten sich im Team daran, eine gigantische hauseigene Testeinrichtung aufzubauen. Bis zum Herbst hatten Tausende Beschäftigte in Amazon-Logistikzentren in dreiundzwanzig Staaten 417 freiwillig zehn Sekunden lang in jedem Nasenloch einen Abstrich genommen und ihn an eines der beiden Labore geschickt. Das Unternehmen gab an, täglich Tausende von Tests in 650 Niederlassungen vorzunehmen. 418
»Falls Sie Amazon-Aktien haben, setzen Sie sich lieber hin, weil wir jetzt klotzen statt kleckern«, schrieb Bezos zur Veröffentlichung der Quartalsgewinne des ersten Vierteljahrs im April und prognostizierte, dass die Firma im Lauf des Sommers im Zusammenhang mit Covid-19 Milliardensummen ausgeben werde. »Um die Kunden zu versorgen und die Mitarbeiter zu schützen, wenn sich diese Krise noch weitere Monate hinzieht, braucht man Können, Demut, Einfallsreichtum und Geld.« Amazon sollte später angesichts der nicht verstummenden Kritik, die dem Unternehmen entgegenschlug, sowohl auf diese große Investition verweisen als auch auf seine umfassenden Bemühungen, den Gefahren der Pandemie zu begegnen. »Wir haben getan, was wir konnten, und uns so viel Orientierungshilfe geholt wie irgend möglich«, sagte Personalchefin Beth Galetti.
Jay Carney fügte hinzu: »Wenn eines Tages sowohl die frühe als auch die langfristige Geschichte geschrieben wird, wird sich wahrscheinlich herausstellen, dass kein Unternehmen von unserer Größe sich stärker, schneller und besser engagiert hat als Amazon. Waren wir perfekt? Nein, ganz und gar nicht.«
Während Covid-19 in den Vereinigten Staaten und in Europa wütete, schlossen viele niedergelassene Einzelhändler ihre Tore, und dringend benötigte Artikel des täglichen Bedarfs wie Toilettenpapier und Desinfektionsmittel verschwanden aus den Regalen der Läden, die noch geöffnet hatten. Paradoxerweise bekamen Amazon und andere Online-Händler durch diese Flutwelle aus Ungewissheit und Angst Auftrieb. Jetzt war es sicherer, zu Hause zu bleiben und aus dem bequemen und relativ virenfreien eigenen Wohnzimmer heraus per Mausklick einzukaufen. Die Online-Bestellungen schossen in die Höhe, und selbst die hinterherhinkenden Bereiche des Amazon-Imperiums wie Amazon Fresh und der Lebensmittel-Lieferservice von Whole Foods legten kräftig an Umsatz zu. Ein Analyst erklärte, Covid-19 habe so ähnlich gewirkt, als hätte man »Amazon ein Wachstumshormon gespritzt«. 419
Abermals wurden Amazons Leistungen sofort von Kritik begleitet. Die Firma konnte so viele Schutzmaßnahmen bereitstellen, wie den Managern einfielen, für ein paar Monate lang die Einstiegsgehälter erhöhen und vorübergehend die Überstundenvergütungen aufstocken. Doch um weiter seine Kunden beliefern zu können, musste das Unternehmen seine Mitarbeiter Gefahren aussetzen, selbst wenn ein Teil der Gefahr darin bestand, zwischen seiner Wohnung und dem Arbeitsplatz bei Amazon zu pendeln.
Dies bestätigte sich im März, als mindestens fünf Amazon-Beschäftigte in Italien und Spanien an dem Virus erkrankten. 420 Im Lauf der nächsten Wochen wurden Fälle in Amazon-Niederlassungen quer über die Vereinigten Staaten bekannt. Ich habe Dave Clark gefragt, ob je darüber diskutiert wurde, diesen tödlichen Widerspruch aufzulösen, indem man Niederlassungen schloss oder den Service ganz einstellte. »Wir haben bestimmte Häuser und verschiedene Weltregionen in Betracht gezogen«, sagte er. »Aber die Menschen mussten irgendwie an diese Waren kommen, vor allem in der ersten Zeit.«
Das verärgerte viele Lagerarbeiter, genau wie ihre Gewerkschaften, die Amazon schon lange als eingefleischten Gegner betrachteten. Mitte April verklagte die französische Gewerkschaft Solidaires Unitaires Démocratiques Amazon vor einem Pariser Gericht und forderte, das Unternehmen solle seine sechs Logistikzentren in Frankreich schließen. Das Gericht entschied, dass Amazon seinen Service auf grundlegende Dinge wie medizinische Produkte und Nahrungsmittel beschränken oder für jeden Verstoß mit einer Strafe von 1,1 Millionen Dollar rechnen müsse.
Das war leichter gesagt als getan, da Beschäftigte in dem weit verzweigten Netzwerk womöglich aus Versehen Waren versenden könnten, die den neuen Regeln nicht entsprachen. Amazons Team für das operative Geschäft in Frankreich kalkulierte, dass sich die Verbindlichkeiten auf über eine Milliarde Dollar summieren könnten. Schließlich kam direkt aus Seattle die Anordnung, die Logistikzentren in Frankreich zu schließen. Der Richterspruch in Verbindung mit der Androhung empfindlicher Strafen »machte die Entscheidung nicht allzu schwer«, sagte Clark.
Die französischen Logistikzentren sollten einen Monat lang geschlossen bleiben 421 und viel böses Blut verursachen. Anne Hidalgo, die Bürgermeisterin von Paris, forderte einen Amazon-Boykott zugunsten lokaler Geschäfte, während der französische Kulturminister polterte: »Amazon überfrisst sich. 422 Wir sollten es nicht auch noch füttern.«
Der Kampf forderte auch innerhalb des Unternehmens seinen Tribut. Die Teams für das operative Geschäft in Europa hatten sich jahrelang darum bemüht, Amazon als vertrauenswürdigen Arbeitgeber zu etablieren. Jetzt hatten manche Manager das Gefühl, dass abgehobene, zentralisierte Entscheidungen ihrer Tausende Kilometer entfernten Kollegen in Seattle diese Mühen untergruben. Mitten während der Auseinandersetzungen in Frankreich verließ Roy Perticucci, der langjährige Vice President von Amazons EU-Geschäft, von heute auf morgen das Unternehmen, bald gefolgt von weiteren Führungskräften aus seinem Team.
