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Als Nicole mit ihrem Zivil-Mondeo auf den Hof der Landmaschinenvertretung Schmale fährt, sieht sie den Kfz-Meister schon draußen im Hof stehen. Aus der Werkstatt wummert eine Bassdrum aus dem Radio, die aber sofort von einer Verkehrsmeldung unterbrochen wird.

»Frau Kommissarin!« Der Mann ist in seinem blauen Overall mit dem Logo von Schmale viel zu dünn angezogen. Aber er scheint nicht zu frieren. Er kommt mit hochrotem Kopf sofort auf sie zu. Nicole hat sich mit ihrem schwangeren Bauch noch gar nicht ganz aus dem Auto herausgeschält.

»Sie haben mich eben angerufen?«

»Ja, der Chef is weg.« Irgendwie wirkt der Monteur reichlich durcheinander.

»Vielleicht kommt er ja gleich wieder.«

»Nee, der is weg, ganz komisch.«

»Es geht um Herrn Lundius, mit dem ich eben vor einer Stunde gesprochen hab, oder?«, vergewissert sich Nicole noch mal.

»Ja, sag ich doch.« Der Typ klingt auf einmal ungnädig.

»Ist das der Chef?« Nicole hat von Piet Paulsen schließlich eine andere Information.

»Ja, nee, der alte Chef lebt ja nich mehr … und Lundius hat ja zwei linke Hände.« Er winkt ab. »Ich mein, er ist ja tatsächlich Linkshänder. Werkstatt bin ich zuständig. Und eigentlich ist sie jetzt der Chef.«

»Sie ist die Tochter des alten Schmale und die Frau von Herrn Lundius, sehe ich das richtig?«, fragt die Kommissarin sicherheitshalber nach.

Der Mechaniker nickt. »Aber sie ist auch nich da.«

»Wie kommen Sie denn darauf, dass Herr Lundius verschwunden ist oder ihm möglicherweise etwas passiert sein könnte?« Nicole kann die Dramatik der Situation nicht ganz nachvollziehen.

»Na ja, sein Wagen steht da.«

»Das spricht doch eher dafür, dass er sich noch hier irgendwo auf dem Gelände oder in seinem Büro aufhält.«

»Nee, ich hab ihn ja vom Hof fahren sehen«, entgegnet der Mechaniker. Nicole kann nicht ganz folgen. »Nicht in seinem Wagen. Der steht dahinten, der Allrad-Pajero.« Er zeigt über den Hof zu dem Geländewagen neben der Kornsämaschine. »Er saß in dem kleinen ›flow‹ auf dem Beifahrersitz.«

Die Kommissarin sieht ihn weiter fragend an.

»Elektroauto. Dat is ’n Mietfahrzeug. Ich versteh das nich. Dabei hätte der Wagen dringend erst mal an die Ladestation gemusst. Der muss komplett leer gewesen sein. Damit können die nicht mehr weit gekommen sein. Besonders bei diesem Wetter.«

»Wäre bei dem Schnee sinnvoller gewesen, den da zu nehmen.« Jetzt deutet Nicole zu dem Pajero.

»Genau.« Der Mechaniker nickt. »E-Auto kannst du vergessen bei diesem Wetter.« Und dann wird er gleich wieder nachdenklich. »Da stimmt wat nich. Ich hab da ’n komisches Gefühl.«

Die Kommissarin betrachtet ihn skeptisch. Hier im Schneetreiben über den Sinn und Unsinn von Elektrofahrzeugen zu debattieren, hat sie in ihrem Zustand wenig Lust. Am liebsten würde sie gleich wieder in ihr warmes Auto steigen, sich Finn schnappen und in ihr schönes neues Zuhause fahren. Aber dann bemerkt sie den erwartungsvollen Blick des Mechanikers.

»Sie sagen, Ihr Chef saß nicht alleine im Wagen?«

»Nee, wie gesagt, der saß auf dem Beifahrersitz, das hab ich gerad eben noch von hinten gesehen.«

»Haben Sie gesehen, wer gefahren ist?« Allmählich kommt auch Nicole die Sache seltsam vor. Es klingt ganz so, als handle es sich um das gesuchte Fahrzeug, das der junge Ole Matthiesen letzte Nacht auf der Straße am Deich kontrollieren wollte.

»Wer gefahren ist, hab ich jetzt nich direkt gesehen. Aber ich vermute mal, dat war der, der den Wagen gemietet hatte. Dat war ja ’n Mietfahrzeug. Ich hab vorhin kurz mit ihm gesprochen, als er hier mit dem Wagen auf den Hof kam. Aber dann kam Gerri, also Herr Lundius, auch schon aus seinem Büro rausgetigert, und ich bin dann zurück in die Werkstatt.«

»Wie sah der Mann denn aus?«, fragt Nicole weiter.

Der Meister überlegt. »Normal. Zu dünn angezogen für dat Wetter. Nur so ’n Anzug.«

»Können wir nicht vielleicht reingehen?« Trotz Parka und Fellmütze wird Nicole allmählich kalt. »Ich würde mir sowieso gern mal das Büro von Herrn Lundius ansehen. Vielleicht finden wir da ja einen Hinweis, wo er abgeblieben ist.« So recht weiß sie allerdings nicht, wonach sie dort suchen soll, aber sie will aus dem Schneetreiben heraus.

Der Mechaniker zögert zunächst. »Ich weiß nich … Ich mein, der Chef is ja nich da …«

»Na ja, deshalb haben Sie mich schließlich angerufen.«

»Ach so, ja … ja, dann gehen wir mal rein.«

Auch in den Büroräumen läuft das Radio mit den Verkehrsmeldungen, hier allerdings in gedämpfter Zimmerlautstärke. Auf dem Schreibtisch herrscht ein echtes Chaos. Ein Wust von unterschiedlichen Schriftstücken, Briefen, Rechnungen und Prospekten liegt unsortiert kreuz und quer auf dem Tisch, das zerrissene Papier eines Müsliriegels, ein halb ausgetrunkener Kaffeebecher und daneben ein Smartphone. Hier hat jemand überstürzt seinen Platz verlassen.

»Sieht das hier immer so aus?«, fragt Nicole.

Der Werkstattmeister ist überfragt. »Weiß auch nich … Ich glaub nich. Aber vielleicht auch, weil die Chefin gerade nich da is.«

»Und die Chefin, also Frau Lundius, …?«

»Lundius-Schmale«, korrigiert er sie.

»… hat hier das Sagen?«

»Ja, sie setzt ja auf Elektro.« Der Mechaniker wiegt den Kopf. »Ich halt dat ja für verfrüht und Lundius auch.«

»Das heißt, zwischen den beiden gibt es Spannungen?«, vermutet Nicole.

»Wegen Elektro knallt dat zwischen den beiden immer wieder, und die Chemie stimmt auch nicht. Aber ich will ja nichts gesagt haben.«

»Sie sagten, Frau Lundius-Schmale ist ebenfalls unterwegs?«

»Ja, die is wieder nach Elmshorn runter.« Da muss der Monteur nicht lange überlegen.

»Nach Elmshorn?«

»Ja, sie hat da ’ne kranke Tante, die besucht sie regelmäßig.«

»Ist Frau Lundius-Schmale mit dem eigenen Wagen unterwegs?«

»Nee, die fährt immer mit dem Zug, Nord-Ostsee-Express. Is ja auch praktisch Elektro.«

»Mit dem Nord-Ostsee-Express?«, fragt Nicole nach. »Der steckt doch gerade im Schnee fest. Wann ist sie denn gefahren?«

»Weiß auch nich. Ich glaub, gestern Abend schon. Da war ich nicht mehr hier.«

Die Kommissarin sieht sich weiter um, und dann fällt ihr Blick noch mal auf das Handy.

»Ist dies das Telefon von Herrn Lundius?«

»Ja, dat is sein Handy.« Der Mechaniker stutzt. »Das lässt Gerri hier nich einfach liegen, da stimmt doch wat nich.«

Nicole nimmt das Handy und legt es gleich wieder auf den Tisch zurück. Ohne Passwort bekommt sie auch keine weiteren Hinweise. »Fällt Ihnen hier sonst irgendetwas auf?«

Der Monteur lässt seinen Blick noch mal durch den Raum schweifen und verneint.

»Wenn Ihr Chef wieder auftauchen sollte oder sich meldet, sagen Sie mir bitte Bescheid.« Damit verabschiedet sie sich.

Auf dem Weg zu ihrem Zivil-Mondeo fällt ihr neben einem eingeschneiten Böschungsmulcher plötzlich eine größere undefinierbare Spur im Schnee auf. Das sind keine Reifenspuren oder regelmäßigen Fußabdrücke von Schritten. Es sind viele Fußabdrücke, als hätte hier eine ganze Gruppe im Schnee gestanden oder jemand wäre vielmehr hin und her gelaufen. Und dann meint sie in dem zertrampelten und schon wieder leicht überpulverten Schnee rote Flecken zu entdecken. Von einem Moment zum anderen ist sie wie elektrisiert. Mit Mühe geht die hochschwangere Kommissarin in die Hocke und streicht den Neuschnee über der roten Verfärbung zur Seite. Ist das Blut? Was ist hier passiert? Das muss sich unbedingt die Kriminaltechnik ansehen. Und zwar möglichst bald, ehe die Spuren zugeschneit oder dann auch weggetaut sind. Der Mechaniker, der gerade in seine Halle zurückwill, ist gleich wieder zur Stelle.

»Ist Ihnen gar nichts aufgefallen?« Nicole klingt fast vorwurfsvoll. »Haben Sie nichts beobachtet oder gehört?«

»Wie gesagt, ich hab den ›flow‹ wegfahren sehen.«

»Und vorher?«

»Nee, ich war in der Halle unter der Hebebühne. Da lief noch der Probelauf von ’ner Kornsämaschine und dat Radio war an.« Aus der Werkstatt wummert noch unermüdlich der Bass in den verschneiten Hof hinaus. Er sieht die Kommissarin verunsichert an und überlegt. »Aber wo Sie dat jetzt sagen, da war ’n Geräusch, das da nich unbedingt hingehört … Ja, was war dat?« Er überlegt. »So ’n dumpfes Dumm-dumm. Weiß auch nicht …«

»Dumm-dumm?«

»Ja? Oder Donk-Donk. War so ’n Knallen dabei.«

»Haben Sie eine Waffe gesehen? Bei dem Kunden in dem dünnen Anzug?«

»Waffe? Nee.«

»Oder hat Ihr Chef Lundius eine Waffe?«

»Ja, sicher, in seinem Büro hat er ’ne Pistole.« Es klingt so, als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt. »Dat is ’ne kleine Glock. Für alle Fälle, sagt er immer. Kaliber? Weiß nich, ich glaub, zweiundzwanzig.«

»Wissen Sie, wo genau er die Waffe aufbewahrt?«

»Die liegt normalerweise im Tresor direkt in seinem Büro.«

»Können wir da mal nachsehen?« Nicole dreht noch mal um.

»Da kommen wir nich ran, der Tresor ist immer abgeschlossen.« Der Mechaniker winkt ab.

»Wollen wir trotzdem mal gucken!« Mittlerweile ist sie auch überzeugt, dass hier etwas nicht stimmt. Auf dem Weg durch das Büro nimmt die Kommissarin jetzt das Handy an sich. »Das sollte sich unsere Spusi vielleicht auch mal ansehen. Vielleicht gibt es Anrufe, die uns weiterbringen.«

Und dann stehen sie vor dem kleinen Wandtresor. Mit einem Blick ist zu erkennen, dass er nicht verschlossen ist. Die Metalltür steht einen Spalt weit offen. Der Tresor ist leer, kein Geld und keine Waffe. Nichts.

Der Kfz-Meister macht ein nachdenkliches Gesicht. »Scheinbar is er mit der Pistole los.«