Kapitel 1 - Jesus, ein Gelehrter seiner Zeit

War Jesus ein Rabbi?

Warum wurde Jesus mit Rabbi angeredet? Um das zu verstehen, brauchen wir Informationen darüber, was wir uns unter einem Weisen bzw. einem Gelehrten im ersten Jahrhundert in „Eretz Israel“ vorzustellen haben und wie er in der jüdischen Gesellschaft der damaligen Zeit wirkte.

Vor Antritt seines öffentlichen Dienstes hatte Jesus bereits die für den damaligen durchschnittlichen Juden gründliche religiöse Ausbildung hinter sich. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hatte er auch einige Zeit bei einem der geachteten Gelehrten in Galiläa studiert. Als er auf der Bildfläche erschien, war er angesehen, von seinen Zeitgenossen als Lehrer geschätzt, wie viele Stellen des Evangeliums zeigen:

Und Jesus antwortete und sprach zu ihm, – Simon, ich habe dir etwas zu sagen. Und dieser sagte, Rabbi, was ist es? (Lk 7,40)

Ein Schriftgelehrter stellte ihm eine Frage, um ihn zu prüfen: Rabbi, was ist das höchste Gebot der Tora? (Mt 22,35–36)

Ein reicher Mann kam zu ihm und sagte: Rabbi, was muss ich Gutes tun, um das ewige Leben zu haben? (Mt 19,16)

Jemand aus dem Volk sagte zu ihm: Rabbi, sag meinem Bruder, dass er das Erbe mit mir teilen soll (Lk 12,13).

Einige der Pharisäer im Volk sagten zu ihm: Rabbi, weise deine Jünger zurecht (Lk 19,39).

Einige der Sadduzäer kamen zu ihm … und sie fragten ihn und sprachen: Rabbi … (Lk 20,27–28)

Wir sehen, nicht wenige redeten Jesus mit Rabbi an: Schriftgelehrte, Pharisäer, Sadduzäer, Reiche, einfache Leute, eben ein breites Spektrum, das dem Lehrer besondere Ehrerbietung entgegenbrachte.

Herkunft von Rabbi

Rabbi ist Hebräisch und stammt von rav, was in biblischem Hebräisch viel, viele, große Anzahl, groß bedeutet. Auch Regierungsbeamte und Armeeoffiziere wurden so angeredet. Zur Zeit Jesu war rav Titel für den Meister eines Sklaven oder Jüngers. Rabbi heißt wörtlich mein Meister, ein Terminus, mit dem Sklaven ihre Herren und Jünger ihren Lehrer grüßten.

Rabbi wandelte sich erst nach dem Jahr 70 n. Chr. von einer bloßen Anrede zum offiziellen Titel eines Lehrers. Genau genommen war Rabbi kein Titel Jesu, dennoch spiegelt die Anrede dem durchschnittlichen christlichen Leser ein klares Bild von Jesus wider. Es weist ihn als anerkannten, populären Lehrer aus, dazu befugt, Schüler um sich zu scharen.

Ein typischer Gelehrter

In den Evangelienberichten tritt Jesus als typischer Weiser des ersten Jahrhunderts auf, er reist von Ort zu Ort; er ist abhängig von der Gastfreundschaft der Leute; er lehrt unter freiem Himmel, in Häusern, in Dörfern, in Synagogen und im Tempel; er hat Jünger, die ihn auf seinen Reisen begleiten. Und genau das muss man sich unter einem jüdischen Weisen damals im Land Israel vorstellen.

Der überzeugendste Beweis für Jesus als Rabbi liegt in seinem Lehrstil. Er bediente sich nämlich der Methoden der Schriftauslegung und Lehre wie alle Gelehrten. Ein einfaches Beispiel ist die Gewohnheit, in Gleichnissen zu lehren. Sie waren so, wie Jesus mit ihnen arbeitete, ein bezeichnendes Element unter den Lehrern des ersten Jahrhunderts in Israel. Mehr als 4.000 haben in der rabbinischen Literatur überlebt.

Reisender Rabbi

Die jüdischen Lehrer im Israel des 1. Jahrhunderts verfügten nicht über Kommunikationsmittel wie wir heute. Darum reisten sie damals den größten Teil ihrer Zeit durchs Land, ähnlich wie die biblischen Propheten, und vermittelten ihre Lehre und Schriftauslegung weiter.

