34.

»Wo fahren wir eigentlich hin, Sascha?«, fragte Gregory, nachdem es seinem Freund, der hinter dem Lenkrad saß, gelungen war, minutenlang zu schweigen.

Sascha antwortete nicht, lächelte nur ein wenig mit dem Mundwinkel.

Das beruhigte Gregory ein wenig. In mehr als vier Jahrzehnten Freundschaft hatte er schon oft erlebt, wie Sascha in wirkliche Schwierigkeiten geraten war und Gregory mit sich in die Tiefe genommen hatte, sodass Letzterer eine Lösung hatte finden müssen. In diesen Fällen hatte Sascha nicht gelächelt. Die winzige Bewegung des Mundwinkels bedeutete also, sie begaben sich auf ein Abenteuer.

Und doch kroch ein Ängstchen in Gregorys Herz. Es war das Jahr 1990, und man sagte, die Berliner Mauer sei gefallen. Wäre der Motor nicht so alt, könnten sie mit dem Auto praktisch überall auf der Welt hin. Könnten sie bis nach Südamerika fahren? Wie lange würde es dauern? Und wie sollten sie das Beringmeer überqueren? Vielleicht müssten sie raus aus dem Auto und es auf der gefrorenen See anschieben. Nein, wenn sie überhaupt Richtung Osten fuhren, dann bestimmt nach Japan. Sascha hatte zuletzt so viel von diesem Land gesprochen, dass es klar war, er würde irgendwann einfach hingehen. Dass er Gregory mit nach Japan entführte, wäre auch schon nicht mehr überraschend. Verdammte Kirschbäume, dachte Gregory, wie sollten sie sich da mit den Menschen verständigen? Sie konnten ja kaum Englisch und Japanisch schon gar nicht.

Drei Stunden von Birobidschan entfernt, stellt Gregory dieselbe Frage noch einmal, diesmal jedoch mit mehr Nachdruck.

»Nu, okay, ich sage es dir«, antwortete Sascha und machte die Musik aus.

Er hielt am Rand der kaum asphaltierten Straße, und die beiden stiegen aus, setzten sich auf das frische Gras. Unendliche und unordentliche Reihen von Bäumen erstreckten sich vor ihnen bis zum Horizont und darüber hinaus.

Sascha holte eine metallene Brotbüchse hervor, darin zwei Butterbrote, von denen er eines Gregory reichte, und sah ihn mit nassen Augen an.

Gregorys Verwirrung verwandelte sich in ein plötzliches Heimweh. Er wollte die Frage nicht noch einmal stellen, und da keiner etwas sagte, schwebte sie noch im Raum und blieb zwischen den beiden, hing über ihnen wie ein Mistelzweig an der Tür am christlichen Chanukka.

In der Zeitung hatte Gregory mal gelesen, diese Mistelzweige repräsentierten die männliche Fruchtbarkeit, da ihre Früchte wie Samen aussahen. Wieder schweifte er ab, wie es ihm öfter passierte, wenn Sascha schwieg. Der versuchte wahrscheinlich nur, Spannung aufzubauen, Gregory aber befand sich mit seinen Gedanken schon auf weit entfernten Kontinenten, Planeten; drei Bäume nebeneinander hatten Hexenbesen, wie sonderbar! Und er blickte plötzlich in die erwartungsvollen Augen seines Freundes, grün und groß. Aha.

»Also, Sascha«, pflückte Gregory die imaginären samenähnlichen Früchte der mistelzweigigen Frage, »wo fahren wir hin?«

Sascha wirkte nun, als wäre er es, der aus einem schönen Traum aufwachte, als wäre in den Hexenbesen gewesen.

Langsam antwortete er: »Hast du von Tunguska gehört?«

Gregory blinzelte. »Dem Fluss?« Er blickte seinen Freund ratlos an, er wusste nicht, ob Sascha nun vollends von der Rolle war.

»Nein … Ich meine, ja, die Tunguska ist auch ein Fluss, richtig, aber ich meine, das Tunguska-Ereignis. Hast du davon gehört?«

»Das mit den Bäumen, die irgendwie in einer Nacht gefallen sind, oder so?«

»Nicht in einer Nacht, Gregory, sie sind in einer Sekunde gefallen. Die Menschen berichteten, dass sie eine große Explosion gehört hätten, und die Bäume fand man auf dem Boden, alle kreisförmig angeordnet und nach außen gerichtet.«

»Ja, genau, jetzt kann ich mich wieder an diese Geschichte erinnern. Und was hat es mit uns zu t… O nein, Sascha, bitte sag mir nicht, dass wir dorthin fahren! Wozu denn?«

Sascha setzte sein spitzbübisches Lächeln auf: »Doch.«

Nun stand Gregory auf und ging zurück zum Auto. »Komm, Sascha, wir fahren nach Hause.«

»Halt, halt! Denk kurz darüber nach, okay?« Sascha folgte ihm, setzte sich wieder auf den Fahrersitz, startete den Wagen und fuhr in die Birobidschan entgegengesetzte Richtung.

