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Draußen dämmert es. Die Reisenden des Nord-Ostsee-Expresses richten sich etwas missmutig auf eine zweite Nacht im Zug ein. Zumindest gab es heute Abend etwas Leckeres zu essen, und Onno von Rissens Bordeauxvorrat ist auch noch nicht ganz aufgebraucht.

Dann quakt es auf einmal aus dem Lautsprecher. »Mein Name is Dennis Wiese, ich bin Ihr Zugbegleiter … Jo, also, ich wollte mich mal wieder melden. Unsere Weiterfahrt nach Hamburg-Altona verzögert sich noch eine Weile. Aber große Teile der Strecke sind schon wieder frei. Die Kollegen arbeiten da weiter dran. Geht also vielleicht schon bald weiter … Ähhh … Ssänk ju for trawelling wiss Deutsche Bahn.«

Thies ist alarmiert. Solange der Fall nicht geklärt ist, sollte der Zug auf keinen Fall weiterfahren. Keiner darf den Zug verlassen. Nicole muss herkommen und am besten auch die Spusi. Sie müssen allmählich mal zu normalen Ermittlungen kommen, sonst werden sie diesen Fall nie lösen.

Heike und auch die anderen sind sofort ganz aufgeregt, dass es gleich weitergehen soll. Und dann haben Heike, Bounty und Giselle vorhin auf dem Gang etwas aufgeschnappt.

»Bounty, dat müssen wir erzählen. Dat sind wichtige Hinweise für Thies.«

Der Althippie ziert sich noch. »Ich will hier ja keinen verpetzen …«

»Bounty, dat geht hier um Mord«, ermahnt Thies ihn.

»Wir haben einen kleinen Streit des Ehepaares Müller-Siemsen mitbekommen«, berichtet Giselle mit leiser Stimme weiter.

»Kleiner Streit ist gut«, bemerkt Bounty. »Das war schon ’n bisschen heftiger.«

»Is bei Müller-Siemsens ja nich unbedingt was Neues. Die waren doch schon mal so gut wie geschieden«, bemerkt Thies. »Worum ging dat denn?«

»Dat is es ja eben, um Agathe Christiansen«, zischelt Heike hinter vorgehaltener Hand dazwischen, damit es möglichst keiner mitbekommt. »Da war wohl was mit ihrer Schwester in der Universitätsklinik, weiß auch nicht.«

»Ja, dat haben Müller-Siemsens in unserer Befragung schon angedeutet«, bestätigt Thies.

»Um die Befragung ging es wohl«, übernimmt Giselle wieder. »Er hat ihr Vorhaltungen gemacht, dass sie diesen Kunstfehler euch gegenüber erwähnt und ihn damit in Verdacht gebracht hat.«

»Wie weit bist du denn überhaupt, Thies?«, will Bounty wissen. »Du hast ja tatkräftige Unterstützung.« Er grient seinen Imbissfreund an. Thies verzieht keine Miene.

»Na ja, Müller-Siemsens sind nicht die einzigen Verdächtigen. Außer uns vieren hier haben sonst fast alle ein Motiv.«

Und dann ist Oberdetektiv Jean-Pierre Picon auch schon wieder zur Stelle, wodurch sich Thies’ Laune nicht unbedingt verbessert.

Picon nimmt den Polizeihauptmeister gleich zur Seite. »Isch ’abe nachgedacht, mon cher . Sie wissen, die kleinen graue Zellen …«

Das bedeutet nichts Gutes, denkt Thies, aber er sagt nichts.

»Eh bien , isch ’abe eine Theorie«, flötet der Belgier.

»Und ich hab gerade mit der zuständigen Hauptkommissarin Nicole Stappenbek telefoniert«, unterbricht Thies ihn gleich. »Außer unseren Toten im Zug wird im Landkreis seit gestern nämlich auch noch ein junger Kollege vermisst, dat is quasi mein Vertreter.«

»Aber damit können wir ja nichts zu tun ’aben hier im Nord-Ostsee-Express, n’est-ce pas

»Weiß man nich, unsere Erfahrung zeigt, meist gehören die Mordfälle dann doch zusammen, auch wenn man dat erst nich denkt.«

»Ich wüsste nicht, was Ihr verloren gegangener Kollege mit unserer Toten in Waggon Eins zu tun ’aben sollte.«

Thies hat wenig Lust, das Thema abschließend zu diskutieren. Zunächst machen sich die beiden aber auf die weitere Suche nach Paris-Fahrkarten und dem roten Morgenmantel. Außerdem haben sie immer noch nicht alle Passagiere befragt. Und den Schaffner Dennis Wiese, der sich mit seiner Durchsage gerade in Erinnerung gebracht hat, hätten sie auch fast vergessen. Immerhin ist er der Einzige, der einen Universalschlüssel für das Bahn-WC besitzt.

