23
Dum spiro spero.
(Solange ich atme, hoffe ich.)
Cicero (106–43 v. Chr.)
Der St James’s Park lag auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Vielleicht hätte sie lieber dort warten sollen, dachte Rose und hielt ihren Hut fest, als ein Windstoß durch die Bäume fegte. Warme Juliluft umschmeichelte die Stadt und schenkte für wenige kostbare Augenblicke die Illusion von friedlichen Zeiten. Sie war kurz davor, sich umzuwenden und in den Park zu gehen, als sie sah, wie ein Mann aus der Tür des unscheinbaren, aber eleganten Hauses trat und den Blick suchend über die Passanten gleiten ließ.
Die Londoner Klubs pflegten ein gediegenes Understatement und waren für ihre Diskretion berühmt. Diese Qualitäten bescherten ihnen ungebrochenen Zulauf. Leicht auf seinen Gehstock gestützt, kam der Duke of Mandeville durch den Vorgarten. Ein wenig ängstlich trat sie vor. Gerry hatte ihr zwar versichert, dass es ihrem Vater sehr viel besser ging und er den Krankheitsschub überstanden hatte, dennoch blieb ein Rest an Ungewissheit.
»Guten Tag, Vater!«, sagte sie zaghaft und hielt ihren Schirm umklammert.
Wer nicht wusste, wie krank der Duke war, sah einen stattlichen Mann vor sich, der die Lebensmitte überschritten hatte, sich seiner Position bewusst war und noch immer ein Faible für das schöne Geschlecht hatte. Bevor er seine Tochter begrüßte, schaute er einer attraktiven Dame hinterher, die ihm unter dem üppigen Federdekor ihres Hutes einen einladenden Blick zuwarf.
Rose’ anfängliche Angst schlug in Abscheu um und sie musste sich zu einem Lächeln zwingen. Jetzt bereute sie ihre Entscheidung. Warum hatte sie auch auf dieses Treffen drängen müssen? Reine Sentimentalität, dachte sie und musste Ray im Stillen recht geben. Der Künstler hatte ihr von der Begegnung mit dem Vater abgeraten und sie vor einer weiteren Enttäuschung gewarnt. Eine Gruppe von Rekruten kam vorbei und sang:
»It’s a long way to Tipperary, it’s a long way to go.
It’s a long way to Tiperary, to the sweetest girl I know.
Goodbye Piccadilly,
Farewell Leicester Square!
It’s a long way to Tiperary, but my heart’s right there …«
Ihr Vater blieb stehen und grüßte die Männer respektvoll. Dann erst nickte er seiner Tochter förmlich zu. »Rose, wie geht es dir?«
Ablehnung und Kälte in seiner Stimme hätten nicht deutlicher sein können. »Danke, und dir?«
Die Miene des Duke verhärtete sich. »Danke. Wie du siehst, deutlich besser als bei unserer letzten Begegnung. Wobei ich mich wundere, dass du mich sehen wolltest. Ich habe dir nichts zu geben, Rose, so leid es mir tut.«
Langsam strebten sie dem Eingang des Parks zu, gingen nebeneinander über die gesandeten Wege, vorbei an den prächtigen Blumenbeeten, für die der königliche Park bekannt war. An einem Teich standen Pelikane, die seit Hunderten von Jahren hier beheimatet waren. Der Park war ganz in der Nähe des War Office, der Westminster Abbey und damit unweit des Themse-Ufers gelegen.
»Ich erwarte nichts, Vater. Morgen fahre ich zu den Buxtons. Alice heiratet den Reporter, Lorenzo Ranieri. Du hast von ihm gehört?«
»Ranieri? Nein, der Name sagt mir nichts. Was tut er? Er schreibt für Zeitungen? Nun ja, das passt zu den Buxtons.« Er schwenkte seinen Gehstock und schubste eine Taube aus dem Weg, die an einem Brotstück pickte.
»Ich dachte, dass du Geoffrey Buxton schätzt. Interessiert dich denn gar nicht, wie es ihm und seiner Tochter geht?«
»Gut, nehme ich an. Er schreibt noch immer? Sein letztes Buch war erfolgreich. Seine Tochter erwartet ein Kind. Du siehst, ich bin informiert. Ist das Kind von dem Mann, den sie ehelichen wird?«
»Ja, natürlich! Mein Gott, du bist wirklich kaltschnäuzig.«
Ihre Kritik ignorierend, sagte er: »Bist du auch guter Hoffnung, Rose? Wolltest du mich deshalb treffen? In dem Fall finden wir sicher eine Lösung. Eine Mandeville sollte keinen Bastard gebären müssen.«
»Nein! Bis heute wusste ich nicht, wie gering deine Meinung von mir ist, danke, dass du mir die Augen geöffnet hast. Ich hielt Mutter immer für die Herzlosere, aber du stehst ihr in nichts nach.«
Während des Wortwechsels war ihr Selbstbewusstsein zurückgekehrt. Und gleichzeitig hatte ihr Vater einen wunden Punkt in ihr berührt, ihre Gefühle für Michael Wodehouse.
