6
Licht und Schatten
Rose wandte sich ihren neuen Kolleginnen zu. »Es tut mir leid, aber …«
»Geh nur, du weißt ja, wo du uns findest«, sagte Evelyn und lief mit Morgan weiter.
Sie hatte die Skepsis in Evelyns Stimme wahrgenommen, die so klang, als erwarte Evelyn nicht, dass Rose sich tatsächlich mit den Frauen abgeben würde. Nun, sie konnte es ihr nicht übel nehmen, hatten sie sich doch eben erst kennengelernt.
Sie blieb auf dem Treppenabsatz stehen und wartete, bis Doktor Wodehouse sie erreicht hatte. Er nahm ihre behandschuhte Hand und führte sie an die Lippen, ohne sie zu berühren. Über zwei Monate lagen zwischen ihrer letzten Begegnung in Mandeville Park. Der Zauber der Neujahrsnacht war lange verflogen, die bittere Realität hatte sie alle längst eingeholt. Er wirkte ernst, doch seine Augen ruhten voller Wärme auf ihr. In seiner Gegenwart fühlte sie sich auf eine bislang nicht gekannte Art sicher, so als sähe er sie als den Menschen, der sie war, nicht nur die schöne Fassade. Vielleicht war es die respektvolle Weise, in der er mit ihr sprach, ihr zuhörte. Aber sie durfte sein Verhalten nicht überbewerten, zumal er ein verheirateter Mann war.
Unter einem Arm trug er eine Aktentasche. »Wie schön, dass ich Sie hier treffe, Lady Rose. Leider bin ich gerade auf dem Weg zu einer Besprechung, aber wenn Sie heute Abend Zeit haben, würde ich Sie gern zum Essen einladen. Dann erzählen Sie mir von Ihrem ersten Arbeitstag. Das heißt, wenn Sie den Klauen von Mrs Muir unbeschadet entkommen«, fügte er mit einem schiefen Lächeln hinzu.
Rose lachte. »Da habe ich mir etwas eingebrockt. Die Dame scheint mir schlimmer als ein ganzer Haufen wild gewordener Suffragetten und das soll etwas bedeuten.«
»Sie nehmen es mit Humor, gut so. Genauso habe ich Sie eingeschätzt. Es tut mir leid, dass Sie sich mit Ihrer Familie überworfen haben. Tredegar deutete es an. Geht es Ihnen gut?« Während er sich nach ihr erkundigte, flog sein Blick zur Balustrade hinauf, wo sich einige Herren versammelten.
»Danke, ja. Ich komme zurecht. Aber lassen Sie sich nicht aufhalten, Mr Wodehouse«, sagte sie und deutete mit dem Kopf nach oben.
Er lächelte entschuldigend. »Verzeihung, ich … ja, wie wäre es, wenn wir uns nach dem Dienst in der Halle unten treffen? Es gibt hier in der Nähe einige gute Lokalitäten.«
Sie nickte. »Sehr gern.«
»Wodehouse! Wir warten!«, rief ein großer bärtiger Mann von oben herunter.
Sie erkannte einen Sekretär aus dem Stab von Parlamentsmitglied Baker. Michael Wodehouse neigte höflich den Kopf und eilte die Treppen hinauf.
Der Tea-Room war nichts weiter als ein schlichter Raum mit zweckmäßigem Mobiliar und einem schmalen Tresen, hinter dem mehrere Frauen Tee zubereiteten. Ein paar Butterkekse fanden sich für Rose, die sich mit ihrem kargen Lunch zu Evelyn und Morgan begab. Die beiden standen an einem Fenstersims und sahen sie erwartungsvoll an.
»Du bist mit Doktor Wodehouse bekannt? Dass ein so reizender Mann eine so schreckliche Frau haben muss …«, meinte Evelyn.
»Ist das so? Ich kenne ihn noch nicht lange, er ist mehr der Freund eines alten Freundes, Tredegar, von mir. Wie auch immer, er hat mir diese Stelle hier verschafft. Ich bin ganz offen zu euch, meine Erfahrungen als Sekretärin sind sehr beschränkt, aber ich brauche diese Arbeit und werde mich doppelt bemühen, den Drachen nicht zu enttäuschen.«
Morgan sah sie neugierig an. »Du brauchst diese Arbeit? Ich hätte gedacht, dass du genügend Geld hast und das hier zum Spaß machst, weil du dich langweilst.«
»Versteh uns nicht falsch, Rose, wir mögen dich. Aber Leute deines Schlages, aus deiner Klasse, die amüsieren sich eben gern. Tredegar? Der Earl of Tredegar? Hm, ach komm, Rose, sei wenigstens ehrlich mit uns.« Evelyn wärmte sich die Hände an ihrem Becher und sah sie bedeutungsvoll an.
