Bovec, August 1938

Schade, das Alter des Hand-in-Hand-Gehens war vorbei, genauso wie das der krummen, dicken Beinchen, in die man kneifen konnte. Seine Neffen waren immer noch beste Freunde, aber mit zehn und sieben Jahren keine niedlichen Kleinkinder mehr, die aneinander klebten, sondern zwei Bengel mit eigenem Willen und immer deutlicher an den Tag tretenden Charakterzügen: Greco der Zuverlässige, der Tüftler, der Brücken über Bergbäche baute, deren Konstruktion er vorher aufgezeichnet hatte, den Kopf mit der breiten Stirn tief über das Papier gebeugt, ein kluger, eher behäbiger Junge mit einer Tendenz zu Wutausbrüchen, ein Dickschädel auch, aber durchaus charmant. Manfredi der Leichtfüßigere, Unkonzentriertere, der sich heute für dieses und morgen für jenes interessierte, der schnell dachte, viel plapperte und noch mehr lachte. Das Hilflosigkeitsalter war vorbei, die Flegeljahre standen noch aus, eine unschuldige Zwischenzeit der Bewusstwerdung, dachte Ljubko, während er die beiden beim Striegeln von Mutters alter Kuh beobachtete, einer der Lieblingstätigkeiten Manfredis: Beschäftigung mit dem Lebendigen – während Greco wohl eher die Futtermenge für die kommenden Tage berechnete. Mit Greco sprach Ljubko wenig, ganz im Gegensatz zu Zora, die mit ihrem zweitgeborenen Sohn in einem unablässigen Gesprächsfluss zu sein schien, der Knabe dachte ähnlich wie seine Mutter, war stur wie sie und oft auch wütend. Manfredi, dieser flirrende Geist, war für alle schwieriger zu fassen, aber dank seines munteren Wesens ein ganz und gar unproblematisches Kind. Wenn ihm etwas misslang, weinte er kurz, versuchte es noch einmal und freute sich, wenn es glückte. Wenn nicht, wandte er sich etwas anderem zu und war zufrieden. Ljubko dachte selten über seine Neffen nach, dafür oft über seine Schwester, eigentlich täglich. Sie schien den Kindern zugeneigt, war besorgt um sie, aber wenn er andere Mütter im Dorf beobachtete, Ana zum Beispiel, wusste er, dass Zora etwas Entscheidendes fehlte, etwas, das er selbst nicht fühlen konnte, da er kein Vater war und schon gar keine Mutter, zudem waren ihm Kinder eine fremde Welt. In einer nächtlichen Stunde in Bari hatte Zora ihm anvertraut, dass ein kleines schwarzes Loch in ihr klaffe, das sich mit bestem Willen nicht schließen ließe. Bedingungslose Mutterliebe war ihr fremd, sie verstand sie einfach nicht. Sie schien ihre Söhne zu analysieren, wie sie ihre Brüder analysierte, als ob sie bei Professor Freud höchstpersönlich studiert hätte, und wenn er darüber nachdachte, was das schwarze Loch war, fiel ihm ein Wort ein, das er ihr einmal an den Kopf geworfen hatte: Misstrauen (worauf sie ihn sofort korrigiert hatte: es sei ein leises, zudem gesundes Misstrauen). Sie misstraute jedem, also auch ihren Kindern. Er ahnte ihre Angst. Ihre Söhne würden älter werden und sie anlügen und sie verlassen. Sie würden Frauen kennenlernen, von denen sie sich manipulieren ließen, junge Frauen konnten richtige Agitatorinnen sein, Schwiegertöchter erst recht. Die Frauen würden ihren Einfluss ausbauen und die Söhne würden ihnen nach dem Mund reden, so wie seine Brüder und Cousins ihren Frauen nach dem Mund redeten. Hätte Zora sich ihren Kindern hingegeben wie Ana, würde sie eines Tages gedemütigt und gekränkt zurückbleiben – und sie war leicht kränkbar. Hätte sie Töchter statt Söhne, dachte Ljubko, wäre das schwarze Misstrauensloch nicht winzig, sondern riesig, denn Frauen, davon war Zora überzeugt, logen mehr als Männer, weil ihnen Macht verwehrt wurde und sie sie kompensieren mussten, was sie durch Unehrlichkeit taten. Zur Entschuldigung der Frauen sagte sie dann: Es bleibt ihnen ja nichts anderes übrig. Die ehrlichsten Frauen waren daher jene mit Macht, weil den Männern ebenbürtig, erklärte Zora gerne. Wenn in einer kommunistischen Gesellschaft die Unterdrückung der Frau ad acta gelegt wäre, könnten einander alle auf Augenhöhe begegnen, was bedeutete, dass die Frauen weniger lügen und betrügen müssten. Gefälle schaffe Unehrlichkeit, nicht nur zwischen den Klassen, auch zwischen den Geschlechtern, zwischen Eltern und Kindern, Kinder sollten daher ernst genommen und nicht verhätschelt werden. Solche Dinge wurden in Bari oft diskutiert, auch in Ljubkos Anwesenheit, in Bovec weniger, hier gab es niemanden zum Diskutieren, außer Pepca vielleicht, und die zeigte sich sowieso einig mit Zora, insofern hatte seine Schwester gut daran getan, Pepca mit Boris zu verheiraten, eine ihr nicht wohlgesinnte Schwägerin weniger. Zoras These, dass die erste Loyalität dem Partner und nicht den Kindern gehöre, stieß rundum auf heftigen Widerspruch, Ana hätte deswegen fast mit ihr gebrochen (die ließ sich allerdings von ihrem Mann schlagen, war von Gleichberechtigung weit entfernt). Wenn Zora sagte, für ihren Mann habe sie sich entschieden, weil er ihr gefalle, ihre Kinder habe sie sich nicht aussuchen können, dachte jeder an den armen Davide, der die Sommermonate allein in einem Kinderferienheim in Österreich verbringen musste, was Zora damit rechtfertigte, sein Deutsch sei verbesserungswürdig, während Greco und Manfredi gemeinsam durch Bovec tollten (das natürlich immer noch Plezzo hieß). Dieses Jahr allerdings, nach dem ungeheuerlichen Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich, hatte sie Davide in die französischsprachige Schweiz in ein Sommerinternat geschickt, auch Französisch wollte gelernt sein.