Heftige Kritik kam auch von den auf Stundenbasis Beschäftigten in den USA. Obwohl das Unternehmen versuchte, soziale Distanz zu verordnen, waren Lagerhallen und Pausenräume nach wie vor voller Menschen, wie man auf Fotos und in Videos erkennen konnte, die die Beschäftigten in den sozialen Netzwerken posteten. Die Lösungen der Firma waren ineffektiv, so lauteten die Vorwürfe, und man priorisiere Verkaufszahlen über Sicherheit. Die Arbeiter eines Logistikzentrums im südkalifornischen Riverside County beanstandeten, dass man sie erst Tage nach der Berichterstattung in der lokalen Presse über Infektionen informiere und die Spender für Händedesinfektionsmittel häufig leer seien. 423 Beschäftigte in anderen Logistikzentren und an Transportdrehkreuzen beschwerten sich darüber, dass sie zu Beginn ihrer Schichten ein einziges Desinfektionstuch 424 bekämen, mit dem sie ihre Arbeitsplätze oder Fahrzeuge säubern könnten.
Diese schweren Vorwürfe waren zwar anekdotisch, gaben jedoch der Möglichkeit Raum, dass Amazons Versuche, in der Frühzeit der Pandemie die Risiken für die Beschäftigen zu begrenzen, lückenhafter waren, als die Führungskräfte zugeben wollten. Bei IND9, einem mehr als 55.000 Quadratmeter großen Lagerhaus südlich von Indianapolis, beschwerten sich die Beschäftigten darüber, dass man anfangs Duschvorhänge aus Plastik, die leicht Risse bekamen, als provisorische Trennwände zwischen den eng nebeneinander liegenden Annahmestationen aufhängte (und sie erst Wochen später durch Plexiglastrennwände ersetzte). Bei CMH1, einem knapp 80.000 Quadratmeter großen Logistikzentrum östlich von Columbus, Ohio, entfernte die Geschäftsführung einige der zahlreichen Mikrowellengeräte, was ein gut gemeinter Versuch sein sollte, die Abstände zu vergrößern. Beschäftigten zufolge führte dies jedoch lediglich dazu, dass sich die Leute um die verbliebenen Geräte drängten. Bei DEN3, einem riesigen Lagerhaus am Freeway I-25 in Colorado, waren Reinigungsprodukte wie Desinfektionsmittel für Hände und Flächen bis weit in den Mai hinein Mangelware, und die Beschäftigten wurden angewiesen, im von ihnen so bezeichneten »Land der Schäden«, einer Fläche für nicht mehr versandfähige ausgemusterte Ware, nach Ersatz zu suchen.
Da viele Beschäftigte Amazons Angebot nutzten, unbegrenzten unbezahlten Urlaub zu nehmen, erklärten die Beschäftigten im Logistikzentrum SDF9 in Shepherdsville, Kentucky, dass das Gebäude in den ersten Wochen der Pandemie leerer gewirkt habe als sonst. Doch als dieses zeitlich befristete Angebot am 1. Mai auslief, obwohl die Zahl der Fälle in den USA weiter ungebremst anstieg, wurde es voller in den Hallen, da die Abstandsregeln, etwa anhand von Markierungen auf dem Fußboden, mit denen die Wege durch die Gänge gesteuert werden sollten, nicht mehr so streng befolgt wurden. »Es ist irgendwie beängstigend«, sagte einer der SFD9-Beschäftigten. »Manche halten sich nicht an die Richtlinien.«
Niemand engagierte sich mehr für die Anprangerung dieser Zustände als ein Assistant Manager namens Chris Smalls aus dem JFK8-Logistikzentrum auf Staten Island. Die Beschäftigten bei JFK8 hatten bereits bewiesen, dass sie nicht davor zurückschreckten, den Mund aufzumachen und sich zu organisieren, unterstützt von denselben Gewerkschaften, die sich Amazons HQ2-Campus in Long Island City widersetzt hatten. Anfang März kehrten Beschäftigte bei JFK8 von einer Fortbildungsreise aus Seattle zurück, einem frühen Virus-Hotspot, und zeigten nach und nach Anzeichen einer Infektion, behauptete Smalls. Die Geschäftsführung des Logistikzentrums nahm dies anscheinend nicht zur Kenntnis und organisierte am 12. März in geschlossenen Räumen eine Veranstaltung für die Mitarbeiter, bei der es einen DJ und ein Gewinnspiel gab, um die Anwesenden zu motivieren, sich für verschiedene Amazon-Bezugsgruppen anzumelden.
Wenig später wurden Abstandsregelungen verhängt, doch anfangs wies man die Beschäftigten an, nur etwa einen Meter Abstand zu halten, wie es in den Richtlinien des Centers for Disease Control (CDC) seinerzeit hieß. 425 Smalls glaubte überdies, dass andere Vorgaben, wie etwa sich nicht in Gruppen mit mehr als zehn Personen zu versammeln, angesichts der teambasierten Arbeitsweise in dem Lagerhaus unmöglich einzuhalten waren. Seit mittlerweile fünf Jahren bei JFK8 beschäftigt, nahm er sich nun frei und trat bei seinen Vorgesetzten dafür ein, das Logistikzentrum vorübergehend zu schließen, um es einer gründlichen Reinigung zu unterziehen.
Am 24. März kehrte Smalls zur Arbeit zurück und nahm an einer fest vereinbarten, regelmäßigen Besprechung teil. Führungskräfte informierten die Gruppe über den ersten bestätigten Covid-19-Fall bei JFK8, und zwar bei einem Beschäftigten, der das Gebäude seit mehr als zwei Wochen nicht mehr betreten hatte. Smalls forderte, das Logistikzentrum müsse geschlossen und desinfiziert sowie alle Beschäftigten bei voller Lohnfortzahlung nach Hause geschickt werden. Seine Vorgesetzten lehnten ab. Smalls sah dies ganz anders und »sagte so vielen Leuten wie möglich Bescheid, als ich mich auf den Weg zum Ausgang machte«, wie er erklärte.
