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»Herr von Rissen, können Sie mir mal Ihr Schlüsselbund zeigen.« Thies kommt gleich zur Sache. Ihm ist die ganze Situation etwas unangenehm, aber er versucht, sich möglichst wenig anmerken zu lassen. Im Augenblick ist ihm sogar ganz recht, dass der Französischlehrer dabei ist.

»Was haben Sie damit denn vor? Wollen Sie bei mir einsteigen, lieber Detlefsen?« Der Ton des Fredenbüller Adligen ist jovial, aber auch ein bisschen pikiert.

»Dat is reine Routine. Ich muss mir alle Schlüssel zeigen lassen.« Es klingt fast wie eine Entschuldigung.

Von Rissen dreht seinen Hals in dem engen Hemdkragen. Dann zieht er ein dickes Schlüsselbund aus seinem englischen Jackett.

»Dat sind ja allerlei Schlüssel.« Thies staunt.

»Wir haben auf dem Gut auch allerlei Türen.« Von Rissen stößt einen meckernden Lacher aus.

Thies begutachtet das imposante Bund. Mit einem Griff hat er gleich einen Einheitsschlüssel herausgesucht. »Der würde auch für die Bahntoilette passen, oder?«

»Mag ja sein, aber ich benutze den Schlüssel für unsere Stallungen und die Remise … und beim Bahn-WC bin ich ausnahmsweise mal auf die Außentoilette ausgewichen.« Der Universalschlüssel kann den Dorfadligen nicht aus der Fassung bringen. Nach dem gemeinsamen Bordeaux am Vorabend ist von Rissen ungewöhnlich milde gestimmt.

»Ja, ich weiß schon.« Thies wird die Situation immer unangenehmer, während Monsieur Picon seine neue Rolle genießt. Er hat ein Notizbuch mit einem gemusterten Seideneinband und einen goldenen Stift gezückt.

»Sie sind Madame und Monsieur von Rissen, Überta und Onno, rischtisch?« Jean-Pierre Picon zupft an seinem Bärtchen, dann trägt er mit großer Geste etwas in sein Büchlein ein.

»Das sollten Sie ja nun wissen.« Huberta fehlt das Verständnis für die Frage. »Wir sind schließlich in Ihrem Französischkurs.«

»Naturellement , Madame, isch möchte nur alles genau dokumentieren.« Nicht nur Ehepaar von Rissen, auch Thies ist irritiert.

»Madame und Monsieur von Rissen, ’aben Sie in die letzte Nacht etwas Außergewöhnlisches beobachtet? Verdäschtige Geräusche?«

»Jo, is Ihnen irgendwat aufgefallen?« Thies will verhindern, dass der Belgier ihm die Befragung gänzlich aus der Hand nimmt.

»Was soll ich sagen, lieber Detlefsen, wir beiden haben mit unserem Dorfhippie und seiner attraktiven neuen Freundin im Abteil zusammengesessen und einen wunderbaren 2009 er Chateau Poujeaux getrunken. Und dabei ist mir allerdings aufgefallen, dass er Ihnen auch gemundet hat.«

»’at Ihre kleine Weinrunde Beobachtungen gemacht?«, schaltet sich Picon gleich wieder ein.

»Haben wir etwas beobachtet, Detlefsen?« Von Rissen sieht Thies an.

»Ja, nee, eigentlich nich.« Seltsamerweise findet sich der Fredenbüller Polizist auf einmal in der Rolle des Befragten, was ihm gar nicht recht ist.

»Überta, isch darf doch Überta sagen?«, wendet Picon sich jetzt an Frau von Rissen. »Sie waren nicht bei dem kleinen Umtrunk dabei, ’ab isch rescht? Wo waren Sie? ’aben Sie etwas beobachtet?«

»In der Tat, ich war nicht dabei, und Beobachtungen habe ich auch nicht gemacht. Ich habe Frau Ignatowskis Perserkatze noch einmal den Gang entlanghuschen sehen, und dann habe ich auch geschlafen oder zumindest gedöst.« Huberta von Rissen empfindet diese Fragen und vor allem das penetrante »Überta« als Zumutung.

Picon notiert alles ungerührt in seinem Büchlein. »Kennen Sie die Tote näher? Wie ist Ihr Verhältnis zu ihr?«

»Mit der Dame hat mancher hier ausgesprochen unangenehme Erfahrungen gemacht«, bellt Onno von Rissen.

»Welscher Art waren diese Erfahrungen?« Picon wedelt mit dem goldenen Schreiber durch die Luft.

»Na ja, Frau Christiansen war als Lateinlehrerin alles andere als beliebt«, schaltet Thies sich ein. »Meine Töchter Telje und Tadje hatten ja auch bei ihr Latein, und bei Tadje war dat … na ja, so mit Ach und Krach.«

»Aber reischt das für ein Mordmotiv?«, wendet Picon ein.

»Die Dame hat ganze Schülergenerationen auf dem Gewissen.« Onno kämpft mit dem engen Hemdkragen. Seine Gesichtsfarbe ist inzwischen röter als ohnehin schon. »Mit Frau Christiansen hatte noch mancher eine Rechnung offen.«

»War nich mit Ihrem Sohn damals wat?«, fällt Thies ein.

»Unseren Sohn Askan hat es die Zulassung zum Jurastudium gekostet.« Onnos Ton wird schärfer.

»Na, du bist gut«, ereifert sich Huberta. »Mit dem dritten Schulrauswurf hat die Frau Askan fast in den Tod getrieben.«