Sommer bedeutete Bovec. Bovec bedeutete Pause vom Gesellschaftsleben, vom Glanz. Pause vom politischen Leben auch. Die Dorfbewohner waren Handwerker und Bauern, die Felder in der Ebene mussten bestellt (und die Toten darunter vergessen) werden, die Tiere die Hänge hinauf- und hinabgetrieben, die Gärten gepflegt. Für Politik war kaum Zeit und glanzvoll war hier nichts. Die Situation im slowenischen Teil Julisch Venetiens blieb angespannt, kaum einer der Alteingesessenen wollte zu Italien gehören. Italienisch war zwanzig Jahre nach Kriegsende immer noch die Sprache der Okkupatoren, eine ganze Generation wuchs mit der falschen Sprache auf. Zu Hause redete man Slowenisch, mit den Kühen und Ziegen auch, mehr oder weniger heimlich beides, man kannte die Handvoll faschistischer Lakaien, die Rom in die Provinz geschickt hatte. Ljubko hatte kurz nach seiner Ankunft aus Triest von einem ehemaligen Schulkameraden vernommen, zwei TIGR-Kämpfer seien im Dorf untergetaucht, sie würden im Stall der Podgorniks hausen. Er hatte es Zora erzählt, die aufgeregt bei den Podgorniks angeklopft hatte, aber da waren die Widerständler schon weg gewesen. Seit TIGR mit der Kommunistischen Partei Italiens kooperierte, war die Gruppe (militante Leute), die dafür kämpfte, dass die slowenischen Gebiete Italien entzogen und Jugoslawien zugesprochen würden, bis nach Süditalien bekannt, und in Bari war Zora von der Partei nach TIGR-Mitgliedern befragt worden (in eine Pasticceria haben sie mich bestellt, in der Mittagshitze!), hatte aber wenig sagen können, weil sie zu selten in Bovec war, auch Ljubko wusste nicht viel über sie, obwohl sein Wohnort Triest der Anfang ihres Namens war: Trst Istra Gorica Rijeka. Es gab Gerüchte, der britische Geheimdienst unterstütze TIGR, andere besagten, Tito arbeite mit ihnen zusammen. Tito war sowieso eine interessante Figur, dachte Ljubko, man hörte allerlei über ihn, dass er aus der Arbeiterklasse stamme, aber ein Bauernsohn war, der sich mit seinen Kumpanen am liebsten in Wäldchen treffe, zur Zeit aber mit seiner Frau in einem Pariser Hotelzimmer lebe, vor allem aber: dass er Uniformen liebe. Im Gegensatz zu seiner Schwester war Ljubko kein politischer Mensch, genauso wenig wie seine Brüder: Franc war ein strebsamer Familienvater in Serbien, Boris wollte mit Pepca ein friedliches Leben führen, Gemeindechroniken erstellen und ansonsten auf Berge klettern, und Nino war einfach ein Opportunist. Und er, wer war er eigentlich? Was wollte er? Auf jeden Fall nicht seine Tage in Bovec verbringen, schon gar nicht jetzt.