Hätte sie sich auf ihn eingelassen, wäre sie jetzt vielleicht in genau der Lage, die ihr Vater angesprochen hatte.
»Ach Rose, du warst schon als Kind anders und hast dich gegen die Etikette und die Traditionen gewehrt. Dabei liegt darin auch viel Gutes. Das wolltest du nie einsehen, nicht wahr? Eine klare Ordnung bedeutet Stabilität. Gerät die Hierarchie einer gewachsenen Gesellschaft ins Wanken, bricht alles auseinander. Das dürfen wir ja nun erleben.«
Seine Gesichtshaut war blass, die Wunden zwar verheilt, doch je länger sie spazierten, desto erschöpfter wirkte er. Vor einer Bank blieb der Duke stehen und machte eine einladende Geste.
»Ich habe dazu eine andere Meinung, aber dir meinen Standpunkt zu erläutern, wäre müßig. Irgendwann werden Frauen wie ich sich nicht mehr vor der Allmacht der Familie und vor allem deren männlichen Vertretern fürchten müssen. Wir werden Rechte erhalten, die es uns erlauben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.« Sie sprach mehr zu sich selbst und beobachtete eine Gruppe Spatzen, die sich um einige Krumen stritten.
»Gott bewahre mich vor diesem Tag«, murmelte der Duke.
Seufzend meinte Rose: »Hast du Mutter auf Mandeville besucht? Sie steht ganz allein mit allem da.«
»Der Titel und das Haus sind alles, was sie jemals wollte. Sie kommt zurecht.«
»Aber wir werden alles verlieren, oder nicht?«
Der Duke stieß den Gehstock in den Sand. »Natürlich nicht. Unsinn. Wenn dein Bruder erst zurück ist, wird er sich um alles kümmern. Spencer ist ein guter Junge.«
Ungläubig sah sie ihren Vater von der Seite an. Wusste er noch, was er sagte? »Spence wird noch immer vermisst, Vater.« Sie sprach leise und beobachtete seine Reaktion.
»Wie spät ist es?« Douglas Mandeville zog seine Taschenuhr hervor und klappte den goldenen Deckel auf. »Zeit für Lunch. Im Klub servieren sie …« Er hob den Blick.
»Da ich im Klub nicht willkommen bin, verabschiede ich mich jetzt von dir, Vater.«
Ihr Vater stand umständlich auf und wirkte plötzlich alt und gebrochen. »Alles Gute, mein Kind. Wohin fährst du gleich? Nach Italien zu Alice Buxton? Ist es nicht viel zu heiß dort im Sommer?«
»Ich besuche Alice in Hill House, Vater. Sie heiratet.«
Er winkte ab. »Ja, sicher, das sagtest du. Alice war immer ein wildes Mädchen. Wir hätten dir den Umgang mit ihr verbieten sollen.«
Rose lachte bitter. »Das habt ihr versucht. Alice ist meine beste Freundin und der einzige Mensch, auf den ich mich immer verlassen konnte.«
Daraufhin schwieg ihr Vater.
Rose war schon eine Weile in ihrem Zimmer, um noch einen Koffer für die Reise zu packen, als es an der Tür klopfte. »Ja, nur herein!«
Ray machte eine ungewöhnlich ernste Miene. »Wie weit bist du mit dem Packen, Rose?«
»Beinahe fertig.« Ray und May waren ebenfalls zur Hochzeit geladen und nahmen Rose in ihrem Automobil mit. Der Künstler war nie ein Freund von Pferden gewesen, die er für zu groß, zu kräftig und zu unberechenbar hielt. Ein motorisiertes Fahrzeug erschien ihm wesentlich vertrauenerweckender, obwohl sein rasanter Fahrstil ihn schon mehrfach in gefährliche Situationen gebracht hatte.
»Sag, wann du fahren möchtest, und ich bin so weit«, antwortete Rose, ahnend, dass er aus einem anderen Grund gekommen war.
Tatsächlich fischte er einen Brief aus der großen Tasche seines Malkittels. »Der kam heute Morgen für dich. Ich wollte ihn dir persönlich geben und ich bleibe gern, wenn du ihn nicht allein öffnen möchtest.«
Als sie die militärischen Stempel in englischer und französischer Sprache erkannte, schnürte es ihr die Kehle zusammen. Ächzend sank sie auf die Bettkante und drehte den Umschlag hin und her. Er war in einer ihr unbekannten Handschrift an ihre ehemalige Unterkunft bei Mabel Goodwyn adressiert. Immerhin waren sie nicht im Bösen auseinandergegangen. Mabel schienen ihre harschen Worte im Nachhinein leidgetan zu haben und Rose war nicht nachtragend. Wenn sich jemand entschuldigen konnte, war sie auch in der Lage, die Entschuldigung anzunehmen. Das Feldpostamt der britischen Armee arbeitete zuverlässig und Mabel musste den Brief sofort weitergeleitet haben.
Sie tastete den Brief ab. »Das ist kein Telegramm!«
Die größte Furcht hatten alle Angehörigen vor den offiziellen Telegrammen der Armee. Sie nahm das Obstmesser vom Teller auf dem Tisch und schlitzte den Umschlag auf. Kein Telegramm, kein Begleitschreiben, nur ein Brief, der durchnässt gewesen sein musste, denn die Anschrift war verschmiert und ihr Name und die Adresse kaum lesbar. Erleichtert seufzte sie.
»Sie haben den Brief neu beschriftet, weil er nass geworden ist«, sagte sie und warf Ray einen zuversichtlichen Blick zu, während sie den welligen Umschlag öffnete. Die Tinte auf den Briefbögen war noch leserlich, doch die Handschrift war weiblich und die Sprache Französisch. Rose stutzte und versuchte, den Absender zu entziffern.
»Eine Madeleine Bertrand aus … das kann ich nicht lesen … hat ihn geschrieben. Ich kenne niemanden dieses Namens.«
Ray zog sich einen Stuhl heran und schlug die Beine übereinander. »Mein Französisch ist überschaubar, besser, du liest selbst.«
»Chère Madame, ich schreibe diesen Brief für Ihren Bruder, Spencer, der hier bei uns ist. Bitte machen Sie sich keine Sorgen, es geht ihm den Umständen entsprechend gut!«
Rose stieß einen Freudenschrei aus, schluchzte und küsste den Brief. »Spence lebt, Ray, er lebt! Aber wie, warum?«
Ray war ebenfalls sichtlich bewegt und sagte leise: »Lies weiter, Rose, laut, bitte.«
Die nur angelehnte Tür wurde aufgestoßen und May kam herein. »Was ist denn los? Gute Neuigkeiten, hoffe ich?« Sie stellte sich hinter Ray und legte ihm eine Hand auf seine Schulter.
Er nickte. »Ihr Bruder lebt. Der Pilot, der in …«
Sie zerzauste ihm die Haare. »Natürlich weiß ich, wer ihr Bruder ist und dass er in Frankreich vermisst wird. Wie schön! Was für eine wundervolle Nachricht für eine Hochzeitsfeier!«
Rose wischte sich die Augen. »Ja, das ist wahr. Hört nur, er ist nach seinem Absturz von dieser jungen Frau und ihrer Familie gefunden und in Sicherheit gebracht worden. Ihr Haus befindet sich wohl hinter der deutschen Front, jedenfalls haben sie ihn versteckt, um ihn nicht zu gefährden. Deshalb wusste niemand, wo er ist und ob er noch am Leben ist. Sie schreibt: Ihr Bruder ist ein tapferer Mann, der seine Verletzungen mit Stärke trägt. Die Verbrennungen sind gravierend, aber das Schlimmste war das gebrochene Bein. Der Oberschenkel wollte einfach nicht heilen und wir hatten Angst, dass oberhalb des Knies amputiert werden müsste. Aber er hat es geschafft, meine Großmutter ist eine Heilerin. Sie hat sich große Mühe mit den Kräutern gegeben, die wir noch haben. Die verfluchten Deutschen haben uns fast alles genommen. Wir sind Weinbauern, aber die guten Flaschen haben wir versteckt. Madame, seien Sie versichert, dass Ihr Bruder bei
uns in guten Händen ist. Sobald er transportfähig
ist
und die Lage es zulässt, werden wir ihn zu seiner Einheit bringen. Alles andere wäre für uns und auch für ihn lebensgefährlich. Ihre M.
B.
«
Und dann entdeckte Rose ein Postskriptum, das kaum lesbar mit Bleistift hinzugefügt worden war. »Sag nichts Mutter und Vater, Rosie, ich will so nicht nach Hause kommen. In Liebe, Spence«
»Oh nein, mein armer Spence, was ist dir nur passiert …« Es musste ihm sehr schlecht gehen und sie wollte sich nicht vorstellen, wie er womöglich aussah. Verbrennungen konnten alles bedeuten.
May trat vor, setzte sich neben sie und nahm ihre Hand. »Er lebt, Rose, das allein zählt. Dein Bruder lebt. Das ist ein Geschenk, und Geschenke hinterfragt man nicht.«
Tränen liefen Rose über die Wangen und sie wusste nicht, ob sie weinen oder lachen sollte.