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»Wie konnte der Täter nach dem Mord die Toilette verlassen? Die Tür war verschlossen.« Jean-Pierre Picon erhebt sich von seinem Platz mit dem gelben Samttuch und macht ein wichtiges Gesicht. »C’est un mystère!«

»Durch die geschlossene Klotür wird er sich kaum vom Tatort entfernt haben«, blafft Thies ihn an. Dass dieser Franzose, der eigentlich Belgier ist, sich hier immer wieder einschaltet, gefällt ihm gar nicht.

»Wir müssen unsere grauen Zellen bemühen.«

»Ich würd mal sagen, der Täter hat ’n Schlüssel gehabt.«

»Da kommt eigentlisch nur der conducteur , der Schaffner, in Frage.« Picon zupft an seinem Bärtchen.

»So einen Schlüssel haben vielleicht noch andere. Ist ja nich unbedingt ’n kompliziertes Sicherheitsschloss. Wir sollten uns mal die Schlüsselbunde zeigen lassen.« Im Augenblick ist Thies noch unsicher, wie er vorgehen soll. Jetzt fehlt ihm Nicole. Über Zugfunk hat er eben mit dem Kommissariat in Husum gesprochen. Aber die Hauptkommissarin war gerade unterwegs. Im Augenblick ist Thies auf sich allein gestellt. Na ja, so ganz stimmt das leider auch nicht.

In Waggon Eins herrscht an diesem Morgen große Aufregung. Und das nicht erst, als die tote Agathe Christiansen, eingehüllt in eine Wolldecke, von Thies, Bounty und Müller-Siemsen von der Toilette in das Fahrradabteil verfrachtet wird. Die Teilnehmer des Französischkurses mögen gar nicht hinsehen. Die Szenerie im Nord-Ostsee-Express ist gespenstisch. Das Licht in den Abteilen des Zuges flackert immer wieder auf, und auch die Heizung bläst zwischendurch mal etwas warme Luft in die Waggons. Der Lokführer hat das Notstromaggregat in Betrieb genommen, sporadisch zumindest. Aber dann fällt der Strom auch immer wieder aus. Die gestrandeten Paris-Reisenden bleiben trotzdem die ganze Zeit unter Höchstspannung. Alles läuft auf dem Gang von Wagen Eins aufgeregt hin und her und von Abteil zu Abteil. Nur Fjodor döst schnurrend auf dem Kunstsamt und träumt von einem weiteren Heringsfilet aus einem »Croque Störtebeker«.

Die Reisenden dagegen sind von Heikes homöopathischen Häppchen aus der »Hidden Kist« alles andere als satt geworden. Heike und Giselle verteilen schon Cracker an die anderen. »Französisches Baguette ist es nicht und auch kein Croque«, bemerkt die Restaurantchefin und überlegt, ob sie nicht irgendwie einen kleinen Dip zu dem trockenen Gebäck improvisieren kann. Aber wo soll sie in dem spartanischen Nord-Ostsee-Express die Zutaten hernehmen?

Heike hat sich zusammen mit Frau von Rissen und Gräfin Ignatowski ein kleines Eierlikörchen genehmigt. »Wärmt fürs Erste ’n büschen durch«, findet die Polizistengattin. Es hilft den Damen auch ein bisschen gegen die Aufregung.

Frau Christiansen wird derweil neben den Koffern im Fahrradabteil untergebracht, in dem statt Fahrrädern jetzt ein paar Ballen und Rollen Schafwolldämmung gestapelt sind. Und dann sehen sich Thies und Jean-Pierre Picon die Zugtoilette noch mal etwas genauer an. Sie entdecken auf dem feuchten, kaum einen Quadratmeter großen Boden allerlei Hinweise: das Bonbonpapier eines dänischen Lakritz, eine Bahnfahrkarte, ein durchnässtes Papiertaschentuch, einen winzigen Fetzen rote Seide und jede Menge weiße Tierhaare.

»Ist Ihnen schon aufgefallen, dass zu viele Spuren in diesem Raum vor’anden sind?« Picon macht ein bedeutsames Gesicht.

Und dann holt der Amateurdetektiv ein Schächtelchen mit einem weißen Pulver aus seiner Jacketttasche. »Wie gesagt, wir brauchen keine Spüsi, isch ’abe alles dabei.« Er pustet etwas Pulver über den Fensterrahmen, das Handwaschbecken und den Rand der Kloschüssel. »Rien , keine Fingerabdrücke.«

»Finger abdrücke sind dat da drauf sowieso nich!« Thies deutet auf die Klobrille.

»Den Fehler begehen Verbrescher heutzutage nischt mehr.« Picon hat den Witz nicht recht mitbekommen. Er ist voll und ganz damit beschäftigt, ein paar Spuren des Pulvers von seinem makellosen Jackett zu pusten. Dies bisschen Pulver scheint ihm größeres Unbehagen zu bereiten als die erdrosselte Lateinlehrerin.

Inzwischen hat sich der Fredenbüller Polizeihauptmeister ein Abteil reserviert, um in Ruhe seine Befragungen durchzuführen. Monsieur Picon will ihm dabei offenbar keinen Moment von der Seite weichen. Thies weiß gar nicht recht, wie er das finden soll. Einerseits kann er ein bisschen Unterstützung gebrauchen, andererseits geht ihm der selbsternannte Oberdetektiv mit seinem blöden Gerede von den grauen Zellen schon jetzt auf die Nerven. Bei der ersten Befragung hat er ihn noch mal dabei.

»Wir müssen alle Personen in diesem Zug befragen«, säuselt der Französischlehrer. »Jeder kann die Mörder sein. Jeder.«

»Na ja, ’n paar kann ich schon mal ausschließen.« Thies lässt keine Zweifel aufkommen. »Meine Frau Heike und auch Bounty, den kenn ich seit Jahren aus der ›Hidden Kist‹, der bringt keinen um!«

»’idde Kist?« Picon sieht ihn fragend an.

»Dat is der Imbiss in Fredenbüll. Aber für Bounty leg ich meine Hand ins Feuer.«

»Im Imbiss? Ins Feuer? Oder in die Fritteuse?« Picon lässt kichernd das Menjou-Bärtchen tanzen, Thies verzieht keine Miene.

»Heike und Bounty sind auf jeden Fall keine Mörder«, stellt er unmissverständlich klar.

»Es passieren die unwahrscheinlischsten Dinge, glauben Sie mir, Monsieur Detlefsen.« Picon sieht ihn herausfordernd an. »Wir müssen Person für Person befragen, wer sisch wann wo aufge’alten und wer etwas beobachtet hat, wer ’at zuletzt die Toilette benützt oder jemand anderen sie verlassen sehen …«

»Zuerst müssen wir uns die Schlüsselbunde zeigen lassen.«

»Oui, Monsieur Detlefsen. Wer ’at einen Schlüssel für die Toilettentür? Isch werde alles dokumentieren. Wir müssen uns eine Überblick verschaffen.«

Thies fühlt sich im Moment vollkommen überrumpelt. Was mischt sich dieser belgische Franzose hier in die Ermittlungen ein? Aber dann beginnt er mit den Befragungen und bittet das Ehepaar von Rissen ins Abteil.