»Meine Mutter sagt immer, dass wir eine innere Zeit haben. Dass sie sich beschleunigt, im Laufe der …«, sagte sie und lachte plötzlich.
»Zeit?«, beendete er ihren Satz und lachte ebenfalls. Dann sagte er: »Siebzig Prozent der Vegetarier essen heimlich Fleisch, wenn keiner guckt.«
»Ach, nur siebzig? Dann kann man schon sagen, dass sie ihrer Ideologie treu sind! Ich habe gelesen, dass man in Frankreich Schnecken mit der Schale isst!«
»Auf gar keinen Fall, jetzt lügst du!«
»Nein, echt, mit der Schale, es soll gut für die Verdauung sein.«
Joel kicherte und warf ihr von der Seite einen raschen Blick zu.
»Ich habe auch gehört, dass Männer, die mit neunzehn noch in einer Jugendbewegung sind, viel zu schnell erregt sind.« Rachel lächelte ihr böses Lächeln, als sie die Hand auf sein Knie legte und sie sehr langsam seinen Oberschenkel entlang nach oben bewegte. Sie griff fest zu, damit sie durch seine Hosen spüren konnte, wie jede seiner Zellen sich in Gänsehaut verwandelte.
Mit einer harschen Bewegung stieß er sie weg und murmelte: »Beim Fahren muss ich mich konzentrieren! Und … wir sind nicht allein.«
»Sag ich doch.«
Sie waren müde, als sie ein Hotel in Tschita erreichten. Die Straßenlaternen flackerten. Joel weckte das Mädchen sanft auf und gähnte selber in die Hand. Die Umgebung lag ruhig da, als würde durch das Dunkel Dampf einer Vernachlässigung, eines Damals-war-es-anders, abgelassen. Die Bäume lästerten über die neuen Gesichter in der Stadt. Der Himmel sah wie ein Gemälde von Michail Larionow aus, die verschiedenen Farbfelder voneinander getrennt, aber es war klar, dass diese Trennung eine tiefere Ungetrenntheit in sich barg.
»Haben Sie ein Zimmer für drei?«, fragte Rachel die Rezeptionistin, deren gefärbte Haare gut zu der roten Wand hinter ihr passten. Sie trug eine kleine Brille, die aber groß genug war, um ihre noch kleineren grünen Augen einzurahmen.
Ohne die Lippen zu bewegen, flüsterte Joel in Rachels Ohr: »Sie hält sich aber gut, die Carmen Sandiego.« Er grinste.
»Ich verstehe die Referenz nicht, Joel, aber es klingt sexistisch, also halt den Mund!«
»Sind Sie fertig? Gut. Wir haben ein Zimmer auf der zweiten Etage, Nummer 217. Hier ist der Schlüssel, bezahlt wird im Voraus.«
Joel holte den runzligen lila Geldschein aus seiner Tasche. Er starrte noch einmal mit Schuldgefühlen den darauf gezeichneten Hafen von Archangelsk und den sehr ernsten Peter den Großen an und überreichte ihn der gelangweilten Rezeptionistin.
In Zimmer 215 gab es Nachbarn. Es waren zwei Männer, die sich lautstark in einer ihnen unbekannten Sprache miteinander unterhielten.
»Flämisch, vielleicht?«, fragte Joel, aber Rachel starrte durch ihn hindurch und sagte schließlich: »Ja, ich glaube schon, es ist Flämisch. Es klingt auf jeden Fall ähnlich wie all das Flämisch, das ich in meinem Leben gehört habe.«
Er lächelte. In diesem Alter war Zynismus noch ein Anzeichen von Intelligenz. Erst später, wenn die Jugendzeit zum Ende kam, würde die Wahrheit über Zynismus enthüllt. Jedenfalls schien es hier noch süß, umso süßer aus dem Mund einer Bonnie, dachte Clyde (noch so ein Merkmal eines bestimmten Alters).
»Am Ende des Tages werden wir noch herausfinden: Die Kleine kann nur Flämisch! Übersetz was für uns, Kleine!«, sagte er zu dem Mädchen. »Was machen zwei Belgier hier in Tschita, Sibirien, ha?«
»Du meinst bestimmt: Was machen sie hier, wenn die beste Stadt Sibiriens nur eine Tagesreise entfernt liegt, oder?«, hielt Rachel dagegen.
Das Licht im Zimmer war trübe, sie mussten auch die kleinen Lampen an den Seiten des Doppelbetts anknipsen, und in dem Moment flogen zwei Nachtfalter auf.
Das Kind wachte mit einem Mal aus seiner Regungslosigkeit auf und versuchte, die Motten zu fangen. Alles in seinem Weg schien ihm egal, es warf sogar eine Lampe herunter. Diese zerbrach glücklicherweise nicht, aber es genügte, um Joel und Rachel wieder ernst werden zu lassen.
»Was machst du da? Lass das!«
»Schrei sie nicht an, man muss mit Kindern auf Augenhöhe reden!«
»Komm, Joel, sag mir jetzt bitte nicht, wie ich mit ihr umgehen soll. Kann dein Taschengeld aus Birobidschan es überhaupt decken, falls hier was zerbrochen wird?«
Er sagte noch manche Sätze, sie sagte manche, irgendwann bemerkten sie, dass es im flämischen Redehintergrund komplett still geworden war. Es war klar, dass die Männer ihrem Streit zuhörten – wie sie zuvor ihnen zugehört hatten.
»Nein, aufmerksamer«, sagte Rachel leise. Die Belgier hatten sogar auf die Witze zwischendurch verzichtet.