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Die Fahrgäste drängen sich in das Fahrradabteil. Es ist schummrig. Der Strom ist immer noch ausgefallen. Einige haben eine Kerze dabei, andere die Taschenlampe ihres Smartphones eingeschaltet. Thies hatte noch versucht, die Vollversammlung im Nord-Ostsee-Express zu stoppen oder zumindest zu verschieben, bis sie mit ihren Erkenntnissen ein bisschen weiter sind. Aber der Französischlehrer war von seinem Vorhaben überhaupt nicht abzubringen. Jean-Pierre Picon hat alle ins Fahrradabteil zitiert.

»Mesdames et Messieurs , wir ’aben uns hier versammelt, um den Tod einer gewissen Agathe Christiansen zu untersuchen«, setzt Picon mit großer Geste an. »Es gibt für den Mord verschiedene möglische Lösungen, die isch Ihnen jetzt vorstellen werde. Und dann mag unser gendarme aus Fredenbüll, Monsieur Detlefsen, entscheiden, welsche davon die rischtige ist.«

Picon, auch zu später Stunde im makellos sitzenden dunklen Anzug und mit Pomade im Haar, trägt den gesuchten roten Morgenrock über dem Arm. Wie er und Thies eben festgestellt haben, ist an der Schulter eine Naht eingerissen, außerdem fehlten der Gürtel, den einige Zeugen beschrieben haben, und der zweite Knopf von oben. Die auf dem Mantel vorhandenen Knöpfe passen exakt zu dem Exemplar, das sie in der Hand der Toten gefunden hatten.

Fast alle aus der Reisegruppe haben bereits auf den Klappsitzen Platz genommen. Die Lateinlehrerin hat Thies provisorisch auf die Schnelle mit einer Decke abgehängt. In den Gesichtern der versammelten Fahrgäste spiegelt sich eine Mischung aus Müdigkeit und Überdrehtheit, Empörung und blankem Entsetzen.

»Herr Detlefsen, was soll das für eine Veranstaltung werden?«, echauffiert sich Angelica Müller-Siemsen. »Mitten in der Nacht hier zusammen mit Frau Christiansen, das ist doch eine Zumutung!«

»Angelica, lass doch mal, die Herren werden sich schon etwas dabei gedacht haben«, will der Professor seine Frau beruhigen.

»Lassen Sie uns teilhaben an der großen Weisheit von Monsieur Picon.« Onno von Rissen dreht den Hals im engen Hemdkragen.

»Gruppendynamische Sitzung zu später Stunde?«, grient Bounty und Giselle kichert in sich hinein. Beide sind dank des Bordeaux in bester Laune. Aber dann wirft Giselle gleich einen verschämten Blick auf die notdürftig verhüllte Agathe.

»Ja, meine Idee war dat jetzt … nich unbedingt.« Thies klingt kleinlaut.

»Was soll ich hier eigentlich?!«, schreit Frau Ignatowski, die von Huberta von Rissen in den Fahrradwaggon geführt und auf einem der Klappsitze platziert wurde, laut durch den ganzen Wagen. »Ist das hier der Speisewagen? Wohl kaum!« Sie dreht den Schildkrötenhals und wirft einen Blick in die Runde. »Was macht denn dieser Franzose da mit meinem Morgenrock?«

»Belgier!«, ruft Heike dazwischen.

»Ist da ein Riss im Stoff und wo ist überhaupt der Gürtel mit den chinesischen Applikationen?« Frau Ignatowski ist schwerhörig, aber sie sieht noch ausgezeichnet. »Wären Sie so freundlich, mir meinen Kimono wieder auszuhändigen!«

»Der is erst mal beschlagnahmt«, stellt Thies klar. »Den muss sich erst mal die Spusi angucken.«

»Was ist das nur für ein Spektakel mitten in der Nacht?«, kräht die Gräfin durch das Abteil.

»Polizeihauptmeister Detlefsen und unser Reiseleiter Monsieur Picon haben wohl Neuigkeiten für uns«, schreit Huberta der russischen Gräfin fast genauso laut ins Ohr.

»Hätte das nicht bis morgen früh Zeit gehabt?«, poltert Onno von Rissen dazwischen.

»Morgen früh sind wir vielleicht schon fast in Paris.« Heike hat den Schock über den Fund des roten Morgenrocks überwunden und ist voller Hoffnung.

Zwischendurch huscht Perserkater Fjodor einmal durch den Waggon, zupft ein Weilchen vergeblich an der Persenning der toten Agathe und verdrückt sich dann misslaunig fauchend Richtung Schaffner-Kabine. Angelica Müller-Siemsen muss sofort niesen und ist sowieso verschnupft. Die versammelte Reisegesellschaft wirkt verärgert. Insbesondere Onno von Rissen und Lady Curzon sind alles andere als amused.