Jeden Sommer pfiff Zora ihre Familie in Bovec zusammen, anders konnte man das nicht nennen, sogar Franc kam aus der Vojvodina angereist, inklusive der Serbin und der drei Kinder. Nino fand jedes Jahr gute Ausreden, um nicht antanzen zu müssen, Libyen, Abessinien, irgendein Krieg war immer, aber natürlich hatte er in erster Linie Angst vor seiner Schwester. Und Angst vor den Leuten im Dorf. An seiner Stelle würde ich mich hier auch nicht blicken lassen, dachte Ljubko, jeder wusste: Nino war Mussolini-Offizier. Seltsamer Vogel, sein jüngerer Bruder, sie hatten einander zuletzt im Mai 1936 in Bari gesehen, als Ljubko von seiner ersten Reise nach Ustica zurückgekehrt war (der keine Aura des Schicksalhaften anhing wie der zweiten), um über den Zustand der Besitzungen Rapport abzulegen, und Ninos Schiff im Hafen von Bari lag, bevor es wieder Richtung Afrika ablegte, um weitere Truppen zu transportieren, vierhunderttausend Mann waren bereits in Abessinien. Das kurze Treffen am Hafen war in eine Katastrophe ausgeartet, Zora hatte Nino beschimpft, ja angebrüllt (man hört, ihr setzt Giftgas ein, wie kannst du es wagen, wo du doch weißt, was an der Soča geschah!), und Ljubko war nur froh gewesen, als das Schiff seines Bruders in See stach. Beide waren sie Junggesellen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, Nino war zu oft unterwegs und sowieso ein Schmetterling, und er selber, nun ja. Zora hatte ihre Brüder nie gedrängt, sich bald zu verheiraten, aber als sie Mussolinis Zeitungsartikel las, in dem er schrieb, die Kinderarmut der Italiener sei das Problem der Probleme (vor allem die Kinderarmut des wohlhabenden Bürgertums, das in Häusern ohne Kinder, aber mit Hunden und Hündchen lebt), die Italiener müssten wieder Helden und Heldinnen der Fruchtbarkeit werden, zeterte sie über sich selbst, weil sie drei Söhne geboren hatte, und beschwor ihre Brüder, standhaft und ohne Nachkommen zu bleiben, Fortpflanzung für den Duce, das wäre ja noch schöner; sie war kurz davor, sich einen Hund und ein Hündchen anzuschaffen. Vielleicht hatte sich Nino aus lauter Trotz gegen die schwesterliche Bevormundung kurze Zeit darauf verlobt, ein Mädchen aus Tarent, die Verlobung aber Wochen später wieder gelöst, zur allgemeinen Belustigung der Familie. Würden Nino und er noch lange unverheiratet bleiben, müssten sie die neu eingeführte Sondersteuer für Junggesellen bezahlen, Mussolini machte wirklich ernst mit seinem Plan, lauter Italienerkinder zu produzieren, es war ärgerlich.