Die Propheten des Alten Testaments reisten in Gruppen von Anhängern, den Söhnen der Propheten (z. B. 2Kö 2,3,5,7,15). Darunter waren keine leiblichen Söhne, sondern Jünger zu verstehen. Das Wort Sohn existierte als Synonym für Jünger auch noch zur Zeit Jesu, wie sein folgender Satz zeigt: Wenn ich die Dämonen durch Beelzebub austreibe, durch wen treiben eure Söhne sie aus? (Lk 11,19).

Wandernde Lehrer

Laut Shmuel Safrai war der Wanderrabbi eher Norm als Ausnahme. Hunderte solcher Propheten zogen im 1. Jahrhundert durch das Land Israel. Diesen Weisen machte es nichts aus, selbst die kleinsten Dörfer zu besuchen und in die entlegensten Teile des Landes zu gehen. Sie unterrichteten in Privathäusern, oft auf dem Marktplatz oder unter einem Baum. Aus den Evangelien erfahren wir, dass Jesus von Ort zu Ort ging, häufig in Begleitung des Volkes. Mk 6,6: Jesus ging von Dorf zu Dorf und lehrte. Er bereiste vor allem Galiläa, besonders das Umland des Sees Genezaret.

Jesus lehrte oft in Häusern, d. h. in Wohnhäusern (Lk 10,38–42), in Synagogen (Mt 4,23) und im Tempel (Mt 21,23; Lk 21,37). Wir sehen ihn auch wie einen typischen Gelehrten seiner Zeit improvisierend im Freien unterrichten. Bildhaft schildert Lk 5,3, wie Jesus vom Boot aus lehrt. Die Speisung der Fünftausend geschah an einem einsamen Ort (Mt 14,13; Mk 6,31; Lk 9,12), und die Bergpredigt hat ihren Namen von der dortigen ländlichen Gegend.

Jünger

Obwohl die Schulklassen oft stark besetzt waren, unterrichteten die Weisen auch gern nur zwei oder drei Schüler, Talmidim. Sie waren ehrlich daran interessiert, das Leben anderer Menschen zu verändern, indem sie Menschen dahin führten, das Joch der Tora auf sich zu nehmen – ein rabbinischer Ausdruck für: die Herrschaft Gottes ins Leben lassen. Um dies zu erreichen, schulten sie nicht nur fortgeschrittene Leute, sondern auch die Masse der Bevölkerung.

Jesus hatte einen inneren Kreis von zwölf Jüngern, die eine besondere Unterweisung genossen. Darüber hinaus rief er auch weitere Leute in die Nachfolge, wie Levi, einen Steuereintreiber. Laut Lk 5,28, ließ er sofort alles stehen und liegen und folgte ihm nach.

Mt 8,19 berichtet von einem Mann, den Jesus warnte, er würde einen hohen Preis zahlen müssen, wenn er zu voreilig ausrief: Rabbi, ich will dir folgen wo immer du auch hingehst! Zwei Jüngerschafts-Kandidaten wurden von Jesus zurechtgewiesen, als sie ihn um Erlaubnis baten, wichtige familiäre Angelegenheiten zu regeln, bevor sie seinem Ruf Folge leisteten (Lk 9,59–62). Jesus rief auch einen reichen Mann und verlangte von ihm, seinen Reichtum aufzugeben, bevor er sein Jünger werden konnte (Mk 10,21).

Die Evangelien zeigen, dass auch andere Jünger zu verschiedenen Zeiten bei Jesus lernten. Maria war eine solche Jüngerin. Als Jesus in ihrem Haus lehrte, verließ sie ihre Pflichten in der Küche und setzte sich zu seinen Füßen, um zu lernen. Sie habe das bessere Teil erwählt, sagte Jesus und verwies dabei auf ihren Wunsch, bei ihm zu lernen (Lk 10,42). Nach Lk 19,37 folgte gegen Ende seines Lebens eine Menschenmenge Jesus nach, die sich freute und Gott pries, als er in Jerusalem einritt. Und Apg 1,15 beschreibt, dass nach Jesu Tod und Auferstehung Petrus zu 120 Jüngern sprach, die sich in Jerusalem versammelt hatten und auf den angekündigten Heiligen Geist warteten.

Handwerker und Händler

Die rabbinische Literatur enthält viele Verbote bezüglich der Berechnung von Preisen für die Lehre der Schrift:

Derjenige, der Profit mit den Worten der Tora macht, zerstört sich selbst (Mischna, Avot 4,5).

