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Das alte Reetdachhaus direkt am Deich ist noch mitten in der Renovierung. Aber der Kaminofen in der großen offenen Küche funktioniert schon. Nicole und Niggemeier haben einige Wände herausgenommen, sodass aus Küche, Ess- und Wohnzimmer ein zusammenhängender Raum entstanden ist. Die alten Holzdielen sind schon abgeschliffen und grundiert.

»Fehlt nur noch die letzte Ölung«, hatte Niggemeier gewitzelt. In einer Ecke steht ein Arrangement mehrerer Farbtöpfe und eingeweichter Pinsel. Auf dem Boden liegen vor den jeweiligen Wänden die Fußleisten zur Montage bereit. Momentan sieht es hier noch nach Baustelle aus. Aber ein Ende scheint absehbar.

Niggemeier hat in seinem Musikzimmer im Dachgeschoss gerade die ersten Kartons seiner Vinylplattensammlung sortiert. Nicole ist heute Abend einfach erledigt. Erst die Befragungen und dann hat sie auch noch begonnen, einen alten Tisch abzuschleifen. Das war in ihrem Zustand ein bisschen zu viel. Jetzt hängt sie reichlich erschöpft auf dem Sofa, das Niggi schon ins Haus transportiert hat. Das hässliche Sofa mit den grünen Streifen wollte sie auf keinen Fall in ihrem schönen, stilvoll renovierten Haus haben. Aber jetzt ist sie doch froh, es sich in eine Wolldecke eingehüllt auf dem Sofa gemütlich machen zu können. Niggi bringt ihr Tee, und Finn erzählt aufgeregt von Polarwirbeln in Bananenform und fünfzig Grad Hitze über den Wolken.

»Finn, was hast du dir da wieder für einen Quatsch ausgedacht?«

»Das ist überhaupt kein Quatsch«, protestiert ihr Sohn. »Das hat Piet nämlich gesagt.«

»Der muss es ja wissen.« Oberstudienrat Niggemeier grient.

»Genau, das hat Onkel Piet nämlich schon mal selbst miterlebt. Er war bei der großen Schneekatastrophe dabei … vor hundert Jahren oder so, weiß auch nicht.«

»Polarwirbel in Bananenform? Man lernt nie aus.« Niggemeier lacht, während er mit einem kleinen Messer einen »Croque Störtebeker« in mehrere Stücke teilt. Auf der Küchenarbeitsfläche stehen eine Tüte mit Sandwiches aus der »Hidden Kist« und eine Flasche Wein. Das richtige Geschirr ist noch nicht ausgepackt, nur ein paar Wassergläser. Es ist alles noch unfertig und improvisiert, aber irgendwie findet Nicole das gerade gemütlich. Auf einmal hat sie das Gefühl, dass sie eine Familie sind. Zum ersten Mal eigentlich.

Niggemeier zeigt Finn, wie man im Kaminofen Holz nachlegt. Dann schenkt er sich an dem offenen Küchentresen ein Glas Wein ein.

»Am liebsten würde ich jetzt auch ein Glas trinken.« Nicole setzt sich im Sofa auf.

»Du bekommst gleich noch einen Tee.« Niggi sieht sie streng an.

»Komm, ich hab auch den ganzen Tag gearbeitet.«

»Ich hab dir gesagt, du sollst dich schonen, auf keinen Fall den ganzen Tag im Streifenwagen durch die Gegend düsen.«

»Das ist doch kein Streifenwagen«, protestiert Finn. »Mama hat ’n Zivilfahrzeug. Mama is doch keine Streifenpolizistin.«

In dem Moment klingelt auf dem Küchentresen ein Handy. Niggemeiers Klingelton mit den ersten Akkorden von ›Sympathy for the devil‹ ist es nicht.

»Mama, dein Telefon«, ruft Finn und läuft sofort hin.

»Finn! Du gehst nicht an mein Handy«, ruft Nicole noch. Aber da hat ihr Sohn längst das runde grüne Feld gedrückt.

»Hallo, hier ist Finn«, meldet er sich. »… ach, Thies, du bist das. Rufst du von Paris aus an? … Was, du bist gar nicht in Paris? … zwischen Husum und Friedrichstadt? Dann kannst du ja kommen! Hier sind nämlich mehrere Vermisste …«

»Wer wird denn vermisst?«, ist Thies’ Stimme leise aus dem Smartphone zu hören.