»Was gibt es da genau nachzudenken? Auch wenn ich es für eine gute Idee hielte, bis dorthin sind es bestimmt drei Tage mit diesem Auto, oder? Hast du überhaupt genug Essen eingepackt? Es gibt doch keine Raststätten in Krasnojarsk. Verlässt du dich etwa auf die Gutherzigkeit der Ewenken oder was?«

»Erstens, der Kofferraum ist voll mit Essen, und zwar für eine ganze Woche. Zweitens, die Ewenken sind doch nett. Ich habe mal einen von ihnen am Bahnhof in Birobidschan kennengelernt. Er hat mich nach dem nächsten Restaurant gefragt, weil er ein paar Stunden herumbringen musste, und ich trank mit ihm einen Kaffee, er war sehr süß.«

Gregory konnte nicht glauben, was er da von seinem besten Freund hörte. »Hast du es mit Josephin besprochen? Sie ist schon genervt, wenn ich nur fünf Minuten zu spät bin. Jetzt redest du von einer Woche, die wir weg sind.«

»Ja, ich habe es mit Josephin geklärt. Und wir haben genug Essen, das mit den Ewenken war nur ein Witz … Ich meine, du hast nicht gelacht, deshalb die Erklärung …«

»Sascha, warum hast du nicht mit mir geredet? Ich verstehe es einfach nicht. Ja, wir verreisen manchmal übers Wochenende, aber eine ganze Woche? Was ist in dich gefahren?«

Sascha saß da mit seinen lockigen schwarzen Haaren, die sich wie die wäldlichen Hexenbesen auf seinem Kopf arrangiert hatten, und schaute verständnislos zu ihm herüber.

Gregory hatte das Gefühl, dass sein bester Freund verrückt geworden war, und wusste nicht, ob er nicht besser einfach mitspielen sollte.

»Guck mal …« Gregorys Stimme war voll jener väterlichen Sanftheit, mit der er Josephin abends immer von seinem Tag erzählte. Sie war von seiner Stimme stets bezaubert und hörte seinen Erzählungen zu wie ein kleines Kind einer Gutenachtgeschichte.

Gregory arbeitete in der Fabrik, und oft kamen die anderen Arbeiter zu ihm, um sich von ihm beraten zu lassen, oder auch einfach nur, um von den Dingen zu erzählen, die sie zu Tränen gerührt hatten. Unter vier Augen, in der Pause, weit entfernt von den anderen. Langsam hatte sich eine Art besondere Weichheit in ihm entwickelt. Er wusste es, weil er das Wetter im Laufe der Zeit intensiver spürte. Er spürte innerlich, wenn es sonnig war, wenn es regnete, schneite. Dann wusste er: Diese Härte, die die anderen oft zeigten, war unnatürlich. Er war der Ansicht, Menschen mit Tieren waren sanfter, weil sie ihren Tieren in die Augen blicken und sehen konnten, dass auch diese manchmal traurig und genervt waren, dass auch sie manchmal aufgeregt waren, dass auch sie weinten. Durch seinen Hund und die beiden Katzen sowie die gelegentlichen Begegnungen mit den Rehen der Region wusste er, dass Natur hieß, die eigenen Gefühle nicht in Abrede zu stellen. Kultur hielt er hingegen für eine gewalttätige, kalte, emotionslose Vorstellung. Wenn er eins mit der Natur war, weil er den Regen und die Sonne und den Schnee und nach einer Weile sogar den Morgentau spüren konnte, wirklich spüren – unter, nicht auf der Haut –, wusste er, dass er aufweichte, und war unglaublich froh darüber, er fühlte sich auf einmal frei. Befreit von der künstlich männlichen Haltung, die ihn so viele Jahre festgehalten hatte.

Diese innere Sanftheit holte er nun hervor und sagte: »Guck mal. Wir fahren hin, wir machen diese merkwürdige Fahrt nach Tunguska und zurück. Aber überleg dir bitte, ob diese Reise für mich ist oder für dich.«

Zwei Stunden verbrachten sie daraufhin in Schweigen.

Nach einer weiteren Essenspause setzte Gregory sich hinter das Lenkrad.

Sascha blickte aus dem Fenster. »Die Tundra ist schön im Frühling«, sagte er. Sie fuhren westwärts, wie die Sonne, und Sascha klang, als ob er enttäuscht wäre, dass die Bäume mit ihrem Sprießen nicht auf sie gewartet hatten.

Darauf antwortete Gregory: »Das sind Wälder, keine Tundra. Oder soll das bedeuten, dass du noch weiter zum Tundra-Gebiet fahren möchtest? Ja, vielleicht können wir einen Monat lang herumreisen. Wieso fahren wir eigentlich nicht nach Japan? Das liebst du doch, oder?«

Sascha schluckte seinen Speichel herunter. Soll und Haben hatten sich augenblicklich umgekehrt: Vor einer Stunde hatte Gregory Sascha sein volles Vertrauen geschenkt, nun war er es, der Gregory sein Vertrauen schenken musste.

Am Abend knurrte das Auto langsam in eine Kleinstadt. Auf einem rostigen Schild stand der Name »Tschita«.

»Wir haben Glück, dass wir überhaupt einen Ort mit Menschen finden, wo wir die Nacht verbringen können«, sagte Gregory.

»Na ja, im Kofferraum gibt es auch …«

Doch Gregory durchschnitt die Rede seines Freundes wie mit einem Skalpell: »Nein! Ich will nichts von dem Zelt und den Schlafsäcken im Kofferraum hören, Sascha, es ist Mai, okay? Und das hier ist Sibirien, nicht die Sahara.«

»Eigentlich«, sagte Sascha ganz leise, »kann die Wüste ganz schön kalt sein in der Nacht. Manchmal ist es dort kälter als hier.«