Berechne nichts für die Lehre der Tora. Nimm keine Bezahlung dafür an. Niemand sollte Bezahlung für die Worte der Tora bekommen, die der Heilige, gelobt sei er, umsonst gegeben hat. Wenn du Geld dafür nimmst, dass du die Tora lehrst, hast du die Zerstörung der ganzen Welt bewirkt (Derech Eretz, Suta 3,3).

Wegen dieser Vorschriften gingen fast alle Weisen einer kommerziellen Tätigkeit nach. Einige arbeiteten als Schreiber, andere als Schuhmacher, Bäcker oder mit Leder. Jesus war ja auch Handwerker (Mk 6,3); nach Apg 18,3 arbeitete Paulus als Zeltmacher und sorgte so für den eigenen Unterhalt.

Gastfreundschaft

Bei seinen Reisen konnte der Weise im 1. Jahrhundert sehr einfach eine Schule aufbauen, weilte er doch nur sehr kurz an einem Ort. Außerdem war es nicht fair, Leuten am Ort mit dem gleichen Beruf die Arbeit wegzunehmen. Auch konnte nicht immer Arbeit für die große Zahl an Jüngern, die den Weisen begleiteten, gefunden werden. Darum waren der reisende Rabbi und seine Jünger von der Gastfreundschaft und Großzügigkeit der Bevölkerung des besuchten Ortes abhängig.

Der Besuch eines Weisen konnte wenige Tage, einige Wochen aber auch Monate dauern. Die Weisen nahmen keine Bezahlung für die Lehre der Tora entgegen, sie mussten mit der Unterkunft und Verpflegung zufrieden sein – sie selbst und ihre Jünger.

Jesus wollte ganz klar, dass seine Jünger von ihren Gastgebern versorgt wurden, wenn sie zum Lehren unterwegs waren. Einmal sandte er seine Jünger aus und befahl ihnen, nichts mitzunehmen, weder etwas zu Essen noch Geld. Der Arbeiter, sagte er (Lk 10,7), ist seinen Tagelohn wert. Paulus bezieht sich anscheinend auf diese Aussage Jesu, wenn er schreibt: So hat auch der Herr befohlen, dass die das Evangelium verkündigen, sich vom Evangelium nähren sollen (1Ko 9,14).

Zu den Füßen eines Rabbis

Für einen Langzeitjünger bedeutete das Lernen bei einem Rabbi vor allem, unterwegs zu sein. Man musste buchstäblich dem Rabbi folgen, um von ihm zu lernen. Es gibt ein rabbinisches Sprichwort, das dieses Bild des Rabbis im Land Israel verdeutlicht:

Jose ben Joëser sagte: Lass dein Heim einen Versammlungsort für Weise sein, und bedecke dich mit dem Staub ihrer Füße, und trinke ihre Worte voller Durst (Avot 1,4).

Jose ben Joëser lebte in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts v. Chr. und war einer der ersten Weisen, die in der Mischna erwähnt werden. Im Kontext seiner Aussage sollte ein Versammlungsort für Weise als Ort verstanden werden, wo die Weisen ihren Unterricht halten konnten, und nicht als Ort, wo sich Gelehrte untereinander trafen. Wären die Wohnungen nicht den Weisen offen gewesen, hätten diese unmöglich andere mit ihrer Botschaft erreichen können.

Die Geschichte von Maria und Marta in Lk 10,38–42 liefert uns ein gutes Beispiel für eine Familie, die Jose ben Joësers Befehl, gastfreundlich zu den Gelehrten und ihren Jüngern zu sein, befolgte. Diese Familie machte ihr Haus nicht nur zu einem Versammlungsort für den Gelehrten Jesus, es wird ausdrücklich gesagt, dass Maria zu seinen Füßen saß und seine Worte durstig aufnahm, wie Joëser es gesagt hatte.

Mit Staub bedeckt

Schauen wir einmal auf die Fortsetzung der Aussage von Jose ben Joëser: …und bedecke dich mit dem Staub ihrer Füße. Eine Anzahl von Übersetzern der Mischna hat den Satz interpretiert als … und setz dich in den Staub ihrer Füße. Prof. Shmuel Safrai hat jedoch eine andere Interpretation vorgeschlagen, die auf unserer obigen Übersetzung basiert.

