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»Ich kann mich nur wiederholen, es spricht alles für ein Erdrosseln.« Der ehemalige HNO -Professor Müller-Siemsen steht mitten in der Zugtoilette neben der toten Agathe Christiansen und sieht den Fredenbüller Polizeihauptmeister abwartend an. Doch Thies weiß im Augenblick auch nicht recht, wie er weiter verfahren soll. Jetzt bräuchte er unbedingt Nicoles Unterstützung.

»Das seidene ’alstuch sprischt eine eigene Sprache«, verkündet Monsieur Picon pathetisch.

Währenddessen huscht Perserkater Fjodor den zugigen Gang des Waggons entlang hinein in das Bord-WC und springt der jetzt halbwegs vom Schnee befreiten Toten auf den Schoß. Er langt mit der Pfote nach dem roten Tuch, das ihr nach der ersten Begutachtung des Arztes jetzt lose um den Hals hängt.

»Isch sage ja, die Katze kennt den Mörder oder die Mörderin«, verkündet der Französischlehrer zum wiederholten Mal.

»Jo, der Kater weiß mehr, als er zugibt«, bestätigt Thies. »Aber als Kronzeugen können wir den vergessen.«

»Aber das ist doch das Halstuch!«, ruft Frau Müller-Siemsen.

»Das gehört nicht Frau Christiansen«, stellt Huberta von Rissen fest.

»Das ist doch das chinesische Halstuch von Gräfin Ignatowski!« Frau Müller-Siemsen ist sich vollkommen sicher.

»Jetzt wirft auch der junge Mann aus dem anderen Waggon einen Blick auf die Tote. »Das is ja tatsächlich die Christiansen, oh, no.« Währenddessen kämpft er mit einem an den Zähnen klebenden Lakritzbonbon.

»Sie kennen die Tote?«, fragt Thies gleich nach.

»Na klar, das ist meine Lateinlehrerin.«

»Wenn das kein Mordmotiv ist«, nölt Bounty vom Gang aus.

»Thiiies!«, ruft Heike aus dem Hintergrund. »Wir müssen langsam wirklich mal aufs Klo!«

»Komm, Heike, gleich … immer sutsche …«

»Ja, was denn, Frau Müller-Siemsen muss auch mal, und Sie doch auch, Herr von Rissen?«

»Na ja, habe mir vorhin schon selbst geholfen …«

Heike sieht ihn fragend an.

»Eben waren die Türen ja noch zu öffnen«, verkündet er mit meckernder Stimme. »Was meinen Sie wohl, wenn wir auf der Jagd sind, da stehen uns auch keine sanitären Anlagen zur Verfügung.«

»Wir müssen langsam sehen, dass wir dat Mordopfer hier mal vom Tatort … entfernen.« Thies überlegt. »Haben wir hier irgendwo einen Raum, wo wir die Lateinlehrerin für ’ne Weile zwischenlagern können? Wo is der Schaffner überhaupt?« Thies sieht sich um. »Außerdem brauche ich ein Abteil, wo ich ungestört Befragungen machen kann.«

»Bei denen isch Sie sehr gern unterstützen würde, Monsieur Detlefsen.« Jean-Pierre Picon zwirbelt sein Menjou-Bärtchen.

»Jo, mal sehen.« Der Fredenbüller Dorfpolizist klingt richtig begeistert.

Es herrscht allgemeine Unruhe in Waggon Eins. Bounty und Giselle turteln die meiste Zeit in ihrem Abteil herum. Dass der Nord-Ostsee-Express hier im Schnee festsitzt, finden sie sogar ganz romantisch. Die übrigen Paris-Reisenden dagegen laufen hektisch durcheinander, soweit sie noch einigermaßen gut zu Fuß sind. Natürlich sorgt vor allem der schreckliche Todesfall für Aufregung. Aber auch sonst sind die Umstände alles andere als erfreulich. Heute Morgen ist die Elektrizität und mit ihr die Heizung ausgefallen. Die Handys haben kein Netz. Und vor allem gibt es nichts zu essen und zu trinken.

