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Hochzeit in Hill House
I am not yours, not lost in you,
Not lost, although I long to be
Lost as a candle lit at noon,
Lost as a snowflake in the sea.
(Ich bin nicht dein, bin nicht in dir verloren,
ich bin es nicht, doch ich ersehn es sehr,
das Licht zu sein, verschluckt vom Sonnenschein,
die Flocke weißen Schnees, gelöst im Meer.)
Sara Teasdale (1884–1933)
Rose hatte Ray gebeten, sie in Mandeville Park abzusetzen. Die Julisonne schien in den Hof, in dem Krankenwagen und Transporter standen. Ein berittener Offizier grüßte sie auf seinem Weg zu den Stallungen. Wie viele ihrer eigenen Pferde wohl noch dort standen, dachte Rose mit einem Anflug von Wehmut. Doch als sie die verwundeten Soldaten an Krücken, mit Arm- oder Kopfbinden und einige mit Augenklappen herumspazieren sah, wusste sie, dass das Anwesen endlich sinnvoll genutzt wurde. Sie hatte noch nie zu den Menschen gehört, die der Vergangenheit nachjammerten und sich selbst bedauerten. Anders als ihre Mutter, die ihre ewige Leidensmiene perfektioniert hatte.
Rose wollte noch einige persönliche Dinge abholen und ihrer Mutter von Spencer berichten. Sie hatte erwartet, Butler Cole zu sehen, doch die Tür wurde von einem jungen Dienstmädchen geöffnet, das sie verschreckt ansah.
»Guten Tag, ich bin die Tochter der Duchess, Lady Rose. Ich glaube nicht, dass wir uns schon begegnet sind?«, sagte sie, als das Mädchen sie mit offenem Mund anstarrte.
»Ich bin Minnie, Lady Rose«, das Mädchen knickste unbeholfen.
Rose trat in die große Halle, die ihr leerer vorkam als sonst, was daran lag, dass die großen römischen Vasen und zwei Skulpturen fehlten. Die Sockel ragten anklagend in den Raum. Die riesigen Ahnenporträts hingen noch immer an den Wänden.
»Obwohl es um euch nicht schade gewesen wäre«, sagte Rose.
»Wie bitte, Mylady?«
»Ach, nicht wichtig. Minnie, weißt du, wo meine Mutter zu finden ist? Und wo ist Cole? Es ist überhaupt sehr still hier.«
Rose schaute sich um und vermisste herumeilende Dienstboten und das Geklapper von Geschirr.
»Mr Cole hat uns verlassen. Es sind nicht mehr viele vom alten Stab da.« Minnie sah verlegen zu Boden. »Die Duchess zahlt kaum noch Gehälter aus.« Die letzten Worte flüsterte sie.
»Das ist schlimm. Tut mir leid, Minnie. Wer hat jetzt die undankbare Aufgabe, sich um meine Mutter zu kümmern?«, fragte Rose mit einem Augenzwinkern.
Minnie errötete. »Ich teile mir die Arbeit mit Philline. Sie ist aus Belgien und musste fliehen, als die Deutschen ihr Dorf zerbombt haben. Ihre ganze Familie ist dabei gestorben. Ist das nicht furchtbar?«
»Wie entsetzlich. Das arme Mädchen!«
»Minnie!«, ertönte eine durchdringende Stimme aus dem ersten Stock. »Was treibst du unnützes Ding da unten?«
Bevor Minnie antworten konnte, schüttelte Rose den Kopf und sagte leise: »Lass mich gehen.«
»Oh nein, das geht nicht, Mylady, dann wird die Duchess sehr böse.« Das eingeschüchterte Mädchen rannte die Treppe hinauf.
Rose folgte gemächlicheren Schrittes und nahm die zahlreichen hellen Flecken entlang der Wände wahr. Der Ausverkauf hatte begonnen. Nicht einmal der Schein wurde noch gewahrt, man ließ keine Kopien mehr anfertigen. Sie fand ihre Mutter auf einer Chaiselongue vor den geöffneten Fenstern im Salon ihres Schlafzimmers. Die Gardinen bauschten sich leicht im Wind und auf dem Tisch neben der Duchess standen eine Wasserkaraffe, Gläser, eine Etagere mit Gebäck und eine silberne Teekanne. Eine Frage der Zeit, wann auch das Silber veräußert werden würde, dachte Rose kühl.
»Das Gebäck ist trocken. Wer kann denn so was essen! Sag der Köchin, sie soll sich mehr bemühen«, beschwerte sich Margret Mandeville.