In den folgenden Tagen erhob Chris Smalls Beschwerde bei der Stadt, dem Staat und dem Center for Disease Control (CDC). Obwohl er zugab, Kontakt zu einem infizierten Kollegen gehabt zu haben, kehrte er ins Logistikzentrum zurück und organisierte Sit-ins. Am Samstag, den 28. März, eröffnete ein Vorgesetzter Smalls, er werde in bezahlten »Quarantäneurlaub« geschickt und solle zu Hause bleiben. Trotzdem organisierte er am darauf folgenden Montag – genau auf eine Mittagspause abgestimmt – eine Demonstration vor dem Lagerhaus und informierte die Presse. Die Demonstranten, die zum Teil eng beieinanderstanden und ihre Masken unterm Kinn hängen hatten, hielten Schilder hoch, auf denen stand: »Jeff Bezos, hörst du uns?«, und: »Alexa, schick uns nach Hause!« Amazon-Mitarbeiter und Reporter streamten die Kundgebung live.
»Ich wollte den Leuten Angst machen«, sagte Smalls. »Immer mehr Leute haben begriffen, dass die Lage beängstigend ist, dass wir nicht wissen, womit wir es zu tun haben.« Wenige Stunden später wurde er entlassen – vordergründig, weil er gegen die Anweisung, zu Hause zu bleiben, verstoßen hatte, doch in seinen Augen, weil er versucht hatte, »für etwas einzutreten, was richtig ist«. 426
Das anschwellende Public-Relations-Problem 427 für Amazon verschärfte sich noch, als ein paar Tage später Vice News ein Memo aus dem S-Team veröffentlichte, das ihnen zugespielt worden war und in dem führende Manager diskutierten, wie man mit Smalls umgehen solle, der schwarz war und dessen Einwände gegen Amazons Sicherheitsvorkehrungen in den Medien eine Menge Wirbel machten. »Er ist nicht intelligent oder wortgewandt, und wenn sich die Presse jetzt auf den Streit zwischen ihm und uns stürzen will, bringt uns das in eine wesentlich stärkere PR-Position, als wenn wir einfach nur zum x-ten Mal erklären, wie wir unsere Beschäftigten zu schützen versuchen«, sagte David Zapolsky, Amazons sprachbewusster Chefjustiziar, laut den Besprechungsnotizen. »Macht ihn zum interessantesten Teil der Story, und falls möglich, macht ihn zum Gesicht der gesamten Gewerkschafts-/Organisations-Bewegung.«
Zapolsky, der angab, er habe damals nicht gewusst, dass Smalls schwarz war, entschuldigte sich später höchst wortreich für die Bemerkung und schickte sogar eine E-Mail an seine Mitarbeiter, in der er Unterstützung für die Black-Lives-Matter-Bewegung äußerte, die nach dem Mord an George Floyd im Mai desselben Jahres Fahrt aufgenommen hatte. »Ich hätte nie zulassen dürfen, dass meine Gefühle mit mir durchgehen«, sagte er zu mir. »Ich hätte niemals eine derartige Charakterisierung für einen Amazon-Mitarbeiter benutzen sollen. Ich bereue es zutiefst.«
Doch der Widerstand des Unternehmens gegen alles, was auch nur nach gewerkschaftlicher Organisation roch, trat jetzt massiv öffentlich zutage, noch dazu auf zynische und ziemlich fragwürdige Weise. In den Folgemonaten wurden durch weitere Medienberichte zwei Stellenanzeigen von Amazon für Geheimdienstanalysten öffentlich bekannt, 428 die »Drohungen mit gewerkschaftlicher Organisation« innerhalb der Logistikzentren ausfindig machen sollten, sowie das Vorhandensein von Heatmaps in den Whole-Foods-Märkten, die jeden Laden anhand von Variablen wie Personalfluktuation, ethnischer Diversität und Sicherheitsverstößen einstufte, um potenzielle gewerkschaftsfreundliche Stimmungen auszumachen.
Ausschlaggebend für die Opposition in den Logistikzentren war, in welcher Form Amazon seine Mitarbeiter über Infektionen an den jeweiligen Standorten informierte. In der ersten Zeit der Pandemie war die Abteilung für interne Kommunikation überfordert und tat sich schwer damit, ein Protokoll dafür zu erarbeiten, wie man die Beschäftigten über Infektionen unterrichten sollte. Die Debatte innerhalb der Kommunikationsteams kreiste darum, welcher Grad an Sicherheit bezüglich einer – mutmaßlichen oder durch Testergebnis bestätigten – Infektion einen Großalarm unter den Beschäftigten zur Folge haben solle. Dies war keine belanglose Frage, da es ein paar Tage dauern konnte, bis die erforderlichen Dokumente vorlagen, was den Beginn des Quarantäneurlaubs für die jeweilige Person und die Benachrichtigung ihrer Kollegen verzögern würde. Die Leute jedoch über reine Verdachtsfälle zu informieren könnte unnötige Beunruhigung oder gar Panik auslösen.
Schließlich einigte sich das Team auf einen Plan, dem zufolge sämtliche Beschäftigten in einem Haus erst nach der Bestätigung durch einen Test anhand von Textnachrichten und automatisierten Anrufen verständigt werden sollten. Weiteres Kopfzerbrechen verursachte die Frage, wie viel über die Position der positiv getesteten Person und deren Schicht in der Niederlassung preisgegeben werden sollte, ohne deren Privatsphäre zu verletzen oder Gerüchte und Spekulationen in den sozialen Netzwerken anzuheizen. Das Team verabschiedete einen Plan, bei dem Aufzeichnungen der Überwachungskameras an den Standorten verwendet wurden, um Kontakte nachzuvollziehen. Beschäftigte, die in engem Kontakt mit der infizierten Person gestanden hatten, erhielten anschließend von der Personalabteilung Anweisungen dafür, wie sie sich bei voller Lohnfortzahlung zu Hause in Quarantäne begeben konnten.
Dies war eine vernünftige Lösung unter herausfordernden Umständen, doch allein die Menge von Fällen unter der Amazon-Belegschaft im Frühjahr 2020 löste weitere Verwirrung und Frustration unter den Beschäftigten aus. Sie beschwerten sich darüber, dass man ihnen nicht genau mitteilte, wie viele Infektionen es gab, und ihnen nicht genug Informationen zukommen ließ, um ihr eigenes Infektionsrisiko abzuschätzen. Ein an den Gesprächen über die Benachrichtigungsrichtlinien beteiligter Beschäftigter verglich es damit, »eine ganze Schiffsflotte zu bauen, während man den Atlantik überqueren will«.