Die Paris-Reisenden sind mittlerweile vollzählig erschienen. Auch Daniel Koop, der immer noch auf der Suche nach seinem Handy ist, hat sich etwas verspätet in dem Fahrradabteil eingefunden. Nur Frau Lundius-Schmale, der große Schweiger in der karierten Winterjacke und Schaffner Dennis Wiese sind bisher nicht erschienen. Sind dies die Hauptverdächtigen, diejenigen, die schon bei der Abfahrt den Zug erst in letzter Sekunde erreichten und sich jetzt wieder drücken? Dennis Wiese, Daniel Koop, Frau Lundius-Schmale und der karierte Schweiger? Thies macht sich so seine eigenen Gedanken.

Monsieur Picon ist derweil nicht mehr zu bremsen und will loslegen. Die leichte Unruhe in der Gruppe erstirbt sofort, als er sich erhebt und mitten in das Abteil zwischen die Reisenden stellt, als wolle er zu einer Führung durch den Louvre starten. Doch jetzt geht es um Wichtigeres. Jean-Pierre Picon hat sich fest vorgenommen, heute Nacht den Mörder von Agathe Christiansen zu präsentieren.

»Isch bedaure zutiefst, dass wir Sie noch einmal belästigen müssen.« Picon räuspert sich. Thies runzelt die Stirn. »Sie können mir glauben, wir werden das Äußerste tun, um der Gereschtischkeit zum Sieg zu verhelfen.«

»Das muss ja aber vielleicht nicht um Mitternacht sein. Wer leitet denn hier die Ermittlungen?«, bellt von Rissen dazwischen.

»Wer schon? Thies, natürlich.« Heike hat rote Wangen bekommen und ihr Heuwagen ist zu später Stunde mal wieder vollkommen aus der Fasson geraten.

»Selbstverständlich. Ich habe nur die Ehre, Monsieur Polizei’auptmeister bei seinen Ermittlungen zu unterstützen.« Picon zwirbelt mit abgespreiztem kleinem Finger sein Bärtchen.

»Thies, ist doch gar nicht schlecht, dass du statt Nicole mal ’n anderen Partner hast«, raunt Heike ihm zu. Die innige Zusammenarbeit ihres Gatten mit der blonden Kommissarin war ihr ja von Anfang an ein Dorn im Auge. Bounty muss grinsen. Thies ist die ganze Situation peinlich. Picon dagegen genießt seine Rolle.

»Isch glaube, wir sind jetzt alle versammelt.« Picon will endlich zu seinen Ausführungen ansetzen.

»Der Mann und die einzelne Dame aus Wagen Zwei fehlen noch, außerdem der Schaffner«, ergänzt Thies. »Kommen bestimmt gleich noch.« So recht mag er den Sinn der ganzen Veranstaltung immer noch nicht einsehen.

»Der oder die Täter, wie isch ausdrücklich betonen möchte, ’aben zahlreiche ’inweise ’interlassen«, fährt Picon unbeirrt fort. »Wir ’aben eine Fahrkarte am Tatort gefunden, eine Knopf, eine Bonbonpapier von eine dänische Lakritz …« In diesem Moment starren alle den HNO -Professor an. »Wir beobachten überall die weißen ’aare von Kater Fjodor.«

»Kein Wunder«, blökt der Dorfadlige von Rissen mit schwerer Zunge. »Das Viech fusselt ja wie eine alte Wolljacke.«

»Onno, bitte!«, raunt Huberta mit Blick auf ihre Freundin, die russische Gräfin.

»Wenn wir alle die weißen Katzenhaare an unserer Kleidung haben …«, Angelica Müller-Siemsen starrt die weißen Fussel auf den Hosenbeinen ihres Mannes und dann Onno von Rissens und Bountys Hose und Giselles neue Sneakers an, »… danach müssten wir alle die Mörder von Agathe Christiansen sein. Eine abstruse Idee!« Sie niest demonstrativ in ihr Taschentuch.

»Nischt ganz so abwegig, Madame. « Picon streicht sich mit der Hand über die Pomadenfrisur. »Da kommen wir der Lösung des Falles schon ein ganzes Stück näher.« Er macht eine bedeutsame Pause. »Sie ’aben alle ein Motiv. Jeder hat eine offene Rechnung mit Agathe Christiansen. Und dabei ’andelt es sich um ’ohe Reschnungen. Es geht um Erpressung, um ver’inderte Karrieren, fast eine Suizid und eine ermordete Katze.« Picon macht eine betrübte Miene.

»Das ist nun wirklich absurd«, schimpft Onno von Rissen.

»Ist tatsächlich eine gewagte These. Mir zumindest war die Dame vorher unbekannt«, bekennt Giselle.

»Und ich hab nich mal das kleine Latinum.« Bounty können Picons Ausführungen wenig beeindrucken.

»Weil sie Tadje mal beim Schummeln erwischt hat, erdrossele ich sie doch nicht gleich«, protestiert Heike. Thies weiß gerade gar nicht, was er sagen soll.

»Meine ’errschaften, beruhigen Sie sich.« Picon hebt beide Hände.

Doch die Paris-Reisenden protestieren. Als es in der Gruppe gerade wieder etwas ruhiger wird, schallt auf einmal ein Schrei aus dem nächsten Waggon in das Fahrradabteil hinüber. Durch die Entfernung und die Waggontür dazwischen gedämpft, trotzdem schrill und schneidend. »Hiiiilfeee!« Und dann wird der Schrei abgewürgt.