Bis heute sind die ungepflasterten Straßen in Israel mit Staub bedeckt. So wirbelten die Menschen, die damals auf den Straßen gingen, eine Menge Staub auf. Jede Gruppe von Jüngern, die einem Weisen folgten, war am Ende der Reise mit Staub bedeckt. Wenn also jemand mit einem Weisen reisen und lernen wollte, musste er sich tatsächlich mit Staub bedecken. Nicht von ungefähr war der Staub der Straße der Ausgangspunkt für die Fußwaschung als Zeichen der Gastfreundschaft Besuchern gegenüber und als praktische Hygiene im Haus (s. Lk 7,44).

Jünger heranziehen

Viele Jünger machen ist einer der ersten drei Sprüche in der Mischna (1,1). Ein Weiser suchte oft eine große Anzahl von Jüngern aus, um sie zu lehren. Im Babylonischen Talmud, Sota 49b, wird beschrieben, dass Gamaliel, der Lehrer des Apostel Paulus, 1000 Jünger hatte, die bei ihm die Tora studierten.

Obwohl Jesus zwölf ständige Talmidim hatte, gab es mit Sicherheit auch solche, die nur kurze Zeit bei ihm lernten. Lk 19,37 berichtet, dass Jesus gegen Ende seines Dienstes von einer Menge von Jüngern nach Jerusalem begleitet wurde. Man kann eine Vorstellung von der Größe der Menge (Lk 19,37) beim Einzug in Jerusalem bekommen, wenn man an die Zahl von 120 Jüngern aus Galiläa denkt, die dort nach der Kreuzigung Jesu geblieben waren (Apg 1,15).

Die zwölf Jünger Jesu waren der innere Kreis. Sie studierten Jahre lang intensiv und erhielten praktisches Training beim Meister. Später wurden sie selbst ausgesandt, um Jünger zu machen und die Lehre Jesu weiterzugeben.

Jünger sein zur Zeit Jesu

Vollzeitige Jüngerschaft

Die Berufung zum Jünger eines Weisen bedeutete im 1. Jahrhundert in Israel oft, dass man seine Verwandten und Freunde verlassen und unter kärglichsten Bedingungen durchs Land reisen musste. Ein Jüngerschafts-Kandidat musste seine Prioritäten kennen.

Wie sagte jener Mann zu Jesus: Ich werde dir folgen, Herr, aber lass mich erst zurückgehen und mich von meiner Familie verabschieden (Lk 9,61)? Jesu Antwort zeigt, dass nur der bei ihm willkommen ist, der sich ihm bereitwillig ganz und gar verpflichtet: Niemand, der seine Hand an den Pflug legt und zurückschaut, ist tüchtig (bereit) für das Reich Gottes.

Das wird durch Jesu Antwort an einen weiteren Kandidaten unterstrichen. Der wollte Jesus nachfolgen, aber erst, wenn er seinen Vater beerdigt hatte. Lasst die Toten ihre Toten begraben, gab Jesus zurück (Lk 9,60; Mt 8,22).

Anscheinend richteten sich Jesu Worte Jesu an Menschen, die er gebeten hatte, ihr Heim zu verlassen und in eine vollzeitige Jüngerschaft einzutreten. Diese Jüngerschaft war ein hervorstechendes Element der antiken jüdischen Gesellschaft.

Opfer

Laut Pea 1,1 gibt es bestimmte Dinge – wie z. B. Vater und Mutter ehren –, von denen ein Mensch auf Erden profitieren kann, während die Hauptsache in der zukünftigen Welt auf ihn wartet. Aber, so der Abschnitt in Pea, das Studium der Tora ist allen diesen Dingen gleich. Jesus sagte es ähnlich: So wichtig es auch ist, die Eltern zu ehren, wichtiger ist es, das Heim zu verlassen und die Tora mit ihm zu studieren.

Für den reichen jungen Mann in Lk 18 bedeutete die Nachfolge Jesu die Aufgabe seines Reichtums. Der Preis war ihm zu hoch, und so wurde er kein Jünger. Petrus erinnerte Jesus daran, dass er und alle, die seinem Ruf folgten, anders waren: Wir haben alles verlassen, um dir nachzufolgen. – Amen!, sagte Jesus. Mit anderen Worten: Ja, ihr habt es getan, und es ist empfehlenswert. Jesus versprach dann jedem für das Opfer der völligen Hingabe um des Reiches Gottes willen etwas von größerem Wert als das, was er aufgegeben hatte, nämlich wahres Glück und dazu ewiges Leben (Lk 18,28–30).

Hingabe

Jesus wollte seine Kandidaten nicht in falschen Erwartungen wiegen. Darum wies er häufig darauf hin, die Kosten abzuwägen, bevor sie einen Vertrag mit ihm schlossen:

Wer unter euch, der einen Turm bauen will, setzt sich nicht vorher hin und berechnet die Kosten, ob er das Nötige zur Ausführung habe? … So kann nun keiner von euch, der nicht allem entsagt, was er hat, mein Jünger sein (Lk 14,28–33).

Er zeigte klar den Grad der Hingabe auf, der von einem Jünger verlangt wurde:

Wenn jemand zu mir kommt und hasst nicht seinen Vater und die Mutter und die Frau und die Kinder und die Brüder und die Schwestern, dazu aber auch sein eigenes Leben, so kann er nicht mein Jünger sein; und wer nicht sein Kreuz trägt und mir nachkommt, kann nicht mein Jünger sein (Lk 14,26–27).

In diesem Kontext hat hassen nicht die Bedeutung, die wir kennen, sondern ist im hebräischen Sinn zu verstehen. Hassen kann nämlich auch weniger lieben bedeuten, oder an die zweite Stelle setzen. In 1Mo 29,31 steht, dass Lea gehasst wurde; der Kontext zeigt aber, dass sie nicht ungeliebt war, sondern lediglich weniger geliebt als Jakobs zweite Frau Rachel. Es heißt ja auch vorher, dass Jakob Rachel mehr liebte als Lea.

Eine zweite Illustration der besonderen hebräischen Färbung des Wortes Hass finden wir in 5Mo 21,15: Wenn ein Mann zwei Frauen hat, eine geliebt, die andere gehasst … Auch hier zeigt der Kontext, dass die gehasste Ehefrau emotional zwar an zweiter Stelle steht, aber nicht wirklich gehasst wird. Jesus sagt hier, dass jeder, der ihn nicht mehr liebt als die eigene Familie oder sich selbst, nicht sein Jünger sein konnte.

Er wies auch auf die Härte des Wanderlebens eines Weisen hin: Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel ihre Nester, aber der Sohn des Menschen hat nicht, wo er sein Haupt hinlegen könnte (Lk 9,57–58). Die Last der Jünger Jesu war schwer, aber sie war der ähnlich, welche die Weisen im 1. Jahrhundert von ihren Jüngern erwarteten, und sie wurde nach den Maßstäben der damaligen jüdischen Gesellschaft nicht als extrem angesehen.

Eine weitere Härte bedeutete für den Jünger die Trennung von seiner Frau. Jünger waren in der Regel ledig, aber da man sehr früh heiratete (normalerweise mit 18 Jahren, so Avot 5,21), hatten viele Jünger Frau und Kinder. Zum Beispiel wird die Schwiegermutter des Jüngers Jesu Lk 4,38 erwähnt. War er verheiratet, brauchte der Mann die Erlaubnis seiner Frau, das Haus länger als dreißig Tage zu verlassen, um bei einem Weisen zu lernen (Mischna, Ketubot 5,6).

Wie ein Vater

Das Leben war rau, es ging aber nichts über das erfrischende Erlebnis, bei einem Weisen zu sein, bei ihm zu lernen und im Kreis seiner Jünger zu leben. Zwischen dem Weisen und seinem Jünger entwickelte sich ein besonderes Verhältnis, ähnlich wie zwischen Vater und Sohn. Tatsächlich war er mehr als ein Vater und sollte laut Mischna vom Jünger mehr geehrt werden als dessen Vater:

Wenn jemand nach verlorenem Besitz seines Vaters und seines Lehrers sucht, hat der Verlust seines Lehrers Vorrang, denn sein Vater hat ihm nur das Leben für diese Welt geschenkt, sein Lehrer aber hat ihm die Weisheit (die Tora), hat ihm das Leben für die zukünftige Welt geschenkt. Aber wenn sein Vater genauso ist wie sein Lehrer, dann hat der Verlust des Vaters Vorrang …

Wenn sein Vater und sein Lehrer in Gefangenschaft sind, muss er zuerst seinen Lehrer loskaufen und danach seinen Vater – es sei denn sein Vater ist selbst Lehrer, dann muss er zuerst seinen Vater loskaufen (Bava Mezia 2:11).

Das mag uns schockieren, dass jemand seinen Lehrer vor seinem Vater loskaufen muss, aber nur, weil wir die gewaltige Liebe und den Respekt der Jünger und der damaligen Gesellschaft für ihre Lehrer nicht verstehen. Ähnlich erbarmungslos erscheint es, dass Jesus seinem Kandidaten nicht erlaubte, sich vor dem Eintritt in die Nachfolge von seiner Familie zu verabschieden. Das war völlig normal für die Zeitgenossen Jesu. Ihnen war klar, was Jesus meinte: Niemand kann mein Jünger sein, wenn er nicht Vater und Mutter, Ehefrau und Kinder, Brüder und Schwestern hasst.

Jesu jüdische Erziehung

Das Neue Testament schweigt völlig über das Leben Jesu nach seinem Auftritt im Tempel im Alter von zwölf Jahren bis zu seinem öffentlichen Dienst im Alter von dreißig Jahren. Was hat er in diesen Jahren getan?

Wir entdecken Jesus bei sorgfältigem Lesen der Evangelien als einen in der Schrift und der umfangreichen religiösen Literatur seiner Zeit unterwiesenen Gelehrten. In unseren Breiten herrscht die Meinung vor, Jesus sei ein einfacher, wenig gebildeter Provinzler gewesen. Dieser Trugschluss ist wohl aus einigen herabsetzenden Feststellungen über Nazaret und Galiläa entstanden, wie z. B. (Joh 1,46): Was kann aus Nazaret schon Gutes kommen! und (Apg 2,7): … sie verwunderten sich und sprachen: Siehe, sind nicht diese alle, die da reden, aus Galiläa?

Diese Worte reflektieren offenbar ein judäisches Vorurteil Galiläern gegenüber. Manche Judäer mögen sich für kultiviert und kosmopolitisch gehalten haben. Für sie waren Galiläer Leute aus der Provinz mit einem groben, ungeschliffenen Akzent.

Das Gegenteil indes scheint zuzutreffen: Die Galiläer waren weltoffener als die Judäer, die mehr im Innern des Landes lebten und sich von den anderen Nationen abgrenzten. Galiläa war darüber hinaus mit seinen vielen Dörfern weit mehr besiedelt. Judäa trug einen wesentlich ländlicheren Charakter.

Ohne Zweifel trug die Verachtung Galiläern gegenüber auch zur Vermutung in Joh 7,15 bei, Jesus habe keine Bildung genossen: Die Juden verwunderten sich und sprachen: Wie kann dieser die Schrift verstehen, wenn er es doch nicht gelernt hat?

Konservative Galiläer

Die genannten Schriftstellen haben die Vorstellung genährt, Jesus und seine Jünger seien ungebildet gewesen, allein aus dem Grund, weil sie aus Galiläa stammten. Erstaunlicherweise übertrafen jedoch Bildungsstand und religiöse Erziehung in Galiläa weitaus den Standard von Judäa. Nach Shmuel Safrai, ehemals Professor an der Hebräischen Universität für jüdische Geschichte in der mischnaisch-talmudischen Periode, übersteigt nicht nur die Anzahl der galiläischen Weisen im 1. Jahrhundert die der judäischen Weisen, auch die moralische und ethische Qualität ihrer Lehren wird höher eingestuft als die ihrer judäischen Gegenüber. (The Jewish Cultural Nature of Galilee in the First Century, Immanuel 24/25 [1990], 147–186) Galiläische Weise aus dem 1. Jahrhundert wie Jochanan ben Sakkai, Chanina ben Dosa, Abba Jose Holikofri von Tivon, Zadok und Jesus von Nazaret vermittelten den Bewohnern von Galiläa ein tiefes Verständnis der Tora.

Zusätzlich zum hohen Wissensstand und der Verehrung der Heiligen Schrift galten die Galiläer damals als religiös konservativ. Der jüdische messianische Nationalismus blühte in Galiläa. Juda der Galiläer z. B. war Gründer der Zeloten-Bewegung. Ebenso brach die große Erhebung gegen Rom 66 n. Chr. nicht in Judäa aus, sondern in Galiläa.

Frühe Erziehung

Was ein junger jüdischer Mann zur Zeit Jesu getan haben mag, finden wir in Avot 5,25, einem Traktat aus einer Sammlung rabbinischer Sprüche, genannt Mischna:

Ein Fünfjähriger für die heilige Schrift, ein Zehnjähriger für die Mischna, ein Dreizehnjähriger für die Mizwot (Bar-Mizwa die religiöse Mannesreife), ein Fünfzehnjähriger für die Gemara, ein Achtzehnjähriger für die Ehe, ein Zwanzigjähriger für das Streben (beruflicher Weg), ein Dreißigjähriger für die Kraft …

Man kann zwar nicht genau feststellen, aus welcher Zeit diese Worte stammen vielleicht sind sie 100 Jahre nach Jesus entstanden –, es gibt aber viele andere rabbinische Hinweise auf den Wert der Kindererziehung, die erhellen, wie der junge Jesus seine Zeit zugebracht haben mag.

Bildung hatte in der jüdischen Gesellschaft einen hohen Stellenwert. In seiner Apologie für das Judentum gegen die Judenfeindlichkeit, Gegen Apion, stellt Josephus, der jüdische Historiker aus dem 1. Jahrhundert, fest:

Vor allem sind wir stolz auf die Ausbildung unserer Kinder, und wir erachten es als die höchste Aufgabe im Leben, unsere Gesetze und die darauf aufbauenden religiösen Handlungen zu beobachten, die wir ererbt haben (Gegen Apion, 1,60).

Der Talmud schreibt sogar die zu bevorzugende Größe einer Klasse vor:

Die höchste Zahl der Grundschüler, die unter einem Lehrer sein sollen, ist 25; wenn es 50 sind, muss ein zusätzlicher Lehrer eingestellt werden; wenn es 40 sind, sollte ein älterer Schüler angestellt werden, um dem Lehrer zu assistieren (Bava Batra 21a).

Hoher Bildungsstand

Im Normalfall hatte jede Synagoge im 1. Jahrhundert ihren eigenen Bet-Sefer (Grundschule) und Bet-Midrasch (Höhere Schule), in denen die Kinder und auch Erwachsene die Tora sowie die mündliche Tradition studierten. Die formale Ausbildung endete im Alter von 12 bis 13 Jahren, dann gingen die Kinder zur Arbeit. Die begabteren Schüler konnten auf eigenen Wunsch ihre Studien im Bet-Midrasch zusammen mit den Erwachsenen fortsetzen, die in ihrer Freizeit lernten. Einige der hervorragendsten Bet-Midrasch-Studenten verließen dann ihr Zuhause, um bei einem bekannten Weisen zu lernen, wozu sie von ihren Familien ermutigt und manchmal auch unterstützt wurden. Nur die Jünger, die wirklich Erfolg versprechend waren, nötigte man zur Fortsetzung ihres Studiums, da ihre Anwesenheit normalerweise für die landwirtschaftliche Arbeit daheim nötig war (Shmuel Safrai, Education and Study of Tora, The Jewish People in the First Century, 2, 953).

Die Vermutung, die Synagoge sei als Ort der Anbetung bedeutender oder heiliger gewesen als die Schule, erweist sich als nicht richtig. Bis heute wird in der jüdischen Gesellschaft dem Bet-Midrasch ein bedeutenderer Platz eingeräumt als der Synagoge nicht, weil Bildung oder Erziehung höher als Anbetung eingestuft werden, sondern weil es im Judentum zwischen beiden keinen Unterschied gibt! In der Tat hat das Judentum das Studium der Tora immer für eine der höchsten Formen der Anbetung gehalten (B. T., Schabbat 30a).

Sorgfältiges Studium

Die jüdische Tradition bewahrt viele Anweisungen zu kontinuierlichem und sorgfältigem Studium, wie zum Beispiel diese Zeilen der Mischna: Übe Disziplin, um die Tora zu studieren; denn du wirst Wissen nicht durch Erbe erhalten (Avot 2,12). Dieser Standpunkt wird auch im Neuen Testament wieder aufgegriffen:

Apg 17,11: Diese aber waren edler als die in Thessalonich; sie nahmen mit aller Bereitwilligkeit das Wort auf und untersuchten täglich die Schriften, ob dies sich so verhielte.

2Ti 2,15: Strebe danach, dich Gott bewährt zur Verfügung zu stellen als einen Arbeiter, der sich nicht zu schämen hat, der das Wort der Wahrheit in gerader Richtung schneidet.