Das Fehlen verlässlicher Daten über Infektionsfälle animierte einige Beschäftigte dazu, nach klassischer Amazon-Manier die Lücke selbst zu füllen. Jana Jumpp, eine 59-jährige Mitarbeiterin im SDF8-Logistikzentrum im Süden von Indiana, hörte zu Beginn der Pandemie auf zu arbeiten und verbrachte ihre Zeit damit, sich in inoffizielle Facebook-Gruppen für Beschäftigte von Amazon-Logistikzentren zu vertiefen und nicht gemeldete Fälle und Gerüchte zu sammeln, um ihre Kollegen auf dem Laufenden zu halten.
Im Mai gab Jumpp der CBS-Sendung 60 Minutes ein Interview über ihre Bemühungen, die Falldaten, die Amazon nicht herausgeben wollte, nachzuverfolgen und zu veröffentlichen. 429 Der Beitrag, zu dem auch ein Interview mit Chris Smalls gehörte, war schonungslos, vor allem hinsichtlich der Weigerung des Unternehmens, irgendwelche Angaben zu den Infektionsraten in den Logistikzentren zu machen. Dave Clark musste sich allein der unbeugsamen Lesley Stahl stellen und erklärte freundlich, dass die Gesamtzahl aller Covid-19-Fälle wenig hilfreich sei, da Amazon glaube, dass sich die meisten Beschäftigten in ihrem privaten Umfeld angesteckt hätten, nicht am Arbeitsplatz.
Doch im Herbst vollzog Amazon aufgrund des steigenden Drucks einen Kurswechsel. Das Unternehmen berichtete, dass etwa 20.000 seiner 1,3 Millionen exponiert tätigen Beschäftigten positiv beziehungsweise vermutlich positiv auf Covid-19 getestet worden seien. 430 Es führte jedoch ins Feld, dass die Präventivmaßnahmen diese Zahl deutlich unter das Niveau gesenkt hätten, das ausgehend von den Infektionsraten in den jeweiligen Kommunen zu erwarten gewesen wäre. Es merkte auch an, dass kein einziger Konkurrent entsprechende Daten veröffentlicht habe oder unter ähnlich heftigen Beschuss von Behördenvertretern und Medien geraten sei. 431
Trotzdem wurde Jana Jumpp genau wie Chris Smalls und die Gründer von Amazon Employees for Climate Justice (Amazon-Beschäftigte für Klimagerechtigkeit) gekündigt. Amazon entließ außerdem Katie Doan, 432 eine Angestellte bei Whole Foods, die Coronavirus-Fälle in den Supermärkten der Kette verfolgt hatte, Bashir Mohamed, 433 einen somalischen Mitarbeiter eines Logistikzentrums in Minnesota, der mehr Gesundheitsschutzmaßnahmen verlangt hatte, und Courtney Bowden, eine Beschäftigte aus Pennsylvania, 434 die Anstecker verteilt hatte, auf denen bezahlter Urlaub für Teilzeitbeschäftigte gefordert wurde.
Das Unternehmen behauptete steif und fest, es habe sich nicht an diesen Mitarbeitern gerächt, weil sie den Mund aufgemacht hatten. In jedem Fall führten Amazon-Sprecher eine interne Vorschrift an, die verletzt worden sei, wie etwa Abstandsregeln oder Bestimmungen, wonach es ohne Erlaubnis der Firma verboten war, mit den Medien zu sprechen. Doch das war unglaubwürdig. Hatten Jeff Bezos und seine Kollegen bereits seit Jahren gereizt auf Kritik von außen reagiert, schienen sie es nun völlig unerträglich zu finden, wenn diese aus dem Unternehmen selbst kam. Es war, als fürchteten sie, ein aufrührerischer Funken aus ihren eigenen Reihen könne die seit Langem schwelende Rebellion einer unzufriedenen und aktivistischen Belegschaft nun endlich ausbrechen lassen.
Tim Bray konnte nicht mehr guten Gewissens bei Amazon bleiben. Fünf Jahre lang hatte Bray, ein Software-Entwickler, der meist einen klassischen Filzhut trug und einer der Schöpfer der einflussreichen Auszeichnungssprache XML war, als Vice President und leitender Ingenieur bei AWS gearbeitet und gehörte zur Kaste der Technik-Hohepriester, die man zur Rettung problematischer Projekte heranzog. Bray wurde von Freunden aus der progressiven Linken angegangen: Wie konnte er bei einer Firma bleiben, die straflos Whistleblower feuerte und den Anschein erweckte, als sei ihr die Sicherheit ihrer Belegschaft herzlich egal?
Letztlich konnte er nicht. Anfang Mai quittierte Bray seinen Job und stellte einen beißenden Kommentar auf seine private Website, in dem er erklärte, dass die Entlassungen ungerecht gewesen seien und Amazons achtloser Umgang mit seiner Belegschaft einen Fehler im Erbgut des Unternehmens aufzeige. »Whistleblower zu feuern ist weder eine Nebenwirkung makroökonomischer Kräfte noch unerlässlich für das Funktionieren freier Märkte«, schrieb er. 435 »Es ist ein Beleg für eine toxische Ader, die sich durch die Unternehmenskultur zieht. Ich will dieses Gift weder ausschenken noch selbst trinken.«
Ich sprach ein paar Monate später per Videokonferenz mit Bray, der sich im Homeoffice auf seinem Motorboot in Vancouver aufhielt. Er zeigte sich reumütig, was seinen Verzicht auf den guten Job und den Stapel Aktienoptionen für Mitarbeiter betraf, nahm jedoch die Flut von Postings in den sozialen Netzwerken für bare Münze, in denen Beschäftigte unsichere Arbeitsbedingungen anprangerten. Er sagte, die Entlassungen engagierter Mitarbeiter hätten ihn tief getroffen. »Dass Whistleblower gefeuert wurden, ging einfach einen Schritt zu weit«, sagte er. »Ich fand es rein ethisch völlig inakzeptabel. Das kann man als Firma nicht mehr einfach damit wegerklären, dass man streng nach den Regeln spielt. Damit konnte ich nicht leben.«
Während des kurzen Medientumults wegen Brays Posting auf seinem Blog hatte Amazons PR-Abteilung Reporter diskret auf eine Gegendarstellung hingewiesen, die von Brad Porter, einem anderen leitenden Software-Ingenieur bei Amazon, auf LinkedIn gepostet worden war. 436 Porter stellte Brays Unterstellung infrage, dass das Unternehmen bei der Umsetzung von Sicherheitsmaßnahmen schleppend vorgegangen sei, und widersprach dessen Behauptung, dass die Firma ihre Beschäftigten wie Waren behandele, die man aufbraucht und dann wegwirft. »Wenn wir wollen, dass sich Menschen dafür entscheiden, bei Amazon zu arbeiten, um dabei zu helfen, Pakete zu den Kunden zu bringen, dann ist Aufgabe Nummer eins, diese wertvollen Mitarbeiter davon zu überzeugen, dass man tagaus, tagein alles tut, um ihre Sicherheit zu gewährleisten«, schrieb er.