Manfredi und Greco waren aus dem Stall auf die Straße gestürmt, in Bovec führten sie ein freies Leben wie sonst nirgends. Auf Ustica wäre es auch so, er hatte gesehen, wie die Inseljugend sich draußen tummelte, in Bari gehörte sich das nicht (da waren nur die Kinder der Armen allein draußen, zahllose kahl geschorene kleine Bengel in zerrissenen Hemdchen). Doch Ljubko war ein Stadtmensch und das Dorfleben machte ihn nervös. Anders als seine Schwester konnte er nichts daran finden, Kräuter zu sammeln, Heuballen herumzufahren oder in der Käserei Gespräche über Ziegenmolke zu führen, er war lieber in Wien oder zu Hause in Triest, wo das Meer vor seinen Füßen lag. Heute allerdings wäre er lieber ganz woanders. Er setzte sich auf die Bank vor seinem Elternhaus und dachte über sein Leben nach. Bislang hatte er seine Erregtheit gut kaschieren können, die Geschehnisse der letzten Wochen waren nicht bis nach Bovec gedrungen, aber er fürchtete jeden Tag einen denunziatorischen Brief und schaute voller Sorge auf die Post, allein schon der Gesichtsausdruck des Briefträgers verschreckte ihn, durchtriebenerweise hatte man einen Italiener als Postmann installiert. Dass seine Grundempfindung einmal Angst sein könnte, hatte er nicht erwartet. Er hatte sich als Kind nicht geängstigt, als sie vor den Geschützen der Italiener aus Bovec geflüchtet waren, er hatte sich nicht geängstigt, als sie in das zerstörte Dorf zurückgekehrt waren, nicht einmal das Wissen um die Leichenfelder hatte ihn besonders verstört. Auch später, als er allein nach Triest ging und dort in einem Lithografenstudio zu lernen anfing und keinen Menschen in der Stadt kannte, war er guten Mutes gewesen. Sogar diese eigenartige Stimmung, die sich wie ein immer dichter werdendes, klebriges Spinnennetz über Europa legte, diese nervöse Erwartung schwerwiegender Ereignisse, ängstigte ihn nicht. Er war von seiner Schwester einiges gewohnt, sie exponierte sich mit ihren Gesellschaften, die sie gab, mit Vortragsrednern, die sie zu sich einlud, sie schien sich vor der Regierung nicht zu fürchten, es war, als ob sie unangreifbar wäre, als Kind hatte er oft gedacht, sie sei eine Hexe, die ihn beschütze, manchmal dachte er das heute noch (niemand würde eine Zora Del Buono, geborene Ostan, verhaften, mit diesem Gestus ging sie durch die Welt, und interessanterweise schien das jeder zu glauben). Aber dass er jetzt in den Fokus der Polizei geraten war, dass er sich unter Beobachtung fühlte, dass ihm Hausarrest drohte oder gar die Verbannung, ganz zu schweigen von dem Skandal, das ängstigte ihn sehr, zudem wollte er seine Mutter schonen, die einen zunehmend kränklichen Eindruck machte. Er gab vor, alles sei normal, unterhielt sich mit Manfredi, soweit man sich mit einem Siebenjährigen unterhalten konnte, half seiner Mutter im Haus, spielte vor dem Schlafengehen Karten mit Zora und Greco, hackte Holz, mistete den Stall aus, reparierte Fensterläden, holte dieses und jenes, kurz, er spielte Sommerferien wie immer und wusste doch, dass mit einem Schlag alles vorbei sein könnte. Michele schrieb ihm Briefe, rätselhafte Briefe, die er erst deuten musste. Zudem durften sie weder Zora noch seiner Mutter in die Finger geraten, er saß draußen und wartete auf den Postboten, um sie abzufangen.

