Nach Ansicht gewisser Kreise innerhalb des Judentums zur Zeit Jesu bringt Armut per se geistlich manchen Vorteil und ist ein Zeichen der besonderen Gnade Gottes. Wenn man Jesu Eingeständnis, der Sohn des Menschen isst und trinkt, und die Anklage gegen ihn, er sei ein Fresser und Säufer (Mt 11,19), prüft, scheint es eher unwahrscheinlich, dass Jesus in diesen Kreisen akzeptiert wurde. Er besaß zu viel von der Mäßigung, welche die meisten Pharisäer auszeichnete. In den Evangelien scheint Jesus manchmal gewisse strikte Ansichten bezüglich Reichtums zu vertreten, bei näherem Hinsehen allerdings, findet man, dass man trennen muss.
Jesus sprach zu ihm: Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nicht, wo er sein Haupt hinlege. (Mt 8,20; Lk 9,58) . Das mag Jesus als erbärmlich arm erscheinen lassen. Doch spiegelt dieses Wort das typische Leben eines Weisen des 1. Jahrhunderts wider. Er war dauernd unterwegs und hatte keine feste Adresse.
Kein Knecht kann zwei Herren dienen; entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird an dem einen hängen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon (Lk 16,13). Liebe und Hass sind im Hebräischen nicht immer identisch mit dem, was sie in der deutschen Sprache bedeuten. Liebe kann, wenn mit Hass verglichen, bedeuten: an die erste Stelle setzen (1Mo 29,31; 5Mo 21,15). In Lk 14,26 (parallel zu Mt 10,37) z. B. wird Jesus mit dem Satz zitiert, dass ein Jünger einen Vater, seine Mutter, seine Frau, seine Kinder, Brüder und Schwestern, ja sogar sich selbst hassen muss. Gewiss meinte Jesus nur, dass seine Jünger ihn mehr als ihre Familien und sich selbst lieben sollten. Geld zu hassen ist in absolutem Sinn der allgemeinen Lehre Jesu und der übrigen Autoren des Neuen Testaments fremd. Wie Paulus 1Tim 6,10 deutlich macht, ist die Liebe zum Geld, nicht das Geld selbst die Wurzel allen Übels.
Er blickte auf und sah, wie die Reichen ihre Opfer in den Gotteskasten einlegten. Er sah aber auch eine arme Witwe, die legte dort zwei Scherflein ein. Und er sprach: Wahrlich, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr als sie alle eingelegt. Denn diese alle haben etwas von ihrem Überfluss zu den Opfern eingelegt; sie aber hat von ihrer Armut alles eingelegt, was sie zum Leben hatte (Lk 21,1–4).
Wir haben hier gewiss nicht die Aufforderung, unser ganzes Geld wegzugeben. Jesus lobte die arme Witwe, weil sie trotz der beiden kleinen Münzen, die sie eingelegt, proportional und als echtes Opfer mehr gegeben hatte als die anderen Leute mit ihren wesentlich höheren Beträgen. Jesus hat wohl etwas Ähnliches herausstellen wollen wie Tobit 4,8–9: Wo du kannst, da hilf den Bedürftigen. Hast du viel, so gib reichlich; hast du wenig, so gib doch das Wenige von Herzen.
Mit dem Befehl Tragt keinen Geldbeutel bei euch, keine Tasche und keine Schuhe (Lk 10,4) scheint Jesus seine Jünger angewiesen zu haben, in Armut zu leben. Dieser Eindruck wird durch die Antwort von Petrus an den Bettler in Apg 3,6 verstärkt, der um Almosen bittet: Silber und Gold habe ich nicht … Wir müssen uns indes vorstellen, dass die Jünger dennoch Geldbeutel, Taschen und Sandalen besaßen – sie sollten sie nur nicht auf diese spezielle Reise mitnehmen. Jesus wollte, dass seine Jünger auf ihrer Predigtreise durch die Familien unterstützt wurden, die sie aufnahmen (Lk 10,7).
Über die Tatsache ihrer Aufnahme durch gastfreundliche Familien hinaus wurden Jesus und seine wandernden Jünger auch von Frauen unterstützt, die sie begleiteten, wie von der Frau eines Beamten von Herodes Antipas. Nach Lk 8,3 dienten diese Frauen ihnen mit ihrer Habe. Offenbar verlangte Jesus von diesen Frauen nicht, ihre Güter den Armen zu geben, sonst hätten sie für Jesus und seine Jünger nichts übrig gehabt.
Das scheint zu belegen, dass Jesus Geld als Mittel zum Guten ansah und nicht als Hindernis für Frömmigkeit. Wenn jemand reich ist, hindert das nicht unbedingt sein geistliches Wachstum. Das Streben nach Reichtum als Hauptziel verhindert den Eintritt in das Reich der Himmel. Eine ähnliche Haltung spürt man im Talmud hinter dem Lob des unbeschreiblich reichen Nakdimon (Nikodemus) ben Gorion, der bei all seinem Reichtum sehr gebefreudig war (Ketubot 66b–67a).
Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, wo sie die Motten und der Rost fressen und wo die Diebe einbrechen und stehlen. Sammelt euch aber Schätze im Himmel, wo sie weder Motten noch Rost fressen und wo die Diebe nicht einbrechen und stehlen (Mt 6,19–20).
Obwohl dieses Wort eine Anweisung zu sein scheint, dem Reichtum der Welt zu entfliehen, weil Jesus Geld als etwas Böses an sich ansah, haben wir eigentlich eine typische Aufforderung vor uns, die Dinge von oben, das Reich des Himmels, mehr zu lieben als Familie, Reichtum usw. Für Jesus schlossen Reichtum und Reich des Himmels einander nicht aus. Das sehen wir aus seiner Anmerkung Mt 6,33: Trachtet zuerst nach dem Reich des Himmels und seiner Gerechtigkeit, und alle diese Dinge werden euch gegeben werden.