Doch Porters Entgegnung ging genau wie Amazons Reaktion auf die Kritik an seinem Umgang mit Covid-19 an den zentralen Elementen von Brays Gewissensentscheidung vorbei. Bray glaubte, die Aussagen der engagierten Mitarbeiter spiegelten eine verständliche Angst in einer beklemmenden Zeit wider. Doch in seiner reflexhaften Abwehrhaltung sah Amazon keine normalen Menschen mit ehrlichen Anliegen mehr, sondern die unsichtbare Hand seiner Gegnerschaft wie etwa gewerkschaftlich organisierter Gruppierungen. »Manchmal ist es bei dem ganzen Getöse schwer zu sagen, ob es unsere Mitarbeiter sind, die sich äußern, oder ob es welche von diesen bezahlten externen Gruppierungen sind, die, na ja, alles aufbauschen«, sagte Dave Clark zu mir. »Es gibt Leute, die uns lieben, ganz egal, was wir tun, und es gibt Leute, die uns einfach nicht leiden können, ganz egal, was wir tun.«
Bray brachte auch ein gewichtiges Argument vor, das nicht nur Amazon betraf, sondern die USA als Ganzes und deren Versäumnis, die verwundbarsten Arbeitskräfte des Landes zu schützen. Er war zu der Überzeugung gelangt, dass Beschäftigte und Vertragsnehmer bei Amazon und anderen Firmen dringend erhöhten gesetzlichen Schutz durch die Regierung benötigten.
In vielen europäischen Ländern verfügen beispielsweise Arbeitsstätten ab einer gewissen Größe über gesetzlich vorgeschriebene Betriebsräte, die unabhängig von den Gewerkschaften sind, den Beschäftigten jedoch bei größeren Umgestaltungen in ihren Firmen ein Mitspracherecht zusichern. So etwas fehlt in den USA, wo drastische Veränderungen für das Leben der Arbeiter Tausende von Kilometern entfernt getroffen werden können. Wenn den Betroffenen das nicht passt, haben sie keine andere Wahl, als zu kündigen und sich einen anderen Job zu suchen – oder öffentlich zu protestieren und ihre Entlassung zu riskieren.
Andere reiche Länder haben Mindestlöhne, von denen man leben kann, und von der Regierung vorgeschriebene Sozialleistungen wie Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und bezahlte Elternzeit, Gleichbehandlungsregelungen für Teilzeitbeschäftigte sowie eine Begrenzung der Arbeitszeit. In den USA, wo der staatlich festgesetzte Mindestlohn bei lächerlichen 7,25 Dollar die Stunde stagnierte, galt dergleichen bei vielen Abgeordneten und einigen Firmenmanagern als unbezahlbarer Luxus und Belastung für die Wettbewerbsfähigkeit US-amerikanischer Firmen. Infolgedessen wurden viele Beschäftigte in der Covid-19-Krise alleingelassen, klammerten sich an ihre monatliche Gehaltszahlung und die vom Arbeitgeber abhängige Krankenversicherung, wenn sie denn überhaupt eine hatten, fürchteten um ihre Jobs und hatten keine andere Wahl, als ihr Leben und die Sicherheit ihrer Familien aufs Spiel zu setzen.
»Amazon ist das Symptom eines größeren Problems«, erklärte Bray auf seinem Motorboot. »Ich möchte Firmen das Gleiche sagen wie meinen Kindern: ›Spielt fair miteinander!‹ Aber das wird nicht funktionieren. Wir brauchen Regelwerke. Wenn es einem widerstrebt, wie die Leute in den Lagerhäusern behandelt werden, muss es Vorschriften geben, die das verhindern. Wir leben in einem Umfeld, in dem es vollkommen legal ist, Fließbandarbeiter wie Dreck zu behandeln«, fuhr er fort. »Und deshalb passiert das auch. Denn wenn du es nicht machst, macht es dein Konkurrent.«
Ende 2020, als Covid-19 weiter auf der ganzen Welt und besonders in den USA seinen tödlichen Tribut forderte, kehrte Amazon zu einer neuen Normalität zurück. Es war an der Zeit, Bilanz zu ziehen.
Mitten in der allgemeinen Misere des Jahres 2020 war Amazon paradoxerweise aufgeblüht. Trotz seiner erheblichen Investitionen in Covid-19-Tests und -Sicherheitsmaßnahmen verzeichnete das Unternehmen sein profitabelstes Jahr aller Zeiten, 437 und seine jährlichen Einnahmen stiegen um 37 Prozent auf über 380 Milliarden Dollar. Als im Herbst eine neue Infektionswelle über die USA und Europa schwappte und die Logistikzentren mehr Arbeitskräfte denn je einstellten, beschäftigte Amazon erstmals eine Million Voll- und Teilzeitmitarbeiter. 438
Während Videokonferenzen und Distanzunterricht Geschäftsreisen und persönliche Interaktion ersetzten, schnellte die Nutzung von AWS, einem zentralen Bestandteil der unsichtbaren Infrastruktur des Internets, in die Höhe. Zu Hause festsitzende Kunden interagierten häufiger mit Alexa und wandten sich an die sprachgesteuerte Assistentin, um in der endlosen Isolation Trost zu finden. Prime Video prosperierte, landete Hits wie die brutale Superheldenserie The Boys und die Komödie Borat Anschluss Moviefilm und etablierte die Amazon Studios weiter an vorderster Front der Hollywood-Avantgarde, zusammen mit Netflix und aufstrebenden Konkurrenten wie Disney+.
