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Die Lichtkegel der beiden Autoscheinwerfer bohren sich durch das Schneegestöber. Die dicken Flocken wirbeln wie aus einem schwarzen Loch auf die Windschutzscheibe zu. Ole Matthiesen möchte sich auf dem Fahrersitz am liebsten wegducken. Er muss sich voll konzentrieren, nicht von der schmalen glatten Straße abzukommen und im Graben zu landen. Zwischen jedem pappenden Wedeln der Scheibenwischer drohen die beiden sichtfreien Halbkreise auf der Frontscheibe gleich wieder zuzuschneien. So einen Schneefall hat der junge Polizeianwärter in Schleswig-Holstein bewusst noch nicht erlebt. Dabei ist in ein paar Tagen Ostern. Nur in seiner Kindheit hatte es angeblich schon mal so einen späten Wintereinbruch gegeben. Teile von Nordfriesland und im Kreis Flensburg waren damals sogar eine Weile von der Außenwelt abgeschlossen gewesen. Und seine Eltern und Großeltern erzählen von der großen Schneekatastrophe irgendwann in den Neunzehnhundertsiebzigerjahren.

Ausgerechnet jetzt soll er den Polizeihauptmeister Thies Detlefsen in seiner Fredenbüller Wache für eine Woche vertreten. Thies hat ihm genaueste Anweisungen gegeben. »Dat is nich zu unterschätzen. Wir haben in Fredenbüll in den letzten Jahren eine Mordrate, da können andere nur von träumen. Du musst nich nur Fredenbüll, sondern auch dat ganze Deichvorland im Blick haben.« Für Ole Matthiesen ist es eine echte Bewährungsprobe.

Jetzt ist er auf seinem abendlichen Heimweg nach Niebüll, wo er noch bei seinen Eltern wohnt. Die Heimfahrt verbindet er mit einer Streife durchs Revier. Bei diesem Wetter ist kein Mensch mehr auf der Straße. In Schlüttsiel hängen in den Vorgärten ein paar eingeschneite Ostereier in den Bäumen und Sträuchern. Matthiesen nimmt nicht die Bundesstraße, sondern patrouilliert die Nebenstrecke am Deich entlang. Vor dem Kartoffelhof hinter Reusenbüll schwebt, von einem Scheinwerfer angestrahlt, ein gigantischer aufgeblasener Osterhase über dem weiten baumlosen Acker. Die rosaroten Riesenohren und der Saum der grünen Schürze sind die einzigen Farbkleckse in der weißen Landschaft. Der größte Teil des monströsen haushohen Plastikhasen, sein Kopf und der aufgepumpte Körper sind eingeschneit. Nur die großen Augen glotzen aus dem Schnee, und zwei idiotische Hasenzähne gucken gespenstisch aus einem Joker-Grinsen hervor. Im Vorbeifahren kommt es Ole in dem Schneegestöber wie ein Spuk vor.

Ein Stück weiter erkennt er schemenhaft ein paar Schafe, die dichtgedrängt unter einem eingeschneiten Unterstand dem vorbeifahrenden Polizeiwagen hinterhersehen. Und dann entdeckt er in einiger Entfernung, bestimmt über einen Kilometer entfernt, zwei rote Punkte, die ganz schwach in der verschneiten Dunkelheit glimmen. Die Landschaft, der Himmel, die Straße haben mittlerweile alle Konturen verloren. Nur die kleinen roten Rücklichter eines anderen Autos leuchten oszillierend in den auf die Frontscheibe einstürmenden Schneeflocken auf.

Ole schaltet die höhere Stufe des Scheibenwischers ein und beschleunigt. Der Wagen kommt kurz ins Rutschen und Schlingern. Aber dann zieht der Vorderantrieb ihn durch den verwehten Schnee, in dem nur zwei Fahrspuren zu erkennen sind. Die roten Rücklichter werden jeden Augenblick größer. Der vor ihm fahrende Wagen ist kaum zu erkennen, nur die beiden roten Striche. Sie nehmen deutlichere Konturen an. Irgendetwas kommt ihm an diesem weißen Auto seltsam vor.