Wann hatte alles begonnen? War es wirklich Angelo Zappacosta gewesen, der den Ausschlag für seine Wandlung gegeben hatte? Konnte so etwas sein, biologisch gesehen? Er war doch schon dreiunddreißig, als es geschah (er wollte jetzt nicht an Jesus Christus denken). Hätte es nicht früher beginnen müssen, im Alter von Davide etwa? Einerseits wünschte er, er könne die Zeit zurückdrehen, in die Vor-Zappacosta-Epoche. Andrerseits hätte er dann Michele nicht getroffen. Oder zumindest nicht beachtet. Zwischen Zappacosta und Michele lagen zweieinhalb Jahre und ein halbes Dutzend Männer. Davor lag: nichts. Wie konnte es sein, dass er nie etwas gespürt hatte? Dass er sich selber nicht kannte? Wie konnte es überhaupt sein, dass man sich selber nicht kannte? Zora sprach gern über Professor Freuds These, der Mensch sei sich fremd und habe ein Unbewusstes, das er nicht steuern könne, worüber Ljubko als junger Mann gelacht hatte, weil er sich vorzustellen bemühte, wie Seele und Unbewusstes sich gegenseitig den Platz streitig zu machen versuchten, aber dauernd kollidierten, weil sie sich ja nicht steuern konnten, lauter abstrakte Dinge, die da in seinem Inneren hausten, aber jetzt war ihm das Lachen vergangen. Anders als seine Schwester konnte er Haltung bewahren, wenn die Sachen zu entgleiten drohten. Er war ein guter Schauspieler, immer gewesen, aber seit dem Winter 1935 erst recht. Er war stark, er war schön, er war durchaus eitel, in Bovec fiel er auf wie eine Orchidee im Bauerngarten. Gleichgeschlechtliche Unzucht nannte man das, was er gern tat. Zum ersten Mal gehört hatte er diesen Begriff, als Pietro eine Berliner Lokalität namens Eldorado erwähnte, in die ihn das übermütige Fräulein Dr. Bloch als jungen Mann geschleppt hatte. Pietro hatte herumgedruckst, welche Leute das Eldorado frequentierten, aber Zora war nicht begriffsstutzig und hatte sofort ausgerufen: Ist Fräulein Bloch eine Gleichgeschlechtliche?! Ob sie das beruhigt oder beunruhigt hätte, war nicht zu erfahren gewesen. Man hatte über gleichgeschlechtliche Unzucht gesprochen und über die Theorien eines Berliner Arztes, dessen Name sich Ljubko mit bestem Willen nicht hatte merken können, er wusste nur, dass ein deutsches Tier darin vorkam, ein Arzt, der behauptete, dass das, was Menschen wie er empfanden, keine Krankheit sei, sondern eine Art Varietät. Mussolini allerdings vertrat eine eigene Sichtweise. In Italien gibt es nur echte Männer, hatte der Duce verkündet. Ich bin ein echter Mann, hatte Michele ihm ins Ohr geflüstert, als er sich an ihn drückte, in jener mondhellen sizilianischen Nacht unterhalb des Spalmatore, als selbst das Meer vor Schreck über das, was gerade geschah, zu verstummen schien. Zappacosta hatte seine Begierde geweckt, die nachfolgenden Männer hatten seine Begierde gestillt, Michele aber hatte seine Seele und seinen Körper eins werden lassen (was sein Unbewusstes wohl dazu meinte, fragte er sich manchmal, aber nur selten). Ljubko hatte sechsunddreißig werden müssen, um sich als ganzer Mensch zu fühlen. Zwei Monate war das her, nur eine Woche war ihnen vergönnt gewesen, Ljubko hätte unmöglich länger auf Ustica bleiben können, viel zu klein die Insel, viel zu auffällig Michele. Genau wegen dieser Auffälligkeit hatte man den Jüngling aus Ligurien in den tiefsten Süden auf eine kahle sizilianische Insel verbannt. Erst zwei Monate Hausarrest, dann die Verbannung. Während des Arrests waren die Kleriker gekommen (unangemeldet!) und hatten es mit Exorzismus versucht, nicht in der Kirche, sondern bei Michele zu Hause, wo er mit seiner Mutter lebte, die ihn angefleht hatte, sich von den beiden Priestern die schrecklichen Dämonen, die in ihm tobten, austreiben zu lassen, obwohl sie ihn liebte, wie eine Mutter eine Tochter liebt, deren feines Haar sie abends kämmt und deren dichte Wimpern sie lobt, ihr Sohn war eine Elfe, auf die sie aufpassen musste, und schon als sie mit ihm als Kind in Nervi die Promenade entlangflaniert war, war sie vor Stolz erglüht, dass ihr Jüngster, das Nesthäkchen, so viele bewundernde Blicke auf sich zog, ein bildhübsches Kind, dem man hinterherrief und dem fremde Damen über das blonde Haar strichen und das sogar einem französischen Maler Modell gestanden beziehungsweise gelegen hatte. Ganz in Weiß gehüllt, hatte sich der Knabe auf einem Diwan (aus roter Seide!) ausgestreckt, eine weiße Rose neben ihm auf dem Boden, wie aus der Hand gefallen. Blond war Michele nicht mehr, aber das Elfenhafte war ihm geblieben, er war eine Grazie, nymphengleich. Die herrlichen Wimpern, und das war das Aufreizende und Schockierende und letztlich auch das Problem, kolorierte er mit einer winzigen Bürste, die man in einen schwarzen Block drückte und die er bei seiner Schwester entdeckt hatte, das Gemisch aus Vaseline und Asche verdunkelte nicht nur seinen Blick und gab ihm eine melancholische Note, sondern ließ seine grauen Augen funkeln wie Edelsteine. Für Ljubko war dieser Zweiundzwanzigjährige der schönste Mensch auf Erden, einfach makellos. Die beiden Priester (der alte bucklig, der junge hässlich wie ein zerfleddertes Weib) hatten die Mutter aus der Wohnung gescheucht, um Michele in einer zweistündigen Prozedur mit Weihwasser zu besprühen, ihn mit endlosen Litaneien, gemurmelten Psalmen und erschöpfenden Evangeliumslesungen in einen Zustand trostlosester Müdigkeit zu versetzen. Der Bucklige hauchte ihm seinen greisen Atem aus aller Nähe ins Gesicht, auf dass Satan an dem Odem zugrunde ginge (das schrieb schon Paulus an die Thessalonicher!), der Hässliche legte währenddessen eine Hand auf seine Stirn (mit aalnasser Handfläche!) und umklammerte mit der anderen sein Handgelenk, damit er sich nicht aus dem Stuhl, in den sie ihn gezwungen hatten, winden konnte, es folgten die Segnung mit dem Kreuz und eine Kommandoformel, die den lüsternen Teufel endgültig vertreiben sollte, damit Michele gereinigt sei (aber dann hätte ich dich nicht getroffen!) und frei für ein Leben in Normalität, ohne Mascara, dafür mit einem Mädchen an seiner Seite (dem er beibringen würde, wie man Wimpern und Lider richtig koloriert, er konnte es wirklich perfekt).