Ende des Jahres konnte sich Amazon mit einem Börsenwert von 1,6 Billionen Dollar brüsten, während Jeff Bezos’ Reinvermögen mehr als 190 Milliarden Dollar betrug. Sein Reichtum war während der Pandemie um über 70 Prozent gestiegen. Dies war eine atemberaubende Leistung und zugleich ein krasser Kontrast gegenüber der durch das Virus ausgelösten wirtschaftlichen Verwüstung und Not unter den Beschäftigten der Amazon-Logistikzentren. Das Spielfeld der globalen Wirtschaft, das sich ohnehin bereits zugunsten von Amazon und den anderen Technologiegiganten geneigt hatte, war nun noch steiler in ihre Richtung gekippt, während kleinere und lokale Betriebe reihenweise untergingen.
Im Day-One-Turm in Seattle neigte sich eine Ära dem Ende zu. Im Januar hatte Jeff Wilke, der für das Endkundengeschäft zuständige 53-jährige CEO, Bezos mitgeteilt, dass er sich im Lauf des nächsten Jahres zurückziehen wolle. Doch als die Pandemie immer heftiger wütete, erklärte er seinem Boss, er solle sich erst einmal keine Sorgen wegen seines Ausscheidens machen. »Ich bleibe hier, bis wir wirklich sicher sein können, dass die Firma stabil ist, und begriffen haben, in was für einer Welt wir agieren«, erklärte er. Im August war er zuversichtlich, dass Amazon das Schlimmste überstanden hatte, und gab seinen Rückzug bekannt.
Wilke hatte das Logistiknetzwerk während der Internetblase entworfen, am Tiefpunkt der Geschichte des Unternehmens, und dann die einzelnen Dienste in Amazons immer weiter wachsendem Internetgeschäft kontrolliert. Überdies galt er weithin als Befürworter der humaneren Elemente in der scharfkantigen Unternehmenskultur. »Jeffs Vermächtnis und Einfluss werden noch lange nach seinem Ausscheiden weiterleben«, 439 schrieb Bezos an die Belegschaft. »Er ist einfach einer der Menschen, ohne die Amazon nicht das wäre, was es ist.«
Es überraschte niemanden, dass Wilke Dave Clark zu seinem Nachfolger erklärte. Nach den Triumphen, Amazon Logistics aufgebaut und die Coronaviruskrise bewältigt zu haben, wurde Clark unter Bezos zum CEO für das globale Endkundengeschäft ernannt und sollte im Januar 2021 einen Brief an die neue Regierung von Joe Biden 440 schreiben, in dem er Amazons Hilfe bei der Verteilung von Impfstoff anbot. Clarks Nachfolgern im operativen Geschäft, deren Instinkte nicht in ähnlicher Weise durch die chaotischen Abläufe in den Logistikzentren während Amazons Frühzeit geschärft waren, sollte es überlassen bleiben, die sich immer weiter verzweigenden Geschäftsbereiche mit einer Mischung aus leidenschaftsloser Effizienz und Empathie für die Mühen der an vorderster Front stehenden Belegschaft zu managen.
Viele andere langjährige Manager nahmen ebenfalls leise ihren Abschied – entweder weil sie von der vielen Arbeit erschöpft oder bereits über die Maßen reich waren oder weil sie die anregendere Atmosphäre einer kleineren Firma reizte. Unter denjenigen, die ihren Hut nahmen, befand sich auch der Amazon-Veteran Jeff Blackburn, der zweiundzwanzig Jahre lang im Dienst des Unternehmens gestanden und als Senior Vice President die Amazon Studios und die prächtig gedeihende Werbeabteilung geleitet hatte. Eine neue Garde stand bereit, zu der mehrere Neulinge im S-Team zählten, unter ihnen Christine Beauchamp von Amazon Fashion, Colleen Aubrey aus der Werbesparte und Alicia Boler Davis aus dem operativen Geschäft. 441 Zusammen mit Beth Galetti begannen sie schließlich die Konturen einer erweiterten Führungsriege aus fünfundzwanzig Personen umzugestalten, der es jahrelang auffallend an geschlechtlicher und ethnischer Diversität gefehlt hatte.
Was Bezos betraf, so konnte er, nachdem Amazons Reaktion auf die Pandemie weitgehend geregelt war, endlich neue Pläne auf den Weg bringen. Im Februar 2020 hatte er sich verpflichtet, im Rahmen einer neuen philanthropischen Stiftung namens Bezos Earth Fund Gelder in Höhe von zehn Milliarden Dollar an Wissenschaftler, Aktivisten und Klimaschützer zu spenden, was jedoch durch die Covid-19-Krise verzögert wurde. In der Zwischenzeit verblüffte MacKenzie Scott 442 die Welt der Wohltätigkeit, indem sie im Eilverfahren fast sechs Milliarden Dollar nicht zweckgebundener Zuschüsse an verschiedene schwarze Colleges sowie Gruppen spendete, die für die Rechte von Frauen und LGBTQ-Personen eintraten, und dann eine neue Ehe mit dem Chemielehrer Dan Jewett aus Seattle einging, der ebenfalls den Giving Pledge unterzeichnete. Der Kontrast zu den gerade erst einsetzenden philanthropischen Bemühungen ihres Exmannes war enorm.
Im Herbst 2020 begannen Bezos und Lauren Sánchez Videokonferenzen mit Klima- und Naturschutzgruppen abzuhalten. Die Leiter dieser Organisationen sagten, die beiden hätten kluge Fragen gestellt und ernsthaft um Rat dafür gebeten, wie sie einen sinnvollen Beitrag leisten könnten. Nachdem sie einen weiteren Kreis von Non-Profit-Organisationen angesprochen hatten, darunter auch kleinere Bürgerinitiativen, die sich für Zwecke einsetzten wie den Schutz von einkommensschwachen Wohnvierteln vor Umweltverschmutzung, könnten sie über die Reaktion verwundert gewesen sein: Manche dieser Gruppierungen misstrauten Bezos’ Geld und wollten sich nicht allzu eng mit dem Boss eines Unternehmens einlassen, das den Ruf hatte, seine Beschäftigten schlecht zu behandeln.
Ein Begünstigter, die Organisation NDN Collective, die sich für die Schaffung nachhaltiger Lösungen zugunsten indigener Völker einsetzt, nahm vom Bezos Earth Fund zwölf Millionen Dollar entgegen und veröffentlichte hinterher eine erstaunliche Erklärung, in der es unter anderem hieß: »Wir wollen nicht darum herumreden, dass Amazon und insbesondere Jeff Bezos wegen ungerechter Arbeitsbedingungen, Rettungsschirmen für Unternehmen und dafür, direkt zum Klimawandel beizutragen, zu Recht kritisiert wurden.« 443 Andere Basisbewegungen bestanden darauf, im Verhältnis gleichberechtigt mit den großen Umweltinitiativen behandelt zu werden, die Spenden in Höhe von 100 Millionen Dollar erhielten, wie etwa der Environmental Defense Fund und das World Resources Institute. Fünf solcher Organisationen für Umweltgerechtigkeit sollten insgesamt 151 Millionen Dollar erhalten.
Ein paar Gruppierungen gingen allerdings noch weiter und forderten, dass Bezos Klimaorganisationen unterstützte, die zugleich für faire Arbeitsbedingungen eintraten. Als einige dieser Gespräche schwieriger und kontroverser wurden, als er vielleicht erwartet hatte, bat Bezos Patty Stonesifer, die seit langen Jahren dem Amazon-Vorstand angehörte und früher CEO bei der Bill and Melinda Gates Foundation gewesen war, sich einzuschalten. Umweltgruppen erinnern sich daran, wie sie das Verfahren in jenem Herbst übernahm und dazu betrug, Organisationen wie den Climate and Clean Energy Equity Fund sowie den Hive Fund for Climate and Gender Justice in die Liste von Begünstigten einzubinden, die von Bezos’ Freigiebigkeit profitieren sollten. Sie beendete auch behutsam den Dialog mit Gruppen wie dem NAACP Environmental and Climate Justice Program, dessen Vertreter sich nicht davon abbringen ließen, Arbeitnehmerrechte als zentralen Bestandteil von Klimagerechtigkeit zu betrachten.
Die Ankündigung der ersten 791 Millionen Dollar an Spenden aus seinem Earth Fund am 16. November 2020 bewies, dass Bezos seine legendäre Intelligenz und sein kolossales Vermögen endlich für die größte Herausforderung seiner Generation einsetzte. Obwohl manche Umweltinitiativen seine besten Absichten mit Skepsis begleitet hatten, wollte er nach einem Leben, das außergewöhnlich erfolgreich verlaufen war, seine Handlungsweise nicht verändern.
Diese Haltung galt auch für seine minuziöse Kontrolle der neuesten und vielversprechendsten Bestrebungen bei Amazon, während sein öffentlicher Einfluss weiter wuchs. Genau wie er die Projekte vorangetrieben hatten, aus denen später Alexa und die Amazon-Go-Supermärkte hervorgehen sollten, trug er auch zur Entwicklung von Projekt Kuiper bei, einem ehrgeizigen Plan, Satelliten ins All zu schießen, die Menschen auf der ganzen Welt Highspeed-Internetverbindungen zur Verfügung stellen sollten. Amazons Zehn-Milliarden-Dollar-Projekt war eine direkte Herausforderung für das von Elon Musks Unternehmen SpaceX bereits stationierte Starlink-Satellitensystem. Die beiden Firmen stritten sich vor den Behörden um Anteile des Radiospektrums und niedrigere Erdumlaufbahnen, wo die Signale am stärksten sind; zwei der reichsten Menschen der Welt lieferten sich abermals ein spektakuläres Wettrennen.
In ähnlicher Weise kontrollierte Bezos weiter Amazons Position auf dem grob vier Billionen schweren US-Markt für Medizinprodukte. Dazu gehörte Amazon Pharmacy, ein über längere Zeit herangereifter Dienst, mit dem Amazon-Kunden Rezepte online einlösen konnten und den die Firma in jenem November öffentlich vorgestellt hatte, als Covid-19 in den USA wütete. Andere Elemente ihrer Dienste im Gesundheitsbereich waren der im August 2020 vorgestellte, dem Fitbit ähnliche Fitnesstracker Halo sowie Amazon Care, 444 ein auf einer Smartphone-App basierender Dienst, der Amazon-Beschäftigten im Bundesstaat Washington virtuelle Arztbesuche ermöglichte und den Amazon in der Folgezeit auf andere Firmen ausdehnte. Bezos sah in der Gesundheitsfürsorge ein enormes Potenzial für Umwälzung und Innovation und traf sich regelmäßig mit einer geheimen Gruppe innerhalb der Firma, der sogenannten Grand Challenge, deren Zweck es war, Ideen auf diesem Gebiet zu entwickeln und umzusetzen.
Bezos machte weiterhin mit Feuereifer erfolgversprechende neue Geschäftsfelder ausfindig, die das bereits solide Vermögen seines Unternehmens beträchtlich steigern könnten. Zudem räumte er zentralen Stellvertretern wie Andy Jassy und Dave Clark weitere Befugnisse über die angestammten Geschäftsbereiche ein. Und am 2. Februar 2021 gab Amazon in einer historischen Verlautbarung bekannt, dass Bezos auch etwas anderes räumen würde: seinen Posten als CEO. 445 Neben seinem Quartalsbericht gab das Unternehmen bekannt, dass Bezos im weiteren Verlauf des Jahres den Übergang zum Executive Chairman vollziehen und die Rolle des Vorstandschefs an Andy Jassy übergeben werde, den langjährigen Chef von AWS, der vor langer Zeit Bezos’ erster hauptberuflicher Technischer Berater gewesen war. Der Schritt markierte einen offiziellen Führungswechsel bei Amazon und das offensichtliche Ende einer der legendärsten Erfolgsgeschichten der modernen Wirtschaft. Im Lauf von zweieinhalb Jahrzehnten hatte Bezos aus der Idee, über ein neues Medium namens Internet Bücher zu verkaufen, mithilfe von Erfindergeist, dem vorurteilsfreien Einsatz von Technologie und dem rücksichtslosen Streben nach Einfluss ein weltweites Imperium aufgebaut, das einen Gesamtwert von mehr als 1,5 Billionen Dollar besaß.
Die wenigsten aktuellen und früheren Kollegen zeigten sich von der Nachricht besonders erstaunt. Bezos hatte sich bereits seit Jahren immer weiter zurückgezogen und seine Zeit für seine vielfältigen Interessen außerhalb von Amazon verwendet. Sie erwogen auch den Einfluss seiner Lebensgefährtin und fragten sich, ob er nun zusammen mit Lauren Sánchez mehr einem Lebensstil des extravaganten Müßiggangs auf ihren luxuriösen Anwesen und schon bald auf ihrer grandiosen Segeljacht frönen würde.
Bezos hatte noch einen anderen Grund, sich aus der Spitzenposition herauszumanövrieren: CEO von Amazon zu sein würde schon bald weit weniger amüsant werden. Man musste komplizierte, alternde Geschäftssparten überwachen wie den Amazon Marketplace mit seiner Masse von unzufriedenen Anbietern, die sich permanent über Betrug und Wettbewerbsverzerrung beschwerten, dazu das Amazon-Logistiknetzwerk mit über einer Million einfachen Arbeitern, von denen ein Teil sich lautstark bemerkbar machte und für höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen eintrat. Diese Akteure neigten dazu, ihre Wut auf Amazons Boss zu richten und ihn für Probleme persönlich verantwortlich zu machen. Daneben lauerten ähnlich unangenehme Regulierungsfragen in Washington und Brüssel. Mit dem 53-jährigen Jassy setzte Bezos einen disziplinierten Leader ein, den er minuziös in seiner ungewöhnlichen Art der Unternehmensführung ausgebildet hatte, der sich in der Öffentlichkeit zu bewegen wusste und der Amazons politischen Gegnern eine etwas bescheidenere Zielscheibe bot. Bezos’ ehemaliger Technischer Berater hatte sich umfassend bewiesen, indem er Amazons profitabelsten Bereich aufgebaut und geleitet hatte, und er besaß die nötige Bandbreite für einen immer anspruchsvoller werdenden Job.
»Als CEO von Amazon trägt man eine enorme Verantwortung, die einen restlos fordert. Wenn man eine derartige Verantwortung hat, ist es schwer, seine Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten«, schrieb Bezos in einer E-Mail an die Mitarbeiter. 446 »Als Exec Chair werde ich mich weiter für wichtige Belange von Amazon engagieren, aber auch die nötige Zeit und Energie haben, mich um den Day One Fund, den Bezos Earth Fund, Blue Origin, die Washington Post und all meine anderen Leidenschaften zu kümmern. Ich hatte noch nie mehr Energie, und es geht hier nicht um den Ruhestand.«
Jeff Bezos’ Mission war es gewesen, Stagnation zu vermeiden und Amazon als »Day-One«-Unternehmen mit einer innovativen Kultur und soliden Gebräuchen zu erhalten, das ihn überdauern würde. »Amazon ist nicht zu groß, um zu scheitern«, warnte er die Beschäftigten einst bei einer Mitarbeiterversammlung. »Ja, ich prophezeie sogar, dass Amazon eines Tages scheitern wird. Amazon wird bankrottgehen. Wenn ihr euch große Unternehmen anschaut, so haben sie Lebensspannen von etwas mehr als dreißig Jahren, nicht von mehr als hundert Jahren.«
Ab sofort liegt es weitgehend in Andy Jassys Händen, diese düstere Gefahr abzuwenden. Zu den größten Herausforderungen für den neuen CEO wird zählen, den innersten Kreis an erfahrenen Führungskräften des Unternehmens zusammenzuhalten, auch wenn Amazons Aktienkurs stagnieren sollte, für Motivation und Zufriedenheit bei der immer weiter wachsenden Belegschaft in den Lagerhäusern zu sorgen und der drohenden Beaufsichtigung durch Regulierungsbehörden innerhalb und außerhalb der USA zu begegnen. Dieser eskalierende Kampf, der eines Tages in einer Kartellklage der US-Regierung gegen Amazon kulminieren könnte, ist noch längst nicht ausgefochten.
Doch mit seinen vierzehn geheiligten Führungsprinzipien, den ineinander verzahnten Geschäftsbereichen und seinem überwältigenden Schwung hatte Bezos sowohl Jassy als auch das Unternehmen allem Anschein nach darauf vorbereitet, auch nach seinem Abgang weiter prächtig zu gedeihen. In dieser Hinsicht war sein Lebenswerk, zumindest was Amazon betraf, offenkundig getan.
Allerdings fehlte nach wie vor eine endgültige Antwort auf die ewige Frage, die auch jetzt noch nicht abschließend geklärt werden kann: Ist es besser für die Welt, wenn es Amazon gibt?
Oder vielleicht ist es nach Amazons Entwicklung zu einem Billionen-Dollar-Imperium und Jeff Bezos’ Eingang in die Annalen der Wirtschaftsgeschichte gar nicht mehr sinnvoll, diese Frage zu stellen. Amazon ist mittlerweile untrennbar mit unserem Leben und unseren Gemeinschaften verwoben, es gewinnt durch die Annehmlichkeit, von zu Hause aus bestellen zu können, immer mehr Kunden und stellt damit alle außer den wendigsten lokalen Einzelhändlern vor unüberwindbare Herausforderungen. Es erinnert an Bezos’ alten Spruch über Türen, die nur in eine Richtung aufgehen, und Schwingtüren, sowie an unwiderrufliche Entscheidungen nach Art der ersteren. Vor langer Zeit sind wir durch eine solche Tür vom Typ eins getreten und damit hinein in die von Technologie bestimmte Gesellschaft, die in weiten Teilen von Jeff Bezos und seinen Kollegen entworfen und geformt wurde. Was auch immer man von dem Unternehmen und dem Mann halten mag, die gemeinsam ein so großes Stück unserer wirtschaftlichen Realität im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts kontrollieren – jetzt gibt es kein Zurück mehr.