Dünner Musselin umfloss den hageren Körper der Duchess, die sich mit einem Fächer Luft zuwedelte.
»Guten Tag, Mutter!« Rose trat um das Liegemöbel und beugte sich vor, um ihre Mutter auf die Wangen zu küssen.
Diese erstarrte vollkommen überrascht, fing sich jedoch rasch und zeterte: »Jetzt lässt du dich blicken? Jetzt, wo alles verloren ist. Hast du gesehen, wie es hier zugeht? Inkompetentes Personal, das mich zur Verzweiflung treibt! Jede Kleinigkeit muss ich erklären, da kann ich ja gleich selbst hinuntergehen und …«
Seufzend ließ Rose sich in einen Korbsessel sinken, der vor dem Fenster stand. »Schön, dass es dir gut geht. Wenn das deine einzigen Sorgen sind … Meine Güte, hörst du dir eigentlich zu?«
Die Augen der Duchess funkelten die Tochter wütend an. »Du hattest ja noch nie Respekt vor deiner Familie. Unterbrich mich nicht, wenn ich rede!«
»Ich bin hier, weil Alice heiratet.«
»Sie haben mich eingeladen, so viel Anstand haben sie, diese Künstler dort drüben. Aber ich werde nicht hingehen. Wie auch? Ich kann mich nirgends mehr sehen lassen. Alle zerreißen sich doch schon die Mäuler über uns. Daran ist allein dein Vater schuld und dann du. Hättest du einen amerikanischen Unternehmer oder Tredegar geheiratet, wären wir saniert gewesen. Aber nein, das Fräulein treibt sich lieber mit diesen Mannweibern herum und schwingt große Reden über das Wahlrecht!«, redete ihre Mutter sich in Rage. »Und was hat es dir gebracht? Nichts, gar nichts! Ich bin nicht so einfältig oder borniert, wie du sicher annimmst. Ich lese die Zeitungen und verfolge die Politik. Die Herren Politiker werden den Frauen nie das Wahlrecht geben. Und wer sorgt für deine Zukunft? Hast du eine Arbeit? Die Tochter eines Duke arbeitet!«
Rose zählte innerlich bis zehn und lächelte, als der Wortschwall verebbte. »Spence ist am Leben. Ich dachte, das interessiert dich.«
Margret Mandeville wurde blass, fächelte sich hektisch Luft zu und krächzte: »Gib mir Wasser!«
Rose schenkte ihrer Mutter ein Glas aus der Karaffe ein. Während die Duchess trank und ihr Atem sich beruhigte, erzählte Rose von dem Brief, den sie an diesem Morgen erhalten hatte. »Es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Die Verbrennungen sind wohl sehr schwerwiegend, aber er wird gesund und das ist alles, was zählt, nicht wahr?«, flüsterte Rose mit tränenerstickter Stimme.
Ihre Mutter hatte ein Taschentuch aus ihrem Rock gezogen und presste es gegen Nase und Augen. »Mein Sohn lebt, er lebt. Er wird zurückkommen und uns retten. Ich muss aufstehen und mich um alles kümmern. Es gibt so viel zu tun. Wo fange ich nur an? Als Erstes werde ich die Verkäufe rückgängig machen. Er kann doch nicht in ein leeres Haus zurückkehren. Oh, welche Freude! Wann kommt er?«
»Davon stand nichts in dem Brief und ich glaube auch nicht, dass es sehr bald sein wird. Er ist ja noch nicht einmal transportfähig.«
»Nein, aber es kann nicht lange dauern. Da bin ich mir sicher. Wenn er nur weiß, wie schlimm es um Mandeville steht. Ich werde ihm gleich schreiben. Hat er meine Briefe erhalten? Nur zweimal hat er geantwortet. Dabei muss er doch wissen, wie sehr ich auf seine Nachrichten warte. Das ist es, was mich noch am Leben hält. Spencer, mein guter Junge. Er war schon als Kind besonders intelligent und hat uns nur Freude gemacht.«
Rose erhob sich. Es wurde Zeit zu gehen.
Der Spaziergang durch den Wald half, die aufwühlende Begegnung mit ihrer Mutter schneller verblassen zu lassen. Tief atmete Rose den Duft der Tannen und Eichen ein. Obwohl an einigen Stellen gerodet worden war, kannte sie noch immer jeden Winkel des Waldes, erinnerte sich an jeden Pfad, den sie als Kind Hunderte Male mit ihren Freundinnen entlanggelaufen war. Die Tasche über ihrer Schulter wurde mit jedem Schritt schwerer, doch sie hatte so viele ihrer Kleider mitgenommen, wie sie tragen konnte. In der Nähe hörte sie es plätschern und schmunzelte, denn das Geräusch stammte von dem See, in dem sie oft mit Alice und Vera gebadet hatte.