Greco kam auf einem Bein angehüpft, die Arme ausgebreitet, «Zio Lupo, schau!», rief er und hüpfte weiter. Dass seine Neffen ihn auf Italienisch ansprachen und Lupo nannten, lag an Davide, der Ljubko nicht richtig hatte aussprechen können als Knirps. Ljubko gefiel es, lupo zu heißen, der Wolf war kein übles Vorbild: strotzend vor Kraft, nicht ungefährlich und nur selten zu sehen.

Michele war ganz anders als Zappacosta, dachte Ljubko, während er seinem Neffen hinterherschaute, der über ein Blumenbeet hüpfte und um die Ecke verschwand, und wunderte sich einmal mehr über sich selbst. Zappacosta war grob, roh, dreist, ein richtiger Proletarier, einer der üblen Sorte. Vor allem einer, der von ihm nichts wissen wollte, der ihn herablassend behandelt hatte, der ihn gelockt und in die Falle hatte laufen lassen, nachts im Garten in Bari, hinten beim weinumrankten Sitzplatz, betrunken beide, um ihn danach kaltschnäuzig abzuservieren, ihn, der so verwirrt war von seiner eigenen Gier nach diesem Mann, nach dessen rauen Händen, die er auf seinem Körper spüren wollte, wie er noch nie zuvor etwas hatte spüren wollen. Michele hingegen war verfeinert und zart und anschmiegsam, er sprühte vor Witz und lustigen Teufeleien, es gab mit ihm viel zu lachen. Das Einzige, was Zappacosta und Michele außer ihrem Geschlecht verband, war ihr jugendliches Alter.