2Pt 1,5: Wendet aber auch allen Fleiß auf

Lernen durch ständiges Wiederholen

Zur öffentlichen Lesung in der Synagoge wurden Schriftrollen benutzt. Das Schrifttum war hoch entwickelt, das schriftliche Material indes kostete viel Geld. Die Manuskripte mussten nämlich von geübten und speziell ausgebildeten Schreibern handschriftlich hergestellt werden. Darum waren Schriftrollen relativ rar, und selbst wenn damals jedes jüdische Haus mindestens eine der zirka 20 biblischen Schriftrollen besaß, hatten doch nur wenige Personen direkten Zugang zu einem größeren Teil der ganzen Bibliothek der religiösen Literatur. Daraus ergab sich ein vorwiegend vom Auswendiglernen bestimmtes Studium. Prof. Safrai schreibt über die Unterrichtsmethoden damals:

Individuelles und Schriftstudium in der Gruppe, Wiederholung der Schriftstellen usw. wurden oft durch lautes Singen durchgeführt. Es gibt ein geflügeltes Wort: Das Zwitschern der Kinder, das Leute wahrnahmen, wenn sie an einer Synagoge vorbeikamen, in der gerade Kinder Verse rezitierten. Auch Erwachsene, individuell und in Gruppen, lasen beim Studieren oft laut; denn es wurde oft geraten, laut zu lernen, und nicht dabei zu flüstern. Das war die einzige Möglichkeit, der Gefahr des Vergessens entgegenzuwirken (The Jewish People in the First Century 2, S. 953).

Für die Weisen war die Wiederholung der Schlüssel zum Lernen, wie es diese Aussagen verdeutlichen: Jemand, der seine Lektion hundertmal wiederholt, ist nicht zu vergleichen mit dem, der sie hundert und einmal wiederholt (B. T., Hagiga 9b). Wenn ein Schüler die Tora studiert und nicht immer wieder durch den Stoff geht, ist er wie ein Mann, der sät ohne zu ernten (B. T., Sanhedrin 99a).

Dem Schüler wurde durch eine Reihe von Methoden beim Auswendiglernen der Lektionen geholfen. Eine Stelle im Talmud (Schabbat 104a) beschreibt sogar bis ins Detail die Gedächtnis fördernden Verfahren beim Erlernen des Alphabets durch kleine Kinder. Grundschüler, die sieben Tage in der Woche lernten, erhielten am Sabbat kein neues Lehrmaterial, sie nutzten vielmehr diesen Tag, das auswendig zu wiederholen, was sie in der Woche gelernt hatten (The Jewish People … 2: S. 954).

Den Schülern machte es Spaß, wenn sie draußen herumstreiften und ihre Lektionen laut wiederholten. Sie wurden aber oft durch die Landschaft abgelenkt. Die Mischna warnt darum ganz speziell:

Jemand, der die Straße entlang geht, seine Lektion wiederholt, das Auswendiglernen unterbricht und ausruft: Welch schöner Baum! oder Welch schönes Feld!, dem wird es angerechnet wie ein Verbrechen, auf dem die Todesstrafe steht. (Avot 3,8)

Dieses wandelnde Auswendiglernen wird noch heute im Orient praktiziert und ist Grundstein des moslemischen Bildungswesens. In der arabischen Welt kann man in Randgebieten von Siedlungen junge Männer dabei beobachten, wie sie die Straße auf und abgehen und anscheinend Selbstgespräche führen. Tatsächlich wiederholen und lernen sie ihre Lektionen, bis sie sie beherrschen.

Die Zeitgenossen Jesu

Von dem, was aus den jüdischen Quellen wie z. B. den oben genannten, herauszulesen ist, kann man sich ein ziemlich genaues Bild davon machen, was Jesus in seiner Kindheit und Jugendzeit tat. Er lernte viel, musste Mengen von Material auswendig lernen die Schrift und Kommentare zur Schrift die ganze religiöse Literatur, die damals zu finden war.

Genau das taten die meisten jüdischen Jungen zur Zeit Jesu. Das Auswendiglernen der Schriftlichen und Mündlichen Tora stellte einen solch großen Teil der jüdischen Bildung dar, dass sehr viele Zeitgenossen Jesu große Teile dieses Materials in ihrem Gedächtnis gespeichert hatten zumindest fast alle Teile der geschriebenen Tora. Professor Safrai sagt dazu:

Jeder kannte die Schrift genau. Schon zu Anfang der Zeit des Zweiten Tempels gab es kaum einen kleinen Jungen auf der Straße, der die Schrift nicht kannte. Laut Hieronymus (342–420 n. Chr.), der in Betlehem lebte und die hebräische Sprache von den jüdischen Einwohnern lernte, um die Schrift ins Lateinische zu übersetzen (Vulgata), gab es kein jüdisches Kind, das nicht die Geschichte von Adam bis Serubabel (d. h. vom Anfang bis zum Ende der Bibel) auswendig wusste. Vielleicht übertreibt Hieronymus hier ein wenig, aber seine Berichte sind zumeist verlässlich (Safrai, Vorlesung vom 5.6.1985).