Kurz darauf flogen zwei Enten auf und Rose ging weiter, bis sie das Tor an der Straße nach Hill House erreichte. Zuerst sah sie das Cottage unten in den Wiesen, dann die Kinder und dann glitt ihr Blick hinauf zu jenem ungewöhnlichen Haus auf dem Hügel – Hill House. Der halbrunde Turm schimmerte weiß im Sonnenlicht, die meisten Fenster des Gebäudekomplexes waren geöffnet, sie erkannte die Hecken, den Rosengarten und die Zypressen und hörte Gelächter und Musik. Dora entdeckte sie und half ihr, die Tasche hinaufzutragen.
»Miss Alice ist sicher auf der Terrasse. Das Laufen fällt ihr jetzt schwer.« Dora lächelte. »Bald ist sie nicht mehr Miss Alice, sondern Mrs oder Signora, das kann ich mir gar nicht vorstellen.«
Rose lachte. »Alice wird immer unsere Allie bleiben, ob Mrs oder nicht. Oh, da sehe ich sie schon!«
Sie waren durch den unteren Garten bis zu den Mühlsteinen gelangt, von wo sie auf die Terrasse und den Kräutergarten schauten. Musik kam von einem Grammophon, das draußen auf einem Tisch stand. Ray und Geoffrey unterhielten sich, genau wie May und Lorenzo. Der Italiener stand neben der Sonnenliege seiner Braut, deren Gesicht von einem großen Strohhut verborgen wurde.
»Allie!«, rief Rose überglücklich, winkte den Gästen zu, hatte jedoch nur Augen für ihre Freundin, deren Leib sich deutlich sichtbar unter ihrem Kleid wölbte.
Alice Buxton schob den Hut etwas nach hinten und rückte mühsam nach vorn. »Rosie, oh wie schön, dass du endlich da bist! Wir warten schon alle auf dich!«
Die Freundinnen begrüßten sich innig und wischten sich beide einige Freudentränen von den Wangen.
»Du siehst wunderbar aus, Allie!« Rose strich der werdenden Mutter über den Bauch. »Wie geht es dir da drinnen, hm?«
»Oh, sie strampelt schon kräftig.« Alice streckte die Hand nach Lorenzo aus, der sie ergriff und küsste.
»Wir sind nun ziemlich sicher, dass es ein Mädchen wird, Rose. Ich bin so glücklich und wünschte nur, ich könnte bis zur Geburt bleiben.« Lorenzo Ranieri wirkte ein wenig dünner als bei ihrer letzten Begegnung, die Schatten unter seinen Augen waren größer, doch er strahlte das Glück und die Zuversicht eines werdenden Vaters aus. Und wenn er Alice ansah, lag so viel Liebe in seinem Blick, dass Rose hätte weinen können. Sie freute sich über die Maßen für ihre Freundin, die ein so großherziger und mitfühlender Mensch war.
Nach und nach kamen die anderen und begrüßten Rose, die sich erst jetzt fühlte, als wäre sie nach Hause gekommen. Geoffrey Buxton trug einen leichten Sommeranzug und wollte ihr eben ein Glas Champagner reichen, als er zögerte.
»Rose, eine fehlt doch noch. Wo ist sie denn?« Er sah zum Haus und dann erschien eine schmale Frauengestalt in der Tür zum Salon.
Es war, als wehte plötzlich ein Hauch von den Schlachtfeldern zu ihnen herüber. Vera Lyttleton trug die hellgraue Ausgehuniform der Schwestern, ihre kinnlangen Haare hatte sie hinter die Ohren gestrichen, doch um ihren Mund spielte ein erwartungsvolles Lächeln.
»Vera!«, rief Rose.
Alice nickte. »Ist das nicht wunderbar? Die Überraschung ist mir gelungen, nicht wahr? Ich wollte euch alle hier zusammenhaben.«
Rose kannte ihre Freundin zu gut, um den wehmütigen Klang in ihrer Stimme nicht zu hören. Schmerzlich vermisst wurden ihre Tante Charlotte und Sebastian Fitzroy. Doch in ihren Herzen waren alle anwesend und nur das zählte.