Er kennt die Marke nicht. Dabei kennt sich Ole eigentlich mit Autos aus. Steht da »flow« auf der Kofferraumklappe oder »i-flow«? Vermutlich ein neues E-Fahrzeug aus Korea oder Japan. Es ist nicht zu hören und wegen der Farbe kaum zu sehen. Aber eines sieht Ole Matthiesen sofort: Dieses weiße Auto aus Fernost hat kein Kennzeichen, nicht mal ein rotes Nummernschild, gar nichts. Ist die Kiste etwa geklaut?

Kurzentschlossen schaltet er das Blaulicht an, das rote Anhaltesignal »Stopp Polizei« und fährt dichter auf. Das andere Fahrzeug schwebt eine Weile unbeirrt weiter durch den Schnee. Dann verlangsamt es die Fahrt und stoppt. Matthiesen weiß in der ersten Aufregung gar nicht, was zu tun ist. Er nimmt sich die Taschenlampe, überprüft den Sitz seiner Dienstwaffe im Holster und steigt aus. Die Schneeflocken wehen ihm sofort ins Gesicht. Hier draußen ist es verdammt kalt. Er stapft zu dem anderen Wagen. Es ist eine ganz normale Fahrzeugkontrolle, sagt er sich, kein Grund, nervös zu werden. Aber irgendwie hat er ein komisches Gefühl.

Der Fahrer des anderen Wagens lässt das eingeschneite Seitenfenster surrend herunter, nur einen größeren Spalt.

»Moin, Fahrzeugkontrolle.« Ole gibt sich alle Mühe, routiniert zu klingen. »Führerschein, Fahrzeugpapiere.« Er leuchtet dem Mann mit der Taschenlampe ins Gesicht.

Der Typ kneift die Augen zusammen und mustert ihn kritisch. Sein Beifahrer, der eine dicke Jacke trägt, wendet sich ab. Sein Gesicht, das er unter den mit Fell gefütterten Ohrenklappen einer voluminösen Mütze versteckt, kann Ole nicht sehen.

»Papiere? Klar«, antwortet der Fahrer und grinst. Ein Grinsen ist es eigentlich nicht, er verzieht nur den Mund mit dem zu einem Strich rasierten Oberlippenbärtchen und zeigt seine schlechten, schiefen Zähne. Er kramt in den Taschen seines zu weiten braun-beige gestreiften Jacketts. Ole leuchtet ihn an, dass er geblendet das Gesicht verzieht. Er richtet die Taschenlampe an ihm vorbei auf den Beifahrer, der sich daraufhin zu seinem Seitenfenster abdreht. Der Fahrer kommt bei der Suche nach seinen Papieren nicht weiter.

»Na, wat is? Wird langsam kalt hier draußen.« Matthiesen versucht seine Nervosität zu überspielen. Außerdem ist ihm inzwischen wirklich verdammt kalt.

»Mietwagen«, zischelt der Fahrer durch seine schiefen Zähne. »Scheißelektrokiste.« Die Scheibe surrt ein Stück weiter nach unten.

»Und für Elektroautos braucht man keine Papiere, oder was?« Irgendwie hat sich Ole seine erste Fahrzeugkontrolle einfacher vorgestellt. Der Typ mit den schiefen Zähnen greift sich in die Innentasche der Jacke. Die roten Buchstaben »Stopp Polizei« leuchten vom Polizeiwagen herüber. Die Schneeflocken wehen dem jungen Polizisten jetzt noch mehr ins Gesicht. Er wird immer nervöser und langsam auch misstrauisch. Sucht der Typ in seiner Tasche möglicherweise nach einer Waffe?

»Steigen Sie bitte aus! Hände aus der Jacke und draußen gleich aufs Autodach!« Ole Matthiesen wünscht sich, er hätte diesen Wagen gar nicht angehalten.

»Was soll ich?«, nuschelt der Typ mit den schlechten Zähnen. Ole bemerkt, wie der andere etwas aus dem Handschuhfach kramt. Er tastet nach dem Holster mit seiner Dienstwaffe. Und dann hat der junge Polizeianwärter auf einmal eine auf ihn gerichtete, silbrig schillernde Pistole im Lichtkegel seiner Taschenlampe.