Jesus verurteilte keinen, der reich war. Seine Haltung war so, wie wir sie in Derech Eretz Zuta 3,3 finden: Wenn du das Glück hast, Mammon zu besitzen, gebrauche ihn für Almosen, so lange du ihn hast. Erlange (wörtlich „kaufe“) mit deinem Mammon diese Welt und die zukünftige. Genau dieser Gedanke liegt hinter der Ermahnung Jesu Lk 16,9: … euch Freunde zu machen mit dem ungerechten Mammon, so dass wenn er zu Ende ist, ihr aufgenommen werdet in die ewigen Hütten.
Was aber unter die Dornen fiel, sind die, die es hören und gehen hin und ersticken unter den Sorgen, dem Reichtum und den Freuden des Lebens und bringen keine Frucht (Lk 8,14). Nach Jesu Lehre kann Reichtum das geistliche Wachstum mancher Jünger ersticken. Die das Wachstum erdrosselnden Dornen, der Reichtum, sind da nur eine Möglichkeit. Wir müssen bezweifeln, dass er den Eindruck vermitteln wollte, Reichtum sei immer an geistlicher Unfruchtbarkeit Schuld. Reichtum muss einem Menschen kein geistliches Hindernis sein, wenn er damit Armen hilft.
Wie schwer kommen die Reichen in das Reich Gottes! Denn es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als dass ein Reicher in das Reich Gottes komme (Lk 18,24–25). Oberflächlich betrachtet, scheint Jesus zu sagen, Reiche könnten kein ewiges Leben empfangen. In der Tat ist die Metapher vom Kamel und dem Nadelöhr nur eine verbale Karikatur, wie Jesus sie gern gebrauchte. Jesus sagt hier nicht mehr als schon Lk 16,13: Man kann nicht zwei Herren lieben, d. h. sie gleichzeitig an die erste Stelle setzen. Ein Jünger muss wählen, was für ihn am wichtigsten ist – Mammon oder Gott. Solange der Reichtum für einen Jünger nicht wichtiger ist als Gott, solange wie er ihn nicht davon abhält, Gott zu dienen, steht es dem Jünger frei, Besitz zu haben.
Es fehlt dir noch eines. Verkaufe alles, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach! (Lk 18,22). Diese Bedingung scheint er nicht allen Jüngern gestellt zu haben. Sie war spezifisch auf das Herz dieses Mannes zugeschnitten. Jesus wusste, für diesen Mann war Geld das Wichtigste auf Erden. Weil er seinen Reichtum mehr liebte als das Studium der Tora, des Wortes Gottes zu Jesu Füßen, war der Test für seine Nachfolge die Aufgabe seines Reichtums. Das war kein universell gültiger Test, und Jesus hat diese Forderung nicht ständig anderen gegenüber wiederholt, auch reichen Leuten gegenüber nicht. Ein anderer Jüngerkandidat mag darum gebeten worden sein, seinen Beruf oder seine Stellung aufzugeben, um damit unter Beweis zu stellen, dass er das Reich des Himmels wirklich an die erste Stelle setzt.
Die Vorstellung, Jesus habe Pazifismus gelehrt, lässt sich darauf zurückführen, dass man Worte Jesu falsch verstanden hat. Aus einer jüdischen Perspektive gesehen, weisen die Stellen in den Evangelien, auf die sich der Pazifismus beruft, auf eine andere Erkenntnis hin.
Viele Menschen haben Jesus über Jahrhunderte hinweg als Pazifisten par excellence gesehen – aus einem guten Grund. Er war ein Mann, der sich anscheinend eher töten ließ als sich zu verteidigen; ein Mann, der seine Jünger lehrte, nicht zu töten; dem Feind nicht zu widerstehen; die Feinde zu lieben; diejenigen nicht zu fürchten, die den Leib töten; und dass nur diejenigen, die willig sind, ihr Leben zu lassen, es erhalten würden. Die Lehre Jesu scheint manches gemein zu haben mit den Ansichten der bekannten Pazifisten Tolstoi und Gandhi, wobei Tolstoi sich tatsächlich mit seinen Ansichten auf die Stellen in den Evangelien berief.
Wir müssen aber fragen: Lehrte Jesus wirklich, es sei falsch, sich gegen Angriffe zu wehren? Meinte er allen Ernstes, wir sollten dem Bösen nicht widerstehen? Eine derartige Sichtweise scheint dem zu widersprechen, was an anderen Stellen zu lesen ist: In Rö 12,9 zum Beispiel sagt Paulus, dass man das Böse hassen soll, Jak 4,7 dass wir dem Bösen widerstehen sollen. Stellen wie Lk 22 erwähnen, dass die Jünger Jesu bewaffnet waren. Jesus selbst sagte, sie sollten Schwerter kaufen.
Diese scheinbaren Widersprüche können aufgelöst werden, wenn man die hebräischen Nuancen in den Texten der Evangelien erkennt und ein tieferes Verständnis für den jüdischen Hintergrund der Worte Jesu entwickelt.
Ein viel zitierter Vers, der den vermeintlichen Pazifismus Jesu begründen soll, ist Mt 5,21, der meist übersetzt wird: Du sollst nicht töten. Das griechische Wort, das an dieser Stelle mit töten übersetzt wird, ist eine Form des Verbs phoneuo, das in der griechischen Übersetzung der hebräischen Schriften, der Septuaginta, immer als Äquivalent des hebräischen Wortes razach benutzt wurde.
Razach kommt im sechsten Gebot 2Mo 20,13 und 5Mo 5,17 vor. Mit großer Sicherheit zitiert Jesus in Mt 5,21 dieses Gebot. Die Wörter phoneuo und razach sind zweideutig und können, je nach Kontext, sowohl töten als auch morden bedeuten. Gott jedoch verordnete die Todesstrafe für Verbrechen wie absichtlichen Mord (2Mo 21,12–15), Vergewaltigung (5Mo 21,16), Ehebruch (3Mo 20,10; 5Mo 22,22), Wahrsagerei (2Mo 22,18) und andere Straftaten. Darum muss das sechste Gebot als ein Verbot von Mord und nicht der unbeabsichtigten Tötung angesehen werden.
Dessen ungeachtet gebrauchen die King-James-Bibel von 1611 sowie die Revisionen von 1885 (Revised Version) und 1952 (Revised Standard Version) das Wort töten statt morden, wenn Jesu Zitat des sechsten Gebots übersetzt wird. Obwohl neuere Übersetzungen diesen Fehler korrigiert haben, hat das Wort töten in der King-James-Bibel und seinen Nachfolgern sowie in anderssprachigen Übersetzungen die Ansicht der Christen über Selbstverteidigung stark beeinflusst. Ähnliches gilt für die deutschen Übersetzungen.
Eine weitere Aussage, die Jesu Pazifismus zu beweisen scheint, ist Mt 5,39a. Sie wird oft als Widerstehe nicht dem Bösen oder Widerstehe nicht dem, der böse ist übersetzt. Wenn Jesu Wort jedoch ins Hebräische zurückübersetzt wird, begegnen wir einem altbekannten hebräischen Spruch, der, leicht variiert, in Ps 37,1 und Spr 24,19 auftaucht. Diese hebräische Maxime wird normalerweise so übersetzt: Mach dir keine Sorgen wegen der Übeltäter oder Lass dich nicht von Übeltätern beeindrucken. Die Bibelübersetzer haben offensichtlich aus den Kontexten dieser Maxime in Ps 37 und Spr 24, aus denen hervorgeht, dass die Übeltäter vernichtet werden, angenommen, der Gerechte solle wegen der Übeltäter nicht besorgt sein und solle sie auch nicht beachten. Diese Meinung wird durch die zweite Hälfte von Ps 37,1 verstärkt, welche oft als Rat übersetzt wird, nicht eifersüchtig auf die Übeltäter zu sein. So wird das Verb mit beeindrucken und sorgen richtig übersetzt. Trotzdem wird dieses Verb in der Bibel oft im Sinn von Zorn gebraucht. Darüber hinaus legen die beiden Parallelen dieses Verbs als Synonyme für Zorn in Ps 37,8 den Schluss nahe, dass das Verb in Mt 5 auch diese Bedeutung haben muss.
Das in Frage kommende Verb hat die Wurzel ch-r-h mit der grundsätzlichen Bedeutung von brennen. Aus dieser Wurzel leitet sich Zorn ab, eine Bedeutung, die alle hebräischen Wörter mit dieser Wurzel haben (Im Deutschen sind viele Wörter, die mit Feuer oder Brennen zu tun haben, wie heiß bzw. hitzig sein, brennen, kochen Synonyme für Zorn.) In einigen Fällen dieser Wurzel ist Ärger oder Zorn das Resultat von Neid und Eifersucht. Sauls Eifersucht auf David brachte ihn in Rage (1Sam 20,7.30). Diese Nuance von ch-r-h spiegelt sich wider in dem Wort bekämpfen, Jes 41,11, in der Übersetzung der Jewish Publication Society of America: „Beschämt und verdrossen sollen alle sein, die dich bekämpfen.“
Die besondere Verbform in unserem Spruch ist eine Form intensiver Handlung und drückt einen leidenschaftlichen Ärger aus. Diese Wut führt zu einer Gegenreaktion derselben Art. Sie führt zur Rivalität, wo man danach trachtet, besser zu sein als der andere, und in jeder Runde des Wettstreits nehmen Ärger und Gewalt zu. Auf diese Weise tritt man dem Bösen mit denselben Mitteln entgegen, d. h. wir vergelten denen, die uns Böses tun, mit Bösem.
Die New-English-Bible-Übersetzung von Ps 37,1 und 8 ist einzigartig (ins Deutsche wie folgt übertragen, Anm. d. Übers.): Bemühe dich nicht, die Übeltäter zu überragen. Sei nicht zornig … suche das Böse nicht zu übertreffen. Wie es scheint, haben die Übersetzer dieser Bibelversion als einzige den besonderen Sinn des Verbs begriffen im Sinne von Rivalität und Wettstreit.
Die Good News Bible ist anscheinend die einzige Übersetzung des Neuen Testaments, die Mt 5,38–39 an der betreffenden Stelle mit Rache wiedergibt: … übt nicht Rache, wenn euch jemand etwas Böses tut. Seltsamerweise folgt keine andere Version dieser Übersetzung. Auf Ich sage euch aber gebietet der Kontext Du sollst dich nicht rächen, da der erste Teil des Verses 39 von Auge um Auge spricht, mit anderen Worten, von einer Strafe, die Gleiches mit Gleichem vergilt.
In umgangssprachlichem Deutsch würde Mt 5,39a lauten: Versuche nicht, es den Übeltätern mit gleicher Münze heimzuzahlen. Es den Übeltätern nicht gleichzutun, ist etwas anderes, als den Übeltätern nicht zu widerstehen. Jesus lehrte nicht, man solle sich dem Bösen nicht unterwerfen, sondern man solle nicht die Rache suchen gemäß Spr 24,29: Sprich nicht: Wie einer mir tut, so will ich ihm auch tun und einem jeglichen sein Tun vergelten. Was Jesus sagte, hat nichts damit zu tun, einem Mörder zu begegnen oder einem Feind im Krieg gegenüberzustehen.
Die falsche Übersetzung von Matthäus 5,39a hat einen theologischen Widerspruch hervorgerufen; wenn man jedoch die Worte Jesu korrekt übersetzt, dann harmonieren sie mit anderen Bibelstellen des NT:
1Th 5,15: Seht zu, dass niemand einem anderen Böses mit Bösem vergelte, sondern strebt allezeit dem Guten nach gegeneinander und gegen alle!
1Pt 3,9: Vergeltet nicht Böses mit Bösem oder Scheltwort mit Scheltwort, sondern im Gegenteil segnet, weil ihr dazu berufen worden seid, dass ihr Segen erbt!
Röm 12,14.17–19: Segnet, die euch verfolgen; segnet, und flucht nicht! Vergeltet niemand Böses mit Bösem; seid bedacht auf das, was ehrbar ist vor allen Menschen! Wenn möglich, soviel an euch ist, lebt mit allen Menschen in Frieden! Rächt euch nicht selbst, Geliebte, sondern gebt Raum dem Zorn! Denn es steht geschrieben: „Mein ist die Rache; ich will vergelten“, spricht der Herr.
Oder Jesus Mt 5,44: Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde, und betet für die, die euch hassen.
Unsere Antwort auf das Böse hat mit Widerstand zu tun – es ist moralisch falsch, das Böse zu tolerieren. Trotzdem sollen wir Liebe für den Übeltäter zeigen. Es muss beachtet werden, dass Liebe und Gebete für Feinde nichts damit zu tun haben, dass man sein Leben in der Gefahr nicht verteidigen muss. Wir sind moralisch dazu verpflichtet, das Leben zu verteidigen, auch das eigene. Jesus lehrte nie, man dürfe sich bei Lebensgefahr nicht verteidigen. Er lehrte seine Jünger jedoch, immer zu vergeben und nicht die Rache zu suchen gegen diejenigen, die sie angreifen. Spr 20,22 rät: Sprich nicht: Ich will Böses vergelten. Harre des Herrn, der wird dir helfen! Wir sollen nicht auf die Übeltat gegen uns mit einer gleichen Tat antworten. Das verlängert nur das Böse. Wir sollen nicht vom Bösen überwunden werden, sondern das Böse mit dem Guten überwinden (Rö 12,21).
Eine pazifistische Interpretation der Worte Jesu widerspricht nicht nur vielen Bibelstellen, Pazifismus war auch nie Teil des jüdischen Glaubens. Laut der Heiligen Schrift ist zum Beispiel jemand, der einen Einbrecher in der Nacht tötet, nicht schuldig des Mordes, 2Mo 22,1: Wenn ein Dieb ergriffen wird beim Einbruch und wird dabei geschlagen, dass er stirbt, so liegt keine Blutschuld vor. Die Überlegung ist, dass ein Einbrecher bereit ist, die Person zu töten, die ihn beim Diebstahl überrascht, darum darf man dem Dieb zuvorkommen.
Die jüdische Haltung zu diesem Thema ist in der rabbinischen Regel enthalten: Wenn jemand kommt, um dich zu ermorden, dann komme ihm zuvor und töte ihn zuerst. Die Weisen lehrten, dass, wenn jemand Gefahr läuft getötet zu werden, er sich verteidigen solle, selbst wenn ein Funke von Zweifel über die Motive des Angreifers bestand. Darüber hinaus ist man verpflichtet, wenn das Leben eines anderen Menschen bedroht ist, den Mord zu verhindern, selbst wenn der Angreifer dabei getötet wird. Die Rabbinen bestimmten, dass ein Mensch, der beabsichtigte, jemanden umzubringen, selbst getötet werden solle. In diesem Licht ist es sehr unwahrscheinlich, dass Jesus, ein Jude des ersten Jahrhunderts, Pazifismus vertreten hat.
Wenn wir die Worte Jesu aus einer hebräisch-jüdischen Perspektive untersuchen, entdecken wir, was durch eine falsche Übersetzung und durch mangelndes Wissen über das Judentum verdunkelt wurde. Die Bibelstellen, die man zur Unterstützung des Pazifismus heranzieht, verurteilen die Rache, nicht die Selbstverteidigung! Es verwundert nicht, wenn diese Interpretation mit anderen Lehren Jesu und dem Rest der biblischen Lehre übereinstimmt.
Im ganzen Lukasevangelium gibt es nur einen Textzusammenhang, in dem die Verben scheiden und heiraten zusammen erscheinen. Dieser Abschnitt – es handelt sich um einen einzigen Vers – müsste dazu beitragen, Jesu Haltung hinsichtlich einer Scheidung und Wiederverheiratung richtig zu verstehen. Über die Bedeutung dieses Textes jedoch herrscht unter den Gelehrten keine einheitliche Meinung: Jeder, der seine Frau entlässt und eine andere heiratet, begeht Ehebruch; und jeder, der die von einem Mann Entlassene heiratet, begeht Ehebruch Lk 16,18.
In der ersten Hälfte von Lk 16,18 scheint Jesus zu lehren, dass ein Mann, der seine Frau entlassen hat, nicht wieder heiraten darf, d. h. Jesus würde einen Mann, der zwar seine Frau entlassen hat, aber nicht wieder heiratet, nicht als Ehebrecher bezeichnen. Im zweiten Teil des Verses scheint Jesus zu sagen, dass kein Mann eine entlassene Frau heiraten darf. Wird diese vereinfachte Interpretation eines schwierigen Verses der Art und Weise gerecht, wie Jesus der Tora gegenüberstand?
Lk 16,18 ist sehr semitisch, d. h. es enthält einige semitische Redewendungen, ein Zeichen dafür, dass Jesus diese Worte entweder in der hebräischen oder in der aramäischen Sprache gesagt hat. Mitglieder der Jerusalem Schule für synoptische Forschung haben festgestellt, dass das wirksamste Mittel, an einen Schriftabschnitt der synoptischen Evangelien heranzugehen, das ist, dass man zuerst den griechischen Text ins Hebräische übersetzt und dass man dann diese hebräische Rekonstruktion im Licht der jüdischen Exegese des 1. Jahrhunderts betrachtet.
Während das englische (wie auch das deutsche) Wörtchen und die Bedeutung von auch, ebenso oder eines Kommas haben kann, um Wörter, Satzteile oder ganze Sätze miteinander zu verbinden, ist das hebräische Wörtchen und weitaus vielfältiger einsetzbar, und zwar als aber, oder, so, dann, weil, darum, nämlich, zumal, während, im Gegenteil und mehr. Das Hebräische setzt oft das vav dort ein, wo im Deutschen überhaupt kein Wort stehen würde. In solchen Fällen ist es am besten, wenn man beim Übersetzen das und ganz fallen lässt. In vielen Fällen kann sogar die wahre Bedeutung des vav verdunkelt werden, wenn man es mit und übersetzt.
Das entsprechende griechische Wort kai – und, in einigen Fällen auch aber, auch, sogar – hat ebenso wie das deutsche und bei weitem kein so breites Bedeutungsspektrum wie das hebräische vav. In Wörterbüchern für neutestamentliches Griechisch wird auf den Gebrauch des kai in den Evangelien hingewiesen, in vielen Fällen aber handelt es sich eigentlich nur darum, dass das kai in typisch semitischem und nicht griechischem Sinn gebraucht wurde. Und das wiederum kann wenig Licht auf die Sache werfen. In der Regel wissen die Übersetzer des Alten Testaments um die vielen idiomatischen Verwendungsmöglichkeiten von vav, ihre Kollegen aber vom Neuen Testament haben erst damit begonnen, die kais der Evangelien zu betrachten. Offensichtlich sind die Evangelien stark von jüdischem Denken beeinflusst, und wenn es stimmt, dass Jesus hauptsächlich Hebräisch gesprochen hat, können deutsche oder englische Übersetzungen das eigentliche Ziel nicht erreichen, wenn sie den hebräischen Hintergrund nicht genügend würdigen. Wenn man kai buchstäblich als und übersetzt, kann das genauso verkehrt sein, wie wenn man jedes vav in den Hebräischen Schriften mit einem und wiedergibt.
Weitere Bedeutungen von vav sind um zu oder damit oder so dass. Die Gelehrten nennen dieses vav „das und des Zweckes oder der Absicht“. Es kommt im biblischen Hebräisch sehr oft vor, zum Beispiel: Lass mein Volk ziehen, und sie werden (damit sie) mir in der Wüste dienen … (2Mo 7,16)
Offensichtlich erscheint das griechische und im Sinne von damit bzw. um zu im Gegensatz zum normalen griechischen Gebrauch in den ersten drei Evangelien. Ein Beispiel davon mag Lk 16,18a sein: Jeder, der seine Frau entlässt und eine andere heiratet, begeht Ehebruch. Die Bedeutung von um zu passt besser für diesen Vers als ein simples und. Der griechische Text lässt sich sehr leicht und glatt ins Hebräische übersetzen: kol ha-megaresch et ischto ve-nosse acheret menaef. Man kann bzw. müsste ihn so übersetzen: Jeder, der seine Frau entlässt (und eine andere heiratet), damit er eine andere heiratet, begeht Ehebruch.
Das und im Sinne von damit bzw. um zu wird auch in der Mischna oder dem Mittel-Hebräisch, d. h. dem Hebräisch bezeugt, das nach Meinung zahlreicher Gelehrter Jesus gesprochen hat. Nehmen wir z. B. Wer wünscht, dass seine Frau stirbt und (damit er …) er ihren Besitz erbt und (damit er …) ihre Schwester heiratet … (Tosefta, Sotah 5,10).
Den Hintergrund des Wortes Jesu bildet anscheinend eine Debatte zwischen den Schulen von Schammai und Hillel hinsichtlich der Gründe für eine Scheidung. Die Auseinandersetzung dreht sich um die Interpretation eines Ausdrucks in 5Mo 24,1: Wenn ein Mann eine Frau nimmt und sie heiratet und es geschieht, dass sie keine Gunst in seinen Augen findet, weil er etwas Anstößiges an ihr gefunden hat und er ihr einen Scheidebrief geschrieben, ihn in ihre Hand gegeben und sie aus seinem Haus entlassen hat …
Der Ausdruck Anstößiges (wörtlich: Anstößigkeit des Dings, der Sache) ist dunkel. Das führt konsequenterweise zu einer Reihe von Interpretationen, wie die rabbinische Debatte zeigt:
Die Schule von Schammai sagt: Ein Mann darf seine Frau nicht entlassen, es sei denn er habe eine Anstößigkeit bei ihr gefunden, denn es steht geschrieben: weil er etwas Anstößiges an ihr gefunden hat. Die Schule von Hillel dagegen sagt: Er darf sie auch dann entlassen, wenn sie eine Mahlzeit (für ihn) verdorben hat; denn es steht geschrieben: … weil er etwas Anstößiges an ihr gefunden hat. Rabbi Akiva sagt: selbst wenn er eine andere schönere Frau als sie gefunden hat; denn es steht geschrieben: … dass sie keine Gunst in seinen Augen findet (Mischna, Gittin 9,10).
Nach Schammais Auslegung muss die Betonung auf das Wort Anstößiges gelegt werden. Aus diesem Grund dreht er die Reihenfolge im Hebräischen um und sagt: Ein Ding der Anstößigkeit, d. h. etwas Anstößiges, Unanständiges. Nach seiner Ansicht kann nur eheliche Untreue der Grund für eine Scheidung sein. Nach Hillel jedoch sollte die Betonung auf Ding liegen. Nach seiner Auffassung kann ein Mann seine Ehefrau aus irgendeinem Grund entlassen, zum Beispiel wegen ihrer Mangelhaftigkeit oder wegen irgendeiner Tat, die ihn beleidigt hat. Er darf sie sogar dann entlassen, wenn sie seinen Toast verbrannt hat. Rabbi Akiva stimmt darin überein, dass es das Recht des Ehemannes ist, seine Frau aus irgendeinem Grund zu entlassen, und belegt das mit einem extremen Beispiel: Ein Ehemann darf seine Frau auch dann entlassen, wenn er eine Frau findet, die ihm besser gefällt.
Ein Schlüssel zur Aussage Jesu ist das Wort eine andere in Akivas Feststellung: selbst wenn er eine andere schönere Frau als sie gefunden hat. Dass Jesus dieses Wort auch in einem Zusammenhang mit einer Scheidung gebraucht, lässt es wahrscheinlich werden, dass er sich einem Gesichtspunkt widersetzt, wie Rabbi Akiva ihn verteidigte (obwohl Akiva etwa hundert Jahre nach Jesus lebte, zeigt Lk 16,18a, dass diese Ansicht bereits zur Zeit Jesu gängig war). Hier äußert Jesus eine halachische Meinung. Mit Schammai erklärt er, dass es für eine Scheidung nur einen einzigen Grund gibt: eheliche Untreue.
Aus inneren und äußeren Beweisen heraus ist die Jerusalem Schule zu dem Ergebnis gekommen, dass die früheste Form der synoptischen Evangelien-Tradition in der hebräischen Sprache überliefert wurde. Darum wendet sie bei der Bewertung von Evangelientexten den Test problemlosen Übersetzens an, d. h. man stellt fest, ob der betreffende Abschnitt leicht ins Hebräische übersetzt werden kann. Wenn das der Fall ist, dann tendiert man zur Annahme, dass dieser Teil zum ältesten Teil der Evangelien gehört; falls nicht, dann wird vermutet, dass der Text entweder später hinzugefügt oder von einem griechischen Schreiber während oder nach der Übersetzung des Textes ins Griechische verändert worden sein kann. Der herrliche griechische Prolog des Lukas (Lk 1,1–4) zeugt z. B. davon, dass dieser Prolog der ganzen Evangeliumsgeschichte erst später vorangesetzt wurde.
Die erste Hälfte von Lk 16,18 lässt sich leicht ins Hebräische übersetzen; die zweite Hälfte jedoch (buchstäblich lautet sie so: und derjenige, eine von einem Ehemann entlassene Frau heiratend, bricht die Ehe) lässt sich nur schwer ins Hebräische übersetzen. Da diese zweite Hälfte den Test des problemlosen Übersetzens nicht besteht, kann man annehmen, dass sie möglicherweise nicht Teil der Aussage Jesu war; andererseits enthält sie eine kleinere Übereinstimmung zwischen Matthäus und Lukas (Mt 5,32b; Lk 16,18b) Markus gegenüber (Mk 10,12 mit dem griechischen Wort apolelymenen – entlassen worden). Diese kleineren Übereinstimmungen sind starke Anzeichen für die Ursprünglichkeit; darum ist es sehr wahrscheinlich, dass die Aussage wirklich zwei Teile hatte und dass Lukas oder der Schreiber der Ersten Rekonstruktion, d. h. der zweiten von Lukas’ beiden Quellen, den zweiten Teil verändert hat.
Wenn wir davon ausgehen, dass diese Aussage zwei Teile hatte, ist der zweite Teil die zweite Komponente einer hebräischen Dublette. Zwar sind Wiederholungen von Wörtern, Satzteilen, ganzen Sätzen und sogar von Geschichten charakteristisch für die hebräische Sprache, aber überflüssig für das griechische bzw. europäische Ohr. Der Parallelismus – hier wird derselbe Gedanke auf zwei oder mehr synonyme Arten ausgedrückt – ist das besondere Kennzeichen hebräischer Literatur. Wenn Jesus lehrte, wandte er oft Dubletten an (z. B. Zöllner und Sünder Mt 11,19; Lk 7,34) und den Parallelismus (z. B. geht nicht auf die Straßen der Heiden und geht nicht in die Städte der Samariter Mt 10,5). In diesem Fall ist das Wort geht nicht ein Synonym für das im griechischen Text unterschiedliche Wort geht nicht in, während die Straßen der Heiden Synonym ist für Städte der Samariter. Weitere Dubletten sind z. B.: Essen und Trinken, Fresser und Säufer, Apostel und Propheten, Weise und Kluge.
Beispiele für Parallelismus: Er lässt die Sonne scheinen über Gute und Böse, und lässt es regnen über Gerechte und Ungerechte; ein Jünger ist nicht über seinem Lehrer und ein Sklave nicht über seinem Meister; mein Joch ist sanft und meine Last ist leicht.
Wenn wir Lk 16,18b rekonstruieren, und zwar so nahe wie möglich am griechischen Text und soweit es die hebräische Sprache erlaubt, erhalten wir folgenden Satz: und wer die entlassene Frau heiratet, begeht Ehebruch. Eine idiomatische Übersetzung könnte so lauten: Darüber hinaus, wer jene entlassene Frau heiratet, begeht Ehebruch.
Nach Lk 16,18 können wir voraussetzen, dass Jesus, wie Schammai, die Position vertritt, dass Ehebruch der einzige Grund für eine Scheidung ist; darum sieht Jesus den Scheidungsbrief eines Mannes, der beabsichtigt, eine andere Frau zu heiraten, für nichtig an. Folglich sind Eheverträge dieses Mannes und seiner Frau null und nichtig und die Kinder, die aus solchen Ehen hervorgehen mögen, sind unehelich. Da zukünftige Ehen einer solchen Ehefrau keine Rechtskraft haben, geht jeder, der sich auf eine eheliche Verbindung mit ihr einlässt, ein ehebrecherisches Verhältnis ein. Sollte die entlassene Ehefrau und ihr zweiter Ehemann hinter die wahren Motive des ersten Ehemanns kommen, warum er sie entlassen hat, müssten sie sich trennen.
Die Situation wäre ähnlich der einer Ehefrau, die wieder geheiratet hat, weil sie glaubte, ihr Mann sei tot. Dazu sagt die Mischna, Jevamot 10,1, Folgendes: Der Fall einer Frau, deren Ehemann über das Meer reiste und von dem ihr gesagt wurde: Dein Ehemann ist tot! Sie heiratete wieder, und eines Tages kehrte ihr erster Mann heim. Sie muss beide Ehemänner verlassen. Wenn sie wieder heiraten will, muss sie von beiden einen Scheidebrief erhalten. Sie kann keine Entschädigung und Hilfe verlangen. Ein Kind aus diesen Verbindungen (wenn der erste Ehemann nach seiner Rückkehr ein Kind mit ihr hatte) wird als Bastard angesehen (private Mitteilung von Prof. Shmuel Safrai). Es gibt aber noch eine weitere Möglichkeit für Lk 16,18: Und jede Frau, die sich von ihrem Ehemann scheidet und heiratet einen anderen, begeht Ehebruch.
Der zweite Teil des Satzes, den Jesus gesagt hat, richtet sich nicht an den Mann, der eine Frau heiraten will, die sündig geschieden wurde – der Mann würde keine Ehe eingehen, wenn er hinter den wahren Grund der Entlassung kommt –, vielmehr handelt es sich um eine Verstärkung der Warnung aus dem ersten Teil der Dublette: Werde dir klar über die weitreichenden Folgen deiner sündigen Tat! Damit warnt Jesus den Mann, der sich eine Scheidung überlegt. Du begehst nicht nur Ehebruch, du bringst auch deine Ehefrau und ihren zweiten Ehemann dazu, im Ehebruch zu leben. Durch eine Heirat werden Mann und Frau ein Fleisch (Mt 19,4–6). Sollten sie sich aus einem anderen Grund als dem der ehelichen Untreue scheiden, würde jede weitere Beziehung, die sie eingehen, ein ehebrecherisches Verhältnis sein.
Beide Teile von Lk 16,18 sind exegetische Neuerungen, d. h. sie sind neue Schriftauslegungen. Die Gelehrten der Juden glaubten, die Tora sei ein Brunnen ohne Boden: Man könne tiefer und immer tiefer graben und dabei immer neue Einblicke gewinnen, die der Tora innewohnen, welche Mose am Sinai empfangen hatte. Jesus kannte diese bedeutende Regel, als er sagte: Darum ist jeder Schriftgelehrte, der ein Jünger des Reichs der Himmel geworden ist, gleich einem Hausherrn, der aus seinem Schatz Neues (d. h. innovative eigene Auslegungen) und Altes (d. h. was er von seinen Lehrern gelernt hat) hervorbringt (Mt 13,52).
Der erste Teil von Lk 16,18 ist eine Innovation: Jesus sagt, dass die Entlassung einer Ehefrau, um eine andere zu heiraten, Ehebruch ist. Dieses Statement geht weit über das hinaus, was Jesus von seinen Lehrern gehört haben mag. Seine Auslegung erfüllt bzw. stärkt die Tora (Mt 5,17), d. h. sie unterstützt und erklärt sie. Der zweite Teil des Verses ist ebenfalls eine Neuerung und noch Aufsehen erregender als der erste Teil – nach Safrai ist der zweite Teil der Aussage eines Gelehrten in der Regel der stärkere, ausdrucksvollere Teil. Er besagt: Der Ehemann, der seine Ehefrau entlässt, um eine andere zu heiraten, bricht nicht nur selbst eines der Zehn Gebote, sondern führt auch andere dazu, das Gebot zu brechen.
Aus einer hebräischen bzw. jüdischen Perspektive betrachtet, geht es Lk 16,18 nicht um die Frage, ob eine Scheidung überhaupt erlaubt ist oder nicht. Sicher glaubte Jesus, dass es einem Ehemann erlaubt ist, seine Frau zu entlassen, wenn sie eine ehebrecherische Beziehung eingegangen ist. Auch geht diese Bibelstelle nicht darauf ein, ob eine Wiederverheiratung erlaubt ist. Mit großer Wahrscheinlichkeit glaubte Jesus ähnlich wie seine Zeitgenossen, dass es beiden Ehepartnern erlaubt ist, wieder zu heiraten, wenn ein gesetzlich bindender Scheidungsbrief ausgestellt worden ist.
Die Gemeinde in Korinth fragte bei Paulus über seine Entscheidungen in Verbindung mit Ehefragen an. Eine dieser Fragen drehte sich um den Fall eines Gläubigen mit ungläubigem Partner, mit dem man die Ehe noch vor der Bekehrung geschlossen hatte. Die Antwort des Paulus lautet: Wenn aber der Ungläubige sich scheidet, so scheide er sich. Der Bruder der die Schwester ist in solchen Fällen nicht gebunden; zum Frieden hat uns Gott doch berufen (1Kor 7,15). Mit anderen Worten: Wenn der gläubige Teil mit seinem ungläubigen Ehepartner nicht leben kann, und zwar wegen des Glaubens, sollte der gläubige Teil nicht versuchen, den ungläubigen Teil daran zu hindern, und zwar weder auf legale noch auf andere Weise, sich zu trennen. Mit nicht gebunden meint Paulus mit Sicherheit, dass der gläubige Partner frei ist, wieder zu heiraten.
Die Weisen sahen weitere Gründe für eine Scheidung in ihrer Gesetzgebung vor, z. B. Unfruchtbarkeit. Sie ordneten an, dass ein Mann, der zehn Jahre verheiratet ist und keine Kinder hat, nicht frei ist von dem Gebot seid fruchtbar und vermehrt euch (1Mo 1,28). Er war dazu gezwungen, sich von seiner Frau scheiden zu lassen und eine andere zu heiraten, um zu versuchen, Kinder zu zeugen.
Im Lukastext gibt es für diese Schriftstelle keinen weiteren Textzusammenhang, es handelt sich einfach um die letzte von drei kontextlosen Aussagen. Im Evangelium des Matthäus haben alle diese Worte ihren eigenen Kontext. Mag sein, dass wir hier einen Hinweis darauf zu sehen haben, dass Lukas oder der Schreiber von einer der Quellen, die Lukas benutzte und auf die er in seinem ersten Kapitel hinwies, diese Worte nahm, nachdem er sie aus ihrem Zusammenhang herausgelöst hatte. Haben wir in der Geschichte aus Mt 19,3–9 (parallel dazu Mk 10,2–12) den ursprünglichen Textzusammenhang für Lk 16,18 zu sehen? Es scheint nämlich, dass Lukas möglicherweise die Worte Jesu besser wiedergibt als Matthäus, und vielleicht sollte der Text von Lukas in den Kontext von Matthäus eingefügt werden anstelle von Mt 19,9. Ich schlage einmal folgende denkbare Rekonstruktion vor:
Pharisäer kamen zu ihm und sagten: Darf ein Mann seine Frau aus irgendeinem Grund entlassen? Er antwortete und sagte: Habt ihr nicht gelesen, dass der, der sie geschaffen hat, sie von Anfang an als Mann und Frau geschaffen hatte und ihnen sagte: So wird ein Mann seinen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhangen (ankleben) und die zwei werden ein Fleisch sein? So sind sie nun nicht länger zwei, sondern ein Fleisch. Darum, was Gott zusammen gefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden. Sie sagten ihm: Warum denn hat Mose geboten einen Scheidebrief auszustellen und sich scheiden zu lassen? Er sagte ihnen: Wegen der Härte eurer Herzen erlaubte euch Mose, eure Frauen zu entlassen, von Anfang an aber war es nicht so. Aber ich sage euch, dass jeder, der seine Frau entlässt, um eine andere Frau zu heiraten, Ehebruch begeht; darüber hinaus, wer diese entlassene Frau heiratet, der begeht Ehebruch.
Was hätte Jesus einem Mann gesagt, der geschieden war oder sich von seiner Frau scheiden lassen wollte, um eine andere zu heiraten? Wir können annehmen, dass er sehr ernst mit diesem Mann gesprochen hätte, zumal er Scheidung verabscheute. Möglicherweise hätte er ihm ganz ernst auch aufgrund von Mal 2,13–16 etwa folgendermaßen ins Gewissen geredet:
Es ist abscheulich, dass du dich von der Frau deiner Jugend scheiden lassen willst, von der, die mit dir dein ganzes Leben geteilt hat, so viele Jahre an deiner Seite gestanden hat, um eine andere, eine jüngere und körperlich attraktivere Frau zu heiraten. Darüber hinaus kann deine Sünde andere dazu veranlassen, ebenfalls eine ehebrecherische Beziehung aufzunehmen.
Jesus hätte allerdings seine ernste Ermahnung mit Erbarmen gewürzt. Er hätte versucht, die Ehe wiederherzustellen. Wenn weder der Mann noch die Frau eine weitere Ehe in Aussicht gehabt hätten, hätte er den Mann aufgefordert, Buße zu tun und sich mit seiner Frau zu vertragen. Wenn der Mann die Bereitschaft zur Buße gezeigt hätte, hätte Jesus vor dem Ende der Unterredung wahrscheinlich zum Mann gesagt, wie er es auch der im Ehebruch ertappten Frau gesagt hat: Gehe hin und sündige nicht mehr!
Diese Überlegungen können uns die Bedeutung rabbinischer Literatur vor Augen führen, wenn wir eine Perspektive mit genauer Interpretation der Evangelientexte erhalten wollen. Wir sehen auch, dass der hebräische Hintergrund der synoptischen Evangelien oft den notwendigen Schlüssel dafür liefert, um Jesu Worte zu verstehen. Dann wird uns auch demonstriert, wie selbst eine ganz unbedeutende grammatische Eigenart im Hebräischen – in diesem Fall die Nuance eines Wortes, das nur aus einem einzigen Buchstaben besteht – bedeutend sein kann für das Verständnis der Worte Jesu.
Das Wörtchen und in Lk 16,18a ist wahrscheinlich semitisch – ein und des Zweckes. Dieses Idiom im Zusammenhang mit dem Wort eine andere im gleichen Kontext bestärkt die Vermutung, dass der Hintergrund von Jesu Statement eine rabbinische Debatte über die Bedeutung von ervat davar (Anstößigkeit der Sache, des Dings – 5Mo 24,1) ist. Wie Schammai interpretiert Jesus den Ausdruck als ein Ding der Anstößigkeit, d. h. als eheliche Untreue, in krassem Gegensatz zu Hillels Auslegung, der erlaubte, dass ein Mann seine Frau aus irgendeinem Grund entlassen konnte.
Wir können Lk 16,18a leicht rekonstruieren, 16,18b jedoch ist schwierig. Augenscheinlich hat Lk 16,18b während seiner Übertragung ins Griechische gelitten, man kann jedoch den ursprünglichen Wortlaut einigermaßen herausfinden: Ein Mann begeht Ehebruch, wenn er eine Frau heiratet, deren Ehemann sie entlassen hat, weil er eine andere heiraten wollte. Lk 16,18b, gerade mal fünf Wörter in Hebräisch, umfasst eine überaus klare Erneuerung der Erklärung und Haltung Schammais über die Gründe für eine Scheidung. Außerdem stellen sie ein brillantes Stück Exegese dar.
Manch eine treue christliche Frau ist von ihrem Mann verlassen worden, weil er eine andere, hübschere als sie gefunden hatte. Obgleich unschuldig, musste sie viele Demütigungen und öffentliche Schmach erleiden. Wegen ihres Verständnisses der Schrift mag sie für den Rest ihres Lebens allein geblieben sein, weil sie es als eine Sünde ansah, wieder zu heiraten. Jesu Worte sollten als Warnung verstanden werden: Ein Ehemann, der seine Ehefrau entlässt, um eine andere zu heiraten, setzt eine Kettenreaktion von Katastrophen in Gang – in seinem eigenen Leben wie auch im Leben vieler anderer.
In einem 1995 veröffentlichten Artikel (The Gospel Prohibition of Divorce: Tradition History and Meaning, Journal for the Study of the New Testament 58, 33) vertritt John Nolland vom Trinity College in Bristol, Großbritannien, die Auffassung, dass Mk 10,11–12 und entsprechende Parallelen die Ehescheidung zum Zweck der Wiederverheiratung zum Thema hat. Nolland verweist auf die Tatsache, dass die Kirchenväter das kai (und) im Satz und heiratet eine andere (Mt 19,9; Mk 10,11; Lk 16,18) im Sinn einer Absicht, eines Zweckes gedeutet haben. Leider gibt er dafür keine Beispiele an, verweist aber dafür auf A. L. Descamps (Les textes évangéliques sur le mariage, Revue théologique de Louvain 9 (1978), 279–286; 11 (1980, 5–50;16, Fn 37). Descamps liefert ebenso wenig Beispiele, sondern bezieht sich auf A. Houssiau (Le lien conjugal dans l’Eglise ancienne in Mèlanges Andrieu-Guitrancourt – Paris, 1973, S. 571). Hossiaus Werk ist mir leider nicht zugänglich gewesen.