Heike hat in ein paar Plastikflaschen schon ein bisschen Schnee geschmolzen. Aber die meisten können sich mit dem nordfriesischen Schiwasser vom Deich noch nicht anfreunden. Heikes restliche Sandwiches aus der »Hidden Kist« finden dagegen reißenden Absatz. Zuvor hat sie noch einen Hering aus einem »Croque Störtebeker« herausgezogen und ihn Fjodor spendiert, der seitdem in Frauchens Abteil schnurrend auf dem Kunstsamt vor sich hin döst. Den Rest des großen Fischbrötchens teilt sie in viele kleine Häppchen. Aber die meisten gehen natürlich leer aus. Sie malen sich stattdessen aus, wie sie in den Pariser Restaurants dinieren. Giselle schwärmt von Bressehuhn und Kalbsbries in einem Sternerestaurant am Trocadéro, Monsieur Picon von einem Käsestand auf dem Markt in der Rue Mouffetard, und Huberta von Rissen möchte einfach nur eine ganz ordinäre Zwiebelsuppe.

»Gleich, wenn wir in Paris sind, werde ich mir zwölf Austern bestellen«, verkündet Frau Müller-Siemsen, dass es jeder mitbekommt, und zieht sich fröstelnd das Steppjäckchen enger um die Schultern. »Was ist eigentlich mit der Heizung?«

Als sich Zugbegleiter Dennis Wiese endlich mal wieder in Waggon Eins blicken lässt, stürmen gleich alle auf ihn ein. Fjodor schmiegt sich schnurrend an sein Hosenbein.

»Wann gibt es wieder Strom?« Giselle sorgt sich um den leeren Akku ihres Handys.

»Und wie sieht es mit unserer Verpflegung aus?« Auf die Pariser Zwiebelsuppe möchte Huberta von Rissen dann doch nicht warten.

»Es muss an Bord dieses Zuges doch irgendwo eine Kleinischkeit zu essen geben«, echauffiert sich Monsieur Picon. »Nur eine kleine Imbiss.«

»Ich habe da ganz hinten in unserem Waggon fünf größere Pappkartons gesehen«, fällt Agathe Christiansens ehemaligem Schüler ein, während er auf seinem Bonbon herumkaut. »Sah irgendwie nach Lebensmitteln aus.« Ohne lange Diskussionen holen er und Bounty zusammen zwei der Kartons. Gemeinsam schlitzen sie die Pappe auf und fördern aus einem Karton fünfzig Tüten Sesam-Cracker heraus. Die andere Kiste enthält zwanzig Flaschen Eierlikör.

»Seid ihr verrückt geworden? Die Kisten sind für die Feier der Landfrauen. Die sollen nächste Station in Friedrichstadt entladen werden.« Schaffner Wiese ist entsetzt. Und auch Bounty, der sich Hoffnung auf ein paar Schokoriegel gemacht hatte, ist enttäuscht.

»Dann sind ja wenigstens die Damen mit Getränken versorgt!« Bordeaux-Kenner Onno von Rissen wirft einen verächtlichen Blick in die geöffneten Pappkartons, während Bounty schon die ersten Cracker ausgibt.

»Immerhin, ’ne kleine Grundlage.« Der Althippie kommt sich vor wie in der Essensausgabe für Hilfsbedürftige.

Eben wollten noch alle wissen, wann es endlich weitergeht. Die Frage wagt inzwischen niemand mehr zu stellen. Immer wieder fallen zwischendurch das Licht und auch der sonstige Strom aus. Der Schüler aus Waggon Zwei hat nicht nur Knabber- und Getränketipps, er besitzt dank des lokalen Anbieters »friesitel« auch das einzige Handy, das hier einen Empfang hat. Alle wollen nur mal schnell einen kurzen Anruf mit seinem Smartphone machen.

Der Junge findet das überhaupt nicht komisch. »Hallo, der Akku ist gleich leer und wir haben hier null Saft an Bord.«

Ein oder zwei Telefonate gestattet er aber doch. Und dann ist zumindest für eine Weile der Strom wieder da. Thies wird von Dennis Wiese in den Lokführerstand gebracht, um per Bahn-Funk Kollegin Nicole Stappenbek im Kommissariat in Husum zu erreichen.

»In der Lok hast du ’n büschen mehr Ruhe zum Reden.«