»Monsieur Wiese? Vorname Dennis? Beruf controleur de train .« Picon notiert mit abgespreiztem kleinem Finger in sein Büchlein.

»Dat hat er ja nu selbst grade durchgesagt.« Thies verdreht innerlich die Augen. Staunend blickt er auf Wieses Bahnuniform. Der untere Teil der Hosenbeine ist üppig mit weißen Haaren beflockt.

»Sie ’aben ja diese Üniversalschlüssel für die toilette «, reißt der Französischlehrer die Befragung sofort wieder an sich. »Wann ’aben Sie damit die Tür geöffnet oder verschlossen?«

»Na ja, heute Morgen, als Sie mich gerufen haben und wir dann die Tote gefunden haben.«

»Isch meine, vor’er? ’aben Sie die Schlüssel vor’er benützt?«

»Vorher? Na ja, in Wagen Zwei. Da hab ich abgeschlossen, weil dat Klo is ja kaputt, schon ewig … die Wasserspülung. Dat is eine Scheiße.«

»Aber die andere Toilette war eigentlich offen?«, fragt Thies nach.

»Ja, wieso?« Dennis versteht die Frage nicht ganz. »Is ja im Augenblick dat einzige Klo.«

Monsieur Picon wechselt das Thema. »Kennen Sie Madame Christiansen?«

»Dat kann man wohl sagen«, platzt es aus dem Schaffner heraus.

Thies und Picon sind erstaunt. »Was für eine Beziehung ’aben Sie zu ihr?«

»Beziehung kann man dat eigentlich nich nennen«, rotzt Dennis heraus und verstummt gleich wieder.

»Woher kennen Sie sie denn?«, fragt Thies. »Lateinunterricht war dat ja vermutlich nich.«

»Wieso, dat is meine Nachbarin … leider Gottes.« Dennis Wiese tut so, als müsse das jeder wissen. »Wir wohnen im selben Haus in Husum.«

»Das nachbarschaftlische Ver’ältnis war offenbar nischt das beste?«, vermutet Picon.

»Nachbarschaftliches Verhältnis?!« Der ansonsten reichlich lethargische Schaffner bekommt einen roten Kopf. »Mit der Christiansen in einem Haus, dat is die Hölle! Die is nur am Rummeckern und Zetern, und die hat meine Katze vergiftet!« Wiese redet sich in Rage.

»Sie ’aben eine Katze?«

»Ja, eben nich mehr, die hat sie vergiftet. Mit Rattengift. Unglaublich! Scheint wat gegen Katzen zu haben. Fjodor hier von der russischen Gräfin hat sie doch auch gleich einen mitgegeben mit ihren dicken Gesundheitsschuhen.« Wieses Kopf wird immer röter.

»Es macht mir den Eindruck, Ihr Ve’ältnis zu Madame Christiansen war, wie soll isch sagen … désolé «, konstatiert Jean-Pierre Picon.

»Sie is ja nur am Schimpfen. Ständig hat sie sich über dat Grillen beschwert. Im Sommer grill ich, is doch normal. Und dat Schärfste, ständig behauptet sie, ich hab dat Treppenhaus nich gemacht. Auch wenn ich gar nicht dran war. Unglaublich!«

»Na, dat Thema is ja jetzt wohl durch.« Den Treppenhausreinigungsplan will Thies jetzt nicht unbedingt weiter diskutieren. Er starrt auf die Katzenhaare an Wieses Hose.

»Als die da heute Morgen tot neben der Toilette saß, da hab ich … Also ich will nix gesagt haben.«

Jean-Pierre Picons Gesichtszüge geraten in Bewegung. Es sieht aus, als wanderten die Augenbrauen ganz langsam Richtung Stirn.