»Ich stehe gerade ganz furchtbar auf dem Schlauch. Ja, Gerald Ridley, Tredegar, ist ein guter Freund, schon seit Kindertagen. Warum sagst du das so merkwürdig?«
Morgan und Evelyn sahen sich an und hoben die Schultern. »Vielleicht weiß sie es wirklich nicht. Na, Tredegar gehört doch zu dieser verrufenen Partygang um den Sohn von Premier Asquith. Die Coterie nennen sie sich, steht doch auch dauernd in den Zeitungen.«
Sie hatte es geahnt, doch Gerrys wilde Zeiten waren längst Geschichte. »Ach, das sind doch alles aufgebauschte Geschichten von Zeitungsleuten, die sonst nichts zu berichten haben. Gut, Raymond Asquith und Lady Diana Manners sind für ihre Ausschweifungen berüchtigt, aber alles andere … nein, Tredegar könnt ihr da ganz rausnehmen.«
»Schade, ich fand, das hörte sich herrlich skandalös an. Sie schnüffeln Chloroform und treiben es wild auf ihren Orgien, huh!« Morgan sprach leise und errötete dabei.
Rose zog eine Grimasse. Zur Gruppe um Raymond Asquith und Lady Diana Manners gehörten Iris Tree, Edward Horner, Lord Elcho und einige mehr, die Rose flüchtig von gesellschaftlichen Anlässen wie Jagdwochenenden oder Sommerfesten kannte. Veranstaltungen, denen sie nie etwas hatte abgewinnen können und denen sie seit Jahren fernblieb. »Du weißt aber auch, dass es zwei Todesfälle gab? Sie haben es übertrieben und glücklicher sind sie auch nicht, glaub mir. Und überhaupt hat der Krieg alle auf den Boden der Tatsachen zurückgeworfen.«
Sie leerte ihre Teetasse und aß die Kekse, wobei sie merkte, wie hungrig sie war.
»Ich wollte nicht respektlos sein, Rose, aber wir haben sonst nicht die Gelegenheit, mit jemandem zu sprechen, der aus diesen Kreisen kommt. Für uns sind das unerreichbare Welten, von denen wir nur träumen. Oder wir lesen eben in den Zeitungen über …« Morgan biss sich verlegen auf die Lippen.
»Über Leute wie mich. Ist schon in Ordnung, Morgan. Wir können uns unsere Herkunft nicht aussuchen. Deshalb kämpfe ich für die Rechte der Frauen, damit sie es endlich leichter haben, damit wir alle eine Stimme bekommen«, sagte Rose voller Überzeugung.
Die beiden sahen sie erstaunt an. »Du meinst das wirklich ernst! Respekt, Rose, du bist anders, du …« Evelyn reichte ihr die Hand und drückte sie fest, als Rose einschlug. »Du machst uns Mut, Rose. Jetzt ist Krieg, da können wir nichts tun außer unsere Pflicht, aber dann …«
Morgan sah auf ihre Uhr. »Kommt schon, wir müssen zurück, sonst kürzt sie uns das Gehalt.«
Der Nachmittag verging mit weiteren Berichten, die Rose geschickt umformulierte und für die sie eine Sprache fand,
die selbst Mrs Muir überzeugte. Als der erste Arbeitstag um achtzehn Uhr beendet war, sagte Mrs Muir: »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie zu etwas nutze sind, Lady Rose. Aber selbst ich kann mich irren.«
Die Büroleiterin sammelte die Berichte ein, legte sie in eine Mappe und übergab sie einem Botenjungen, der damit zur Druckerei lief. Rose ging zur Garderobe, wo Evelyn bereits in ihren Mantel schlüpfte und ihr zuflüsterte: »Das eben war ein Kompliment vom Drachen.«
»Ich hatte es fast befürchtet«, erwiderte Rose ebenso leise.
Als sie in die Halle kam und sich vor der Empfangsloge nach Wodehouse umsah, schien sie nicht die Einzige zu sein, die auf jemanden wartete. Vielmehr schien es üblich, dass sich die Mitarbeiter des War Office nach den offiziellen Bürostunden zu weiteren, informellen Gesprächen trafen. Sie musste sich jedoch noch zwanzig Minuten gedulden, bis Michael Wodehouse mit gequälter Miene die Treppe hinuntereilte.
»Lady Rose, ich bin untröstlich. Die Sitzung wollte kein Ende nehmen. Wenn es um Geld geht, verstehen die Herren keinen Spaß, nicht einmal im Krieg.« Er war keine so eindrucksvolle Erscheinung wie Lorenzo Ranieri oder der elegante Tredegar, doch Wodehouse hatte offene Gesichtszüge und ein verschmitztes Lächeln, das sie äußerst anziehend fand.
»Sie müssen sich nicht entschuldigen, Mr Wodehouse. Ich freue mich, dass Sie sich Zeit für mich nehmen. Es ist alles noch sehr neu und Sie können mir ein paar Hintergrundinformationen geben. Natürlich nur, soweit es Ihnen erlaubt ist.« Rose ärgerte sich, dass sie keinen ihrer mondäneren Hüte mitgenommen hatte, doch nun musste es auch die solide Garderobe tun.
»Bitte, nach Ihnen, Lady Rose!« Er hielt ihr die Tür auf und auf der Straße hakte sie sich leicht bei ihm unter.
»Es ist nicht weit, gleich hier um die Ecke gibt es ein kleines Lokal, in dem es sich sehr gut essen und reden lässt. Der
Inhaber kommt aus Falmouth, wo ich aufgewachsen bin.« Er geleitete sie in eine schmale Seitenstraße, in der es zwei Pubs und besagtes Lokal gab. »Seven Rivers,
das ist es. Wissen Sie, woher der Name kommt?«
Wodehouse blieb kurz vor der Tür stehen und nahm Stock und Aktentasche unter den Arm.
»Nein! Falmouth, Cornwall. Aber sieben Flüsse?« Sie wartete, während drei Herren an ihnen vorbei ins Lokal gingen. »Es scheint beliebt zu sein.«
»Aber ja, Denis macht den besten Fisch und sein Shepherd’s Pie ist legendär. Sieben Flüsse treffen sich in der Bucht von Falmouth. Die Bucht heißt Carrick Roads und ist so tief, dass Hochseedampfer dort vor Anker gehen können. Außerdem ist die Küste einfach malerisch schön, rau, aber wundervoll. Bitte.«
Sie folgte ihm in das Innere des kleinen Lokals, das rustikal und mit viel maritimem Flair eingerichtet war. Eine Kellnerin fand einen kleinen Ecktisch für sie und Denis Gillow, der Inhaber, kam, um sie persönlich zu begrüßen.
»Denis, darf ich dir Lady Rose vorstellen? Sie hat gerade im War Office angefangen und muss sich ein wenig von ihrem ersten Tag erholen. Haben Sie überhaupt Hunger, Lady Rose?«
Sie nickte. »Sehr großen sogar.«
Denis lachte. »Das sind mir die liebsten Gäste. Essen Sie gern Fisch? Wir haben gebackenen Barsch in Salzkruste und Muscheln traditionell auf cornische Art.«
Rose entschied sich für den Barsch und überließ den Rest der Bestellung Wodehouse, der zu ihrer Überraschung Bier bestellte.
»Hey Denis!« Immer neue Gäste strömten in das Lokal und der Wirt grüßte und plauderte mit allen.
Als zwei Gläser hellen Bieres auf dem Tisch standen, sagte Wodehouse: »Auf Ihr Wohl, Lady Rose! Ich freue mich, dass ich
Ihnen ein wenig helfen konnte, wenn ich mir auch gewünscht hätte, dass es unter weniger traurigen Umständen wäre.«
»Danke, Mr …«
»Michael, wenn es Ihnen recht ist. Ich kenne Tredegar schon so lange und kann gar nicht verstehen, dass wir uns noch nie begegnet sind.«
Sie war ehrlich erfreut über seine unkomplizierte Art und antwortete: »Danke, Michael, und ich meine das von ganzem Herzen. Ich hätte schon viel früher einen Schnitt machen müssen.«
Das Bier war leicht herb und erfrischend, genau wie ihre Gesellschaft, dachte Rose.
»Das sagt sich leichter, als es ist. Niemand trennt sich leichtfertig von seiner Familie, egal, wie schwer es mit ihr ist. Ohne sie kann es noch viel schwerer sein.« Michael Wodehouse drehte sein Glas ein wenig, sodass sich das Licht der Petroleumlampe darin brach. In seinen Worten lag eine traurige Ernsthaftigkeit, die auf eigene Erfahrungen hindeutete.