Er sah den Postboten aus dem Gemeindehaus treten, ein krummes Männchen aus den Abruzzen, von der Regierung hierher verfrachtet, ein mieser kleiner Spitzel. Ljubko kannte die Postmännchen-Tour, einmal im Uhrzeigersinn um den Platz herum, an Kirche und Friedhof vorbei, die schmalen Stichwege hinauf und hinunter, zwischen den bunten Rabatten mit den meterhohen Blumen hindurch, Bovec war sicherlich das blumenreichste Dorf zwischen der Adria und Wien, als ob die Bewohner den Kriegstoten etwas entgegensetzen wollten. Blütenduft statt Gasgeruch. Am oberen Ende des Platzes würde der Italiener zu Pepca und Boris gehen, falls diese Post erhielten, was nicht sehr wahrscheinlich war, da Boris allfällige Briefe schon in der Gemeinde geöffnet haben dürfte, er arbeitete dort. Warum, fragte sich Ljubko, während er dem Postboten hinterherschaute, war er so geworden, wie er war, und seine Brüder nicht? Boris schien mit Pepca glücklich, obwohl kinderlos, was beide schmerzte; ein gepflegter Herr, liebenswürdig, aber am liebsten allein in den Bergen unterwegs, ein mutiger Mensch. Nino, der Schwerenöter, war ein Herzensbrecher, wahrscheinlich trug er Uniform, um zu imponieren. Franc verkörperte seine Maskulinität auf herkömmliche Weise, ein Ingenieur und Familienvorsteher, dem nichts zu misslingen schien, ein Langweiler ohne Bösartigkeit. Zora hätte man in die Reihe der Männer stellen können, als ihr Anführer, Dirigent, Marschall, Patriarch: Alles hätte gepasst. Vielleicht war es bei ihm ja so wie bei Michele, vielleicht war er das wahre Mädchen in der Familie? Er musste lächeln, nein, gefettete Asche würde er sich nicht um die Augen schmieren. Zora wäre schockiert, wenn sie wüsste, was in ihm vorging. Er, das Mädchen! Sie, der Junge! Sie würde laut auflachen. Und dann in Windeseile einen Sprechstundenbesuch in einer Nervenheilanstalt fernab aller Bekannten für ihn einfädeln, in Zürich oder Genf wahrscheinlich. Er war verwirrt, immer noch. Dabei war sein Begehren so klar, so geradlinig, er wollte Männer lieben, und jetzt wollte er diesen einen Mann lieben, dessen Gebaren zwischen den Geschlechtern zu mäandern schien, was Ljubko so faunisch machte, es war, als sei Michele alles, Mann, Frau, Junge, alles. Ljubko konnte sich glücklich schätzen, dass er von dem deutschen Arzt mit dem Tier im Namen gehört hatte, der ihn zu verstehen schien, ohne ihn zu kennen, der nicht dachte, er sei wahnsinnig oder krank, der ihm einfach Möglichkeiten eröffnet hatte, die es vorher nicht gab: das dritte Geschlecht. Er konnte sich glücklich schätzen, dass er in Triest Männer mit derselben Neigung kennengelernt hatte, in der Gelateria Nova, direkt hinterm Hafen. Und er konnte sich glücklich schätzen, dass Micheles Exorzismus missglückt war (aber natürlich: Glaubst du etwa, ich will ein anderer sein?!); dass man ihn aus dem Hausarrest entlassen und nach Ustica verbannt hatte, der einzige Gleichgeschlechtliche auf der gesamten Insel, die Hölle für ihn unter all den Kriminellen (politische Verbannte gab es keine mehr, die waren auf Lipari und anderswo), die ihn verspotteten und quälten und schlugen, zwischen naiven Dorfbewohnern, die keine Ahnung hatten, dass solch fremdartige Wesen überhaupt existierten; Ljubko konnte sich vor allem glücklich schätzen, dass er im richtigen Moment um das Stadthaus der Del Buonos gestrichen war, um diskret zu überprüfen, ob es gepflegt war (es war), wo dann auf dem Mäuerchen der Piratentreppe dieser Jüngling saß und ihn wissend angrinste, man erkannte einander sofort, wenn man einmal drin war, was Ljubko erstaunlich fand, denn als er noch draußen gewesen war, hatte er Gleichgeschlechtliche überhaupt nicht gesehen, und jetzt begegnete er ihnen überall, sogar auf Ustica! Es war wie ein Geheimbund und er war Teil dieses Bundes.

Seine Hände zuckten und wahrscheinlich redete er vor sich hin wie ein Geisteskranker, als Zora auftauchte und sich neben ihn setzte, was schlecht war: Gleich würde der Postbote kommen.

«Tito ist nicht mehr in Paris», sagte sie.

Ach herrje, dachte Ljubko, jetzt sollte er also über Politik sprechen, dabei war ihm nichts gleichgültiger, als wo Josip Broz Tito sich aufhielt, wahrscheinlich auf dem Weg in den Spanischen Bürgerkrieg, unterwegs zum nächsten Fiasko, so wie letztes Jahr, als Tito und Gorkić ein für teures Geld gechartertes Schiff mit Freiwilligen vollgestopft hatten, das kurz nach dem Auslaufen von der Regierung abgefangen worden war, fünfhundert dumme montenegrinische Bauernjungen landeten im Kerker, anstatt im Spanischen Bürgerkrieg Faschisten zu töten, ein Triumph für Belgrad, ein Debakel für die Linke.

«Spanien?», fragte er höflich.

«Moskau», antwortete Zora.

«Oh», sagte Ