70.

»Kondensstreifen sind die Sternschnuppen des Tages«, sagte Gregory nach einer langen Pause.

Sascha blickte nach oben und sah die weiße Spur, die seinen Freund wahrscheinlich zu dieser Aussage animiert hatte. Seit zwei Stunden saßen sie wieder im Auto und fuhren durch den Wald. Die Kiefern links und rechts zeigten keine Zeichen von Ermüdung, im Gegenteil: Sie schlängelten sich an den Seiten des Wagens entlang, und manchmal streichelten ihre Nadeln energisch die Fenster. Als würden sie versuchen einzudringen, ihre Fahrt anzuhalten und mitzukommen nach Tunguska.

»Seit dem Frühstück hast du nichts mehr gesagt, Sascha, ist alles in Ordnung?«

Sascha konnte nicht glauben, dass sein bester Freund etwas so Wichtiges vor ihm versteckt hatte und immer noch versteckt hielt, und konnte darum auch nichts dazu sagen. Er stoppte den Wagen und schaute Gregory eindringlich an, als wollte er diesem eine letzte Chance geben. Da dieser die Gelegenheit nicht nutzte, sagte er: »Nein, Grischa. Alles ist nicht in Ordnung. Wie schwer ist deine Depression eigentlich?«

»Was meinst du? Ich dachte, wir reden die ganze Zeit darüber, ich dachte … das sei genau das Thema dieser Reise.«

»Ja, ist es auch. Aber nicht bei allen Problemen kann ein Freund, auch nicht ein bester Freund, helfen. Ich muss wissen, ob du planst, dir das Leben zu nehmen. Das wäre dann ein Fall für professionelle Hilfe, nicht für eine solche Reise.«

Gregory blickte auf seine in seinem Schoß verkrampften Hände. »Wie kommst du darauf, dass ich daran denke?«, fragte er mit einer Stimme, die Saschas Vermutung nur bestätigte.

»Ich habe es gesehen. Heute Morgen, als ich kurz draußen war, habe ich gesehen, dass du eine Waffe mitschleppst. Und ich muss dir sagen, Grischa, wenn du dich verdammt noch mal umbringen willst, dann brauchst du auf jeden Fall Hilfe. Wenn du vorhast, es mitten auf einer Reise mit mir zu tun – dann wende ich jetzt und fahre zurück nach Birobidschan, ohne anzuhalten.« Gregory machte den Mund auf, Sascha aber ließ ihn noch nicht antworten. »Ich soll allein nach Birobidschan zurückfahren, vor Josephins Tür auftauchen und ihr erzählen, dass ihr Mann so dumm war, sich das Leben zu nehmen? Und was soll ich ihr bitte sagen, wenn sie fragt, was ich getan habe, um es zu verhindern?«

»Sascha, beruhig dich. Ich will mich nicht umbringen. Ich dachte nur …«

»Ja, was dachtest du? Wieso sagst du mir nicht, dass wir schon seit zwei Tagen mit einem Gewehr im Kofferraum unterwegs sind, ha? Was ist, wenn uns die Polizei zufällig anhält?«

»Ach, welche Polizei, Sascha? Hier wohnt keiner, und wo keiner wohnt, braucht auch keiner die Polizei.«

»Was wolltest du denn damit, Gregory?«

Sascha war ungeduldig. Er gab wieder Gas. Die Straße verwandelte sich langsam in einen Waldweg. Sie wurden mehr und mehr zu Eindringlingen in diesem Gebiet, und den Kiefern gelang es immer häufiger, ihre langen Zweige in die offenen Fenster zu strecken. Der Weg war nass, und die alten Reifen hatten Mühe, sich durch den Schlamm zu winden. Schließlich steckten sie fest. Das Auto hielt abrupt an.

»Scheiße. Scheiße. Scheiße!«, sagte Sascha, der nun einen neuen Kanal für seine Wut gefunden hatte, sodass diese nicht mehr in Kreisen durch die Luft wirbelte und tanzte. »Grischa, steig mal aus und lass ein bisschen Luft aus den Reifen.«

»Sascha, was bringt es jetzt, Luft aus den Reifen zu lassen?«, fragte Gregory vorsichtig, insgeheim froh über diesen bedauerlichen Zwischenfall.

»Es vergrößert die Fläche der Reifen und dadurch auch die Reibung.«

»Ich verstehe. Aber ist es in dieser Situation wirklich das Klügste? Danach werden wir zwar aus dem Schlamm raus sein, aber noch immer am Arsch der Welt samt den platten Reifen. Ich denke, wir sollten zunächst was anderes probieren. Richte mal das Antriebsrad auf genau zwölf Uhr und geh in den Leerlauf.«

»Und nun? Das geht nicht. Erst das, dann dies. Fällt dir nichts Besseres ein? Vielleicht können wir deinen Freund aus dem Kofferraum benutzen, um uns hier rauszuschaufeln oder Hilfe zu holen? Wir können ganz einfach in die Luft schießen und warten, ob es jemand als Hilferuf interpretiert«, sagte Sascha und schaltete aus dem Leerlauf wieder in den ersten Gang.

»Sascha, was machst du da? Du weißt doch, dass das Schlimmste in so einer Situation ist, weiterfahren zu wollen. Wir werden noch tiefer einsinken. Bitte hör auf!«

»Was schlägst du denn vor? Im Leerlauf bleiben? Einfach warten? Worauf denn, kein Hund kommt hierher vorbei.«

»Sascha, wir haben es nicht eilig, oder? Mit dem Auto stecken wir fest, ja, aber wir sollten selbst nicht in Missverständnissen stecken bleiben. Lass uns das ausräumen, okay? Hör zu, ich habe das Gewehr gefunden. Es ist nicht meines, ich habe es in Birobidschan gefunden. Ich war im See schwimmen, und da war es, ziemlich nah am Ufer, sodass ich es unter meinen Füßen spüren konnte. Ich will dich nicht belügen: Ich hatte tatsächlich Selbstmordgedanken, als ich es fand. Komm schon, wer außer einem Depressiven stößt beim Schwimmengehen, bei dem er seine Depression vergessen will, auf eine Waffe? Das ist schon einzigartig!«

»Dann hast du es also aus dem See gezogen und dann? Wieso ist es in meinem Kofferraum gelandet?«

»Offenbar gibt es keine Möglichkeit, etwas in Birobidschan loszuwerden. Also dachte ich, wo auch immer wir beide hinfahren, es wäre ideal, um das Gewehr dort zu lassen. Ich wusste nicht, dass wir nach Tunguska fahren, aber ja, ehrlich gesagt: Das ist doch perfekt. Wir können es dort vergraben und müssen es nie mehr sehen. Das ist der einzige Grund, warum ich es mitgenommen habe, ich verspreche es dir.«

»Wie soll ich dir nach zwei Tagen mit diesem Ding im Kofferraum noch glauben, Grischa?«, sagte Sascha und stieg aus dem Wagen. Er setzte sich auf die Motorhaube, die noch warm war und gegen die Kälte des Windes half, der zwischen den Kiefern hindurchfloss.

»Was soll ich denn noch tun? Du musst mir glauben!« Gregory wurde nun lauter, er fand Saschas Verhalten selbstgerecht und hatte es satt.

»Beweis es mir. Lass es hier im Wald.«

Gregory stieg ebenfalls aus. Der Himmel hatte sich mit einem dicken grauen Plumeau bedeckt. Die Wolken hatten sich versammelt und brüllten, als wären sie ganz weit entfernt, es klang eher wie Magenknurren. Sascha und Gregory waren im Bauch der Sache.

»Du denkst tatsächlich, dass dein Pazifismus über alles erhaben ist, oder?«, sagte Gregory.

Der Himmel knurrte. Auf Hebräisch steht der Himmel im Plural: die Himmel. Die Himmel knurrten. Das ergibt in diesem Zusammenhang mehr Sinn. Mehrere Himmel stießen zusammen, prallten aufeinander, brüllten wie ein heißer bullernder Topf. Und sogleich fingen sie an, Regentränen runterzuspucken. Die Kiefern wurden zum Leben erweckt und tanzten miteinander.

»Hast du ein Problem damit, das Ding hier irgendwo zu vergraben?«, ärgerte sich Sascha.

»Nein, nein, ich mach es gleich. Mich nervt nur deine Chuzpe, mich zu schelten. Ich bin kein Kind, Sascha, und wenn ich dir was sage, kannst du es mir auch glauben. Mit einem Gewehr im Kofferraum zu reisen ist nicht so schlimm, wie du es jetzt darstellst. Sei nicht so zimperlich. Wir hätten auf dem Weg auch Bären treffen können oder böse Menschen. Man muss echt an das Gute im Menschen glauben, um Waffen derart zu verdammen. Denkst du, alle Menschen haben ein gutes Herz? Du bist echt ein Birobidschaner. So sicher leben wir in unserer Blase, dass wir gar nicht die Möglichkeit erwägen, jemand wolle uns wehtun. Es kotzt mich an!«

»Natürlich gibt es böse Menschen, ich bin auch kein Kind mehr. Aber die Existenz von Waffen in dieser Gesellschaft sichert den Fortbestand des Bösen.«

»Ach, Sascha, komm! Als ob es jenseits von Schusswaffen keine Gewalt gäbe. Menschen haben immer gegeneinander gekämpft und einander überfallen, verletzt oder getötet.«

»Jetzt klingst du wie die Scheißkapitalisten, die die Konkurrenz unter den Menschen zu einem Naturgesetz erklären. Du weißt doch, dass man Verhaltensweisen überwinden kann. Ist deine Josephin nicht Vegetarierin geworden? Sie isst nicht mal Fisch! In Birobidschan! Obwohl der Mensch ein Allesfresser ist. Es ist also überhaupt nicht relevant, was man ursprünglich getan hat, sondern in welcher Gesellschaft man jetzt, im Jahr 1990, leben will. Und ich will in einer Gesellschaft ohne Waffen leben.«

»Es ist sehr wohl relevant, wo man herkommt. Die Zukunft ist vielleicht das, was du zu gestalten versuchst, schön, aber du gestaltest sie aus der Vergangenheit heraus. Ich meine: Wenn deine Augen offen sind, schaust du nach vorne. Aber jedes Mal, wenn du deine Augen schließt, um zu schlafen, zu träumen, nachzudenken, all dies, dann drehen sich deine Augen nach innen, und du schaust in deine dunkle Vergangenheit. Erst wenn man tot ist, schaut man mit geschlossenen Augen nach vorne, und dieses Vorne ist schwarz wie bis dahin nur die Vergangenheit.«

»Der Poet mit dem Gewehr!«, rief Sascha, da die Stimmung sich merklich entspannte.

Mittlerweile waren beide durchnässt und hatten keine Lust weiterzustreiten.

Hinter ihnen kam ein kleines weißes Auto vorsichtig den Waldweg entlanggerutscht. Wer auch immer darin saß, konnte ihnen bestimmt helfen, aus dem Schlamm rauszukommen. Das Auto hielt, und zwei Männer waren durch die Frontscheibe zu sehen. Die beiden Freunde liefen zu ihnen. Da öffnete sich ein Fenster, und eine Hand wurde zum Händedruck gereicht.

»Ich bin Sascha, der da ist Gregory. Könnt ihr uns vielleicht helfen, unser Auto aus dem Schlamm zu ziehen? Es wird mit dem Regen immer schwieriger, aber wenn ihr ein Seil habt …«

»Sascha und Gregory«, sagte der Mann am Steuer, »schön, euch kennenzulernen. Ich bin Arouet, und der hier ist David. Ja, gerne helfen wir euch. Oder, David?«

David nickte.