Alle Tische des Lokals waren besetzt. Schwarze Anzüge und Uniformen herrschten vor. Elegante Damen sah man wenige, dafür Frauen in Kostümen, teils mit Abzeichen des Roten Kreuzes oder eines Sanitärcorps. »Das ist richtig, Michael, aber manchmal wird einem keine Wahl gelassen. Ich muss damit leben, eine Enttäuschung für meine Familie zu sein.«
Sie hob den Blick und sah ihn an. »Ihnen kann ich es sagen, weil Sie sich ebenfalls für die Gleichberechtigung der Geschlechter einsetzen. Ich könnte mich selbst nicht mehr respektieren, wenn ich mich wie Vieh auf einer Auktion meistbietend versteigern lassen würde. Um nichts anderes geht es. Die Finanzen von Mandeville Park sind seit Jahren desolat. Der Krieg hat uns nur einen Aufschub gewährt.«
»Ich hatte ja keine Ahnung. Das tut mir sehr leid.«
»Oh, das ist kein Geheimnis, die Spatzen pfeifen es bereits von den Dächern, wie man so schön sagt. Es ist eher so, dass meine Mutter es nicht akzeptieren kann.« Rose räusperte sich. »Aber genug von mir. Seit Längerem schon muss ich an eine Geschichte denken, die ich als Kind in Cornwall erlebt habe. Sie haben mich wieder daran erinnert. Kennen Sie Lady Sudworth?«
Michael nickte. »Mowbray House gehört den Sudworths. Ein schönes Anwesen, auch wenn ich es nur von unseren Bootsausflügen kenne.«
»Oh, dann kennen Sie die Tochter der Sudworths nicht, Celia?«
Michael überlegte kurz. »Nicht persönlich, nein, aber es gab da eine unschöne Geschichte, nicht wahr? Ich meine, Tredegar erwähnte das mal.«
»Alle halten sich nur an das, was Lady Sudworth erzählt. Celia hätte eine Affäre mit einem französischen Maler gehabt und wäre nach Amerika gegangen. Aber ich habe da meine Zweifel.« Rose erzählte ihm kurz, was sie damals beobachtet hatte. »Sie ist wie vom Erdboden verschwunden. Ich habe nie wieder von ihr gehört.«
Zweifelnd erwiderte Michael: »Das ist sicher ungewöhnlich, Rose, aber es beweist nichts. Ich nehme an, Sie wollen darauf hinaus, dass man Celia gegen ihren Willen fortgebracht hat.«
»Ganz genau. Und wenn man die arme Celia einfach weggesperrt hat?«
»Warum? Für uneheliche Kinder, sollte dies der Grund gewesen sein, gab es schon immer Lösungen.«
»Es kommt Ihnen sicher albern vor, aber ich weiß, was es heißt, wenn man vor der Allmacht der Eltern fliehen muss und kein Gesetz einen schützen kann. Ich hatte Freunde bei der WSPU, Celia nicht.«
Nachdenklich meinte Michael: »Wenn Sie möchten, höre ich mich ein wenig um, aber äußerst diskret. Lord Sudworth war mit Sir Henry Sclater auf dem Kontinent und hat an den Gesprächen mit dem Kaiser teilgenommen.«
Mit mächtigen Männern sollte man sich nur im Notfall anlegen, das war auch Rose bewusst. »Wobei die Gespräche den Krieg nicht verhindern konnten.«
Der Anwalt trank einen Schluck Bier. »Nein, das haben sie nicht.« Das Essen wurde serviert und Rose sog genüsslich den Duft von Fisch und Kartoffeln ein.
»Guten Appetit, ich hoffe, ich habe nicht zu viel versprochen«, sagte Michael und griff nach Messer und Gabel.
Nach dem Essen musste Rose zugeben, dass Denis aus Cornwall sein Handwerk verstand. Zufrieden legte sie das Besteck auf den Teller. »Es war ganz ausgezeichnet!«
»Das freut mich.« Michael lächelte. »Und ich danke Ihnen für dieses außerordentlich interessante Gespräch.«
Rose hob die Augenbrauen. »Ich rede zu viel und zu offen, aber …«
»Kein Aber, Rose, ich unterhalte mich sehr gern mit Ihnen.« Er schwieg, schien zu überlegen, was er sagen konnte, und fuhr fort: »Vielleicht begleiten Sie mich einmal zu unseren Versammlungen und lernen Millicent Fawcett kennen. Haben Sie von den Plänen für einen Frauenfriedenskongress in Den Haag gehört?«
»Nein! Wann soll der stattfinden? Wie bemerkenswert!«
Wodehouse sah auf seine Uhr. »Das ist eine längere Geschichte und ich muss leider noch zu einer Besprechung. Wie wäre es morgen zum Lunch? Darf ich Ihnen eine Droschke rufen?«
Als Rose sich von Michael Wodehouse verabschiedete, waren ihre Schritte ein klein wenig beschwingter und ihre Hoffnung auf eine friedlichere Zukunft größer. Ein Friedenskongress, dachte sie, das war ein Signal.