8
Unsere Bewegung ist wie ein Gletscher, langsam,
aber unaufhaltsam.
Millicent Fawcett (1847–1929)
Das Taxi war gerade weitergefahren und Rose sah sich suchend um, als sie eine hochgewachsene Dame mit ausladendem Hut entdeckte, die auf das Haus mit der Nummer vier zusteuerte. Als die Dame bemerkte, dass Rose ihr zögernd folgte, blieb sie stehen und fragte: »Wollen Sie auch zu Doktor Dalgrave, meine Liebe?«
Rose räusperte sich. »Ja, ich bin zum ersten Mal hier. Rose Mandeville.«
Die Dame hob erfreut die Augenbrauen und reichte ihr die Hand. »Sie sind Lady Rose! Sie waren mit Christabel im Exil! Kommen Sie, kommen Sie. Oh, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt, Winifred Edgecomb.«
Winifred mochte die vierzig überschritten haben, war von robuster Statur und hatte ein breites einnehmendes Lächeln. Edgecomb war der Name einer Familie aus dem Norden, die dort mit Stahlfabriken zu Geld gekommen war. Auch ein liberaler Politiker dieses Namens amtierte im Parlament. Es gab zahlreiche regionale Gruppen der Suffragetten und Rose
kannte nicht alle Mitglieder, zumal sich die Anhängerinnen von Millicent Fawcett von der WSPU abgespaltet hatten.
»Edgecomb, diesen Namen verbinde ich mit der Politik«, erkundigte sich Rose.
Winifred hatte den Klingelknopf eines Reihenhauses gedrückt. »Mein Bruder ist in der Politik, und was auch immer Sie sonst von den Edgecombs aus York gehört haben, schuldig!« Sie lachte.
Die Tür wurde geöffnet und ein Dienstmädchen bat sie einzutreten. »Sie sind alle oben, Mrs Edgecomb.«
»Danke, Nelly.«
Es stellte sich heraus, dass sich im unteren Teil des Hauses eine Arztpraxis befand. Doktor Dalgrave war praktizierende Ärztin und hatte sich auf Frauenleiden spezialisiert. Und jetzt entsann sich Rose eines Skandals, in den die Ärztin vor mehreren Jahren verwickelt war. Der Abend versprach noch interessanter zu werden, als Rose ohnehin angenommen hatte. Und unter den traurigen Umständen war sie froh, sich für den Besuch der Zusammenkunft entschieden zu haben. Zu Hause hätte sie sich in ihr Zimmer verkrochen und wäre verzweifelt, denn die schwangere Mabel wollte sie mit ihrem Kummer nicht belasten. Kaum war sie von Winifred in die kleine Gruppe eingeführt worden, hatte sie keine Gelegenheit mehr, über das Schicksal ihres Bruders nachzugrübeln.
Sie befanden sich in einem überschaubaren Salon, in dem sich die Versammelten auf ein Sofa, Stühle, Hocker und was sonst als Sitzgelegenheit dienen konnte, verteilten – Frauen, wie sie unterschiedlicher nicht hätten sein können, zumindest rein äußerlich. Millicent Fawcett war mit ihren achtundsechzig Jahren die Älteste, was man ihr aber nicht ansah. Sie verströmte eine Selbstsicherheit und Souveränität, die manchem Staatsmann gut zu Gesicht gestanden hätte. Aristokratinnen, eine Lehrerin, Ehefrauen betuchter Geschäftsmänner, eine
Offiziersgattin und die Witwe eines ehemaligen Konsuls gehörten nebst der Gastgeberin, Doktor Florence Dalgrave, zu den Anwesenden.
Doktor Dalgrave war eine zierliche kleine Frau mit leicht ergrautem Haar und wachen blauen Augen. Eine Frau, der man sich anvertrauen wollte, dachte Rose.
»Wie schön, dass Sie den Weg zu uns gefunden haben, Lady Rose. Hat Ihr Hiersein einen besonderen Grund? Uns ist natürlich bekannt, dass Sie als Aktivistin mit Christabel und Sylvia Pankhurst gearbeitet haben.« Die Ärztin sah sie aufmerksam an.
»Ich bin auf Empfehlung von Doktor Wodehouse hier. Seit Kurzem bin ich im War Office beschäftigt, in der Presseabteilung.« Rose machte eine Pause, bevor sie fortfuhr: »Anfangs hielt ich es durchaus für richtig, dass England in diesen Krieg eintritt, aber die brutale Realität hat mich eines Besseren belehrt. Doktor Wodehouse erwähnte eine Friedenskonferenz in Den Haag. Im Grunde bin ich deshalb hier. Ich möchte mich für den Frieden einsetzen, nicht für das Töten.«
Die Ärztin saß ihr direkt gegenüber und verriet mit keiner Miene, was sie davon hielt. Millicent Fawcett hingegen stellte klirrend ihre Teetasse ab und sagte: »Sie halten Ihren Sinneswandel wahrscheinlich für äußerst nobel. Aber ich sage, dass Pazifismus die Einstellung der Unentschlossenen, der Blinden ist. Vergessen wir nicht die unerhörte Aggressivität, mit der Preußen gegen Belgien vorgegangen ist und nun alles niedermäht, was dem blutrünstigen Kaiser im Wege steht.«
»Meine liebe Millicent, die Gräuelpropaganda schürt Hass und Wut, fußt jedoch nicht auf belegten Fakten. Da gehe ich ganz konform mit Bertrand Russell«, erwiderte Doktor Dalgrave.
Russell war ein in Cambridge lehrender Philosoph und dafür bekannt, offen gegen die Kriegspropaganda zu sprechen. Er hatte dafür bereits heftige Kritik einstecken müssen.
»Russell, ach ja, und was ist mit den zweiundfünfzig Literaten unseres Empires, die sich in ihrem Manifest sehr deutlich für den Krieg ausgesprochen haben?«, entgegnete Millicent Fawcett, sichtlich aufgebracht. »Namhafte Intellektuelle und Liberale wie Arthur Conan Doyle, H. G. Wells, Gilbert Keith Chesterton oder Arnold Bennett, um nur einige zu nennen, Männer von Geist! Sie sagen, und da schließe ich mich an, dass es unser Schicksal und unsere Pflicht ist, die Rechte unserer Nation, nein, aller rechtsbewussten westlichen Nationen, die einen freien Willen haben, zu verteidigen! Jede freie Nation muss sich und ihre Ideale gegen die Herrschaft von Blut und Stahl der autoritären Kaste Preußens verteidigen!«
Die Offizierswitwe nickte. »Wir führen den Krieg, der den Krieg beenden wird.«
Die Enttäuschung musste sich überdeutlich in Rose’ Miene gespiegelt haben, denn Doktor Dalgrave hob beschwichtigend die Hände. »Meine Damen. Wir alle haben unsere eigenen Ansichten zu dem Thema, aber wir sind übereingekommen, dass wir die Meinung der anderen tolerieren.«
Mrs Fawcetts Lippen wurden schmal, doch sie rang sich ein Lächeln ab. »Aber ja doch, liebste Florence. Sie sind Humanistin und ich kann Ihren Standpunkt durchaus nachvollziehen. Eine Friedenskonferenz von Frauen in Den Haag, mitten im Kriegsgebiet. Vielleicht machen wir uns lächerlich, vielleicht setzen wir ein Zeichen. Wobei ich selbstredend auf Letzteres hoffe.«
Die Gattin des Konsuls, der in Indien tätig gewesen war, meldete sich zu Wort: »Du sollst nicht töten, heißt es in der Bibel. Das Tötungsverbot ist ein göttliches Gesetz und gilt ausnahmslos. Jeglicher Militarismus steht im Gegensatz zum Christentum und ist ein Verbrechen.«
Lady Phyllis, die junge Ehefrau des Earl of Linnsdale, sagte: »Ich bin ganz Ihrer Meinung, liebe Georgina, ich lese sehr viel
lieber Bertha von Suttner als Rudyard Kipling. Und ich habe Kipling immer gern meinen Kindern vorgelesen, aber dass er sich so offen für den Krieg einsetzt, hat mich sehr enttäuscht.«
Die Waffen nieder!,
der Roman der bekannten österreichischen Friedensaktivistin, war in Dutzende Sprachen übersetzt worden.
»Das neue Werk von Geoffrey Buxton finde ich auch sehr beeindruckend. Mir gefällt seine Idee des ursächlichen Pazifismus. Wir müssen die gesellschaftlichen Strukturen ändern, um einen dauerhaften Frieden erlangen zu können. Und in diesem Punkt sind sich doch alle einig, die für die Rechte der Frauen eintreten, oder nicht?«, wagte Rose sich in die Diskussion.
Die Frauen zeigten sich von Rose’ Argumenten angetan und im Verlauf des Abends hatte Rose das Gefühl, sich einen gewissen Respekt erworben zu haben. Besonders mit Lady Phyllis und Doktor Dalgrave sprach Rose wiederholt und sie hatte beide Frauen sofort ins Herz geschlossen.
»Wissen Sie, dass unsere Florence Unglaubliches auf dem Gebiet der Empfängnisverhütung leistet?«, sagte Lady Phyllis leise zu Rose. Die beiden Frauen standen nebeneinander am Fenster des Salons. Lady Phyllis war größer als Rose und trug einen dunklen Pagenkopf, womit die schlaksige Frau androgyn und sehr mondän wirkte.
»Ich bewundere sie für ihre Arbeit!«, kam es ehrlich von Rose.
»Sie hätte beinahe ihre Zulassung deswegen verloren. Dabei will sie nichts weiter, als vor allem den armen Frauen helfen. Wie sollen die denn ein erträgliches Leben führen können, wenn sie jedes Jahr ein Kind zur Welt bringen müssen? Aber das wollen die Herren natürlich nicht hören. Nein, da verurteilt man lieber die Frau Doktor für unmoralisches, unethisches Verhalten. Pah, als ob die Herren wüssten, was das ist …«
»Aber sie wurde nicht verurteilt?«
»Nein, sie hatte einen guten Anwalt.« Lady Phyllis grinste und sah Rose vielsagend an.
»Oh, Doktor Wodehouse!«
Lady Phyllis nickte. »Ganz genau. Ein feiner Mensch. Grundehrlich und das als Anwalt. So jemanden muss man erst einmal finden.«
Rose nickte und in ihrem Magen machte sich ein sehnsüchtiges Ziehen bemerkbar, das sie sofort unterdrückte. »Da kann ich Ihnen nur recht geben. Er ist sehr hilfsbereit. Ohne ihn hätte ich die Stelle im War Office nicht gefunden und wäre heute Abend nicht hier.«
»Woher kennen Sie sich, wenn ich fragen darf?«, wollte Lady Phyllis wissen.
»Durch einen gemeinsamen Freund, Gerald Ridley, Earl of Tredegar.«
»Ach, Tredegar? Die Welt ist klein. Er ist ein Freund meines Mannes. Sie sind im selben Klub und er ist des Öfteren bei uns zu Besuch. Oh, Lady Rose, Sie müssen sehr bald einmal zu uns kommen. Ich würde mich schrecklich freuen, Ihnen meinen Mann und meine Brut vorzustellen.« Dabei zog Phyllis eine Grimasse.
Rose lachte. »Ich kann gut mit Kindern, das habe ich von meiner Freundin Alice Buxton gelernt. Sie ist eine Zauberin, wenn es um Kinder geht.«
»Nein! Sie sind mit der Tochter des berühmten Buxton befreundet? Ach, jetzt sind Sie dazu verdonnert, uns zu besuchen. Nächste Woche? Ja? Gut! Ich schicke Ihnen eine Einladung. Haben Sie eine Karte?«
Nur zu gern tauschte Rose mit der sympathischen Phyllis die Visitenkarten aus und merkte während der Unterhaltung kaum, wie die Zeit verstrich. Die Hälfte der Frauen hatte sich
bereits verabschiedet, als Michael Wodehouse von Nelly in den Salon geführt wurde.
Doktor Dalgrave schüttelte dem Juristen herzlich die Hand. »Michael, wie schön, dass Sie noch gekommen sind. Und wir verdanken Ihnen unseren reizenden Neuzugang.«
Michael nickte Rose und Phyllis zu. »Ich hatte gehofft, dass sich die Damen viel zu sagen hätten. Und wie es scheint, lag ich richtig mit meiner Einschätzung.«
»Wir haben bereits über Den Haag gesprochen, Michael, aber ich habe noch so viele Fragen. Vor allem würde ich gern wissen, ob die Möglichkeit besteht, dass ich mitfahre. Ich spreche fließend Französisch, falls das eine Hilfe ist«, bot Rose an.
Phyllis sah sie bewundernd an. »Die Reise ist strapaziös und führt durch Kriegsgebiet. Das würden Sie auf sich nehmen wollen?«
»Ja, wissen Sie, ich bin einiges gewohnt. Die Zeit im Exil war nicht leicht und englische Gefängnisse verlangen einem einiges an Disziplin und Durchhaltevermögen ab.« Rose machte eine Pause und fügte leiser hinzu: »Und ich hätte die Möglichkeit, nach meinem Bruder zu suchen. Er ist bei Neuve-Chapelle abgestürzt, vermisst, es gibt noch Hoffnung.«
Wodehouse horchte auf. »Seit wann wissen Sie es?«
»Tredegar hat es mir heute Abend mitgeteilt.«
»Selbstverständlich sollten Sie die Hoffnung nicht aufgeben, aber wie stellen Sie sich das vor? Den Haag liegt doch viel weiter nördlich als Neuve-Chapelle. Die Überfahrt von Folkestone nach Calais ist schon lebensgefährlich. Es gibt keine regulären Schiffsverbindungen mehr nach Holland! Und selbst wenn Sie es nach Den Haag schaffen, wie kommen Sie von dort nach Frankreich?«, gab Wodehouse zu bedenken.
Rose sah ein, dass es nicht leicht werden würde, aber aufgeben wollte sie ihren Plan nicht. »Das werde ich vor Ort entscheiden.«
Doktor Dalgrave seufzte. »Wer möchte noch einen Cognac? Wenn der Krieg noch länger dauert, wird bald alles rationiert werden.«
»Darf ich einschenken?« Michael Wodehouse goss den Damen und sich einen kleinen Schluck der goldbraunen Spirituose ein.
Rose nippte an ihrem Glas und schloss die Augen, als die Flüssigkeit ihre Kehle herunterfloss und ihren Magen wärmte. Nach einem Moment wich ihre Angespanntheit und ihre Fingerspitzen, die eiskalt gewesen waren, wurden wieder durchblutet.
»Rose«, sagte Doktor Dalgrave sanft. »Ich kann verstehen, dass Sie Ihren Bruder suchen möchten, aber tot nützen Sie niemandem und ich kann mir nicht vorstellen, dass Ihr Bruder möchte, dass Sie sich seinetwegen in eine derartige Gefahr begeben.«
»Nein«, murmelte Rose. »Das würde er nicht zulassen.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen, als sie flüsterte: »Er ist alles, was ich noch habe. Ich vermisse ihn so sehr.«
»Ach, meine Liebe«, sagte nun Phyllis und legte ihr die Hand auf den Unterarm. »Seien Sie stark! Dieser unselige, schreckliche Krieg dringt in jedes Haus. Keiner von uns kann davor weglaufen. Aber eine Konferenz für den Frieden ist etwas, vielleicht das Einzige, was wir dem Schlachten entgegensetzen können. Florence, können wir Rose nicht auf die Liste setzen?«
Die Medizinerin sah Rose nachdenklich an. »Wenn Sie versprechen, dass Sie bei der Delegation bleiben und sich nicht unerlaubt entfernen und wahnwitzige Alleingänge unternehmen … Können Sie dem mit gutem Gewissen zustimmen, Rose?«
Blinzelnd wischte sich Rose die Augen und nickte. »Ja, das kann ich. Ich gebe Ihnen mein Wort!«
Wodehouse leerte sein Cognacglas und schien anderer Meinung zu sein, doch er sagte: »Wir haben über einhundert Frauen nominiert. Wie viele es genau werden, wird sich in den nächsten zwei Wochen herausstellen.«
»Mehr als zweihundert Teilnehmerinnen dürfen es nicht werden«, erwiderte Florence Dalgrave. »Ich habe mit Doktor Jacobs in Den Haag gesprochen. Sie ist die Organisatorin dort. Sie rechnet mit ungefähr eintausend Teilnehmerinnen aus ganz Europa und den Vereinigten Staaten. Eine Zahl, die das Komitee an seine Grenzen bringen wird.«
»Mein Gott! Das wusste ich nicht! Eintausend Frauen werden sich dort versammeln?«, staunte Rose. »Es wäre mir eine Ehre, dazugehören zu dürfen. Ich sollte gleich morgen einen Bericht für die Presse verfassen. Die Menschen sollten wissen, was wir planen.«
Wodehouse drehte das Glas in seinen Händen. »Sie wissen schon, dass nicht alle unsere Meinung zum Krieg teilen? Pazifisten sind in den Augen der Kriegsbefürworter sentimental und verweichlicht.«
»Schlimmstenfalls nennt man uns Vaterlandsverräter«, fügte Phyllis hinzu.
»Soll ich Ihnen erzählen, wie man uns im Gefängnis und bei unseren Aktionen beschimpft hat?« Rose räusperte sich. »Polizisten haben uns getreten und geschlagen, die Menge hat auf uns gespuckt und uns verhöhnt. Frauen und Männer, es gab keinen Unterschied. Wer sich bedroht fühlt, der schlägt um sich.«
»Landesverrat ist etwas anderes. Die Todesstrafe steht ab jetzt im Raum, Rose.« Florence Dalgrave erhob sich. »Aber ich bewundere Ihren Mut. Michael, Sie kümmern sich um die rechtliche Seite, wie immer, nicht wahr?«
»Papiere, Ausreisegenehmigungen und dergleichen, ja. Aber ich befürchte, dass wir Schwierigkeiten bekommen werden.«
Sie sprachen noch eine Weile über organisatorische Details, bis Doktor Dalgrave die Zusammenkunft auflöste.
Wodehouse lebte in Kensington, was nicht weit von Chelsea entfernt lag. Sein Automobil stand unten an der Straße und Rose spürte die Erschöpfung des langen nervenaufreibenden Tages, als sie neben ihm in den Lederpolstern saß. »Jetzt mache ich Ihnen auch noch Umstände, Michael. Gibt es denn keine Omnibus-Station hier in der Nähe?«
Michael schenkte ihr einen mitleidigen Blick. »Sie nehmen doch nicht ernsthaft an, dass ich eine Dame nachts allein durch London spazieren lasse? Oder noch schlimmer, in einem halb leeren Bus mit zwielichtigem Gesindel fahren lasse. Ihr Mut in allen Ehren, aber das wäre Leichtsinn.«
Es war dunkel und nur wenige Straßenlaternen warfen ihr flackerndes Licht auf die menschenleeren Straßen, die noch nass vom Regen waren. Die Kälte kroch an ihren Beinen hoch und Rose zog den Mantel enger um ihren fröstelnden Körper, während der Motor des Zweisitzers zuverlässig knatterte und Michael das Vehikel an den größten Schlaglöchern vorbeisteuerte. Während er sich auf die Straße konzentrierte, musterte sie ihn von der Seite. Sein Kinn war energisch, der Mund fein geschwungen und wenn er lächelte, bildeten sich Grübchen, die ihm etwas Jungenhaftes verliehen. Am interessantesten jedoch waren seine Augen, die durchdringend und sanft zugleich schauen konnten und die merkwürdigsten Reaktionen bei ihr auslösten.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, wandte er plötzlich den Kopf und lächelte. »Wenn Ihr Bruder noch am Leben ist, werden wir ihn finden. Aber Sie dürfen nichts Unbedachtes unternehmen. Wenn Ihnen etwas zustieße, könnte ich mir das nicht verzeihen.«
Sie schluckte. »Niemand außer mir selbst trägt die Verantwortung für das, was ich tue. Bitte sorgen Sie sich meinetwegen nicht.«
»Nein?« Sie holperten über ein Schlagloch und er sah wieder konzentriert auf die Straße. »Ich kann es nicht ändern, Rose. Ich glaube, das wissen Sie längst.«
»Michael, nicht, ich …«
»Bitte sagen Sie nichts, Rose. Ich möchte Sie nicht in Verlegenheit bringen. Erlauben Sie mir, Ihnen in diesen schweren Zeiten zur Seite zu stehen.«
Als sie ihn ansah, trafen sich ihre Blicke und für einen winzigen Augenblick stand die Zeit still.