»Weiß auch nich. Mama is die ganze Zeit rumgefahren und hat die Vermissten gesucht, während ich in ›De Hidde Kist‹ war … Ach so, jetzt sind wir in dem neuen Haus.«

Inzwischen hat sich Nicole vom Sofa erhoben und rollt mit gespielter Verzweiflung die Augen. »Finn, was hab ich gesagt, du sollst nicht einfach an mein Handy gehen«, zischt sie ihrem Sohn zu.

»Thies ist am Telefon!«, verkündet er lautstark.

»Ja, das hab ich jetzt mittlerweile auch mitbekommen.« Sie nimmt ihm das Telefon aus der Hand. »Endlich, Thies, wir müssen reden. Hast du jetzt wieder ein Netz?«

»Ja, nee, nur über ›friesitel‹, dat is nich mein Handy …«

Nicole wartet seine weiteren Erklärungen gar nicht ab, sondern berichtet ihm gleich von dem vermissten Ole Matthiesen und dem Landmaschinenvertreter. Aber vor allem sprechen sie über den Mord im Nord-Ostsee-Express. Nicole schildert ihm die Zeugenaussage von Oma Ahlbeck und Kurschatten Kurt.

»Haben die denn irgendwat von dem Täter oder der Täterin sehen können?«

»Nee, offenbar nicht. Zuerst dachte ich, sie hätten sich das alles nur eingebildet. Vor ein paar Tagen lief im Fernsehen ja dieses ›16 Uhr ab Paddington‹ oder so.«

»Paddington?« Thies kommt nicht ganz hinterher.

»Miss Marple«, klärt Nicole ihn auf. »Aber die Tote im Zug gibt es ja tatsächlich. Ich hab gehört, eine Agathe Christiansen?«

»Ja, dat war die Lateinlehrerin von Telje und Tadje.«

»Hast du schon irgendwelche Erkenntnisse? Wie ist die Motivlage?«

»Mordmotiv haben viele, eigentlich alle.«

»Christiansen?«, schaltet sich Niggemeier aus dem Hintergrund ein. »Ermordet? Die ist doch bei mir am Theodor Storm.« Er macht eine kurze Pause. »Aber kann ich verstehen. Schlimm die Christiansen, Pädagogik wie aus dem vorletzten Jahrhundert. Die hat ganze Karrieren auf dem Gewissen.«

»Aber wer sie umgebracht hat, konnten Oma Ahlbeck und ihr Kurt auch nicht erkennen«, erklärt Nicole weiter. »Nur das gegen die Scheibe gepresste Gesicht der Frau und ein rotes Tuch.«

»Dat rote Tuch ist uns bekannt. Vielleicht auch ein roter Morgenrock?«, fragt Thies voller Hoffnung.

»Ein roter Morgenrock? Nein … oder doch? Aber wieso sprichst du von uns?« Die Kommissarin wundert sich.

»Ja, Nicole, dat is es ja eben.« Thies’ Seufzen ist durch das Handy deutlich zu hören. »Mir funkt ja dieser Picon immer dazwischen.«

»Picon?«

»Dat is der Reiseleiter für Paris und so wat wie ’n Hobbydetektiv oder so.«

»Ich dachte immer, Picon wäre ein klebriger Likör für die Damenwelt«, gibt sie zurück.

»… jo, so ähnlich. Aber sag mal, muss ich eigentlich akzeptieren, dass dieser alberne Französischlehrer bei jeder Befragung danebensitzt?« Thies wartet auf eine Antwort, doch seine Kollegin schweigt. »Nicole, ich komm hier mit diesem Sabbelbüdel nich weiter. Kannst du nich kommen?« Er druckst herum. »Ich weiß ja, du bist schwanger … hochschwanger … aber …«

»Thies, du musst die Stellung noch mal halten. Im Augenblick kommt man zu dem Zug ja noch gar nicht durch. Aber es taut ja. Und wenn die Bahn weiterfährt, dann musst du die Leute erst mal im Zug behalten.«

»Is schon klar, keiner verlässt den Zug, solange der Fall nicht geklärt ist.«

»Und wir stoppen den Zug dann erst mal in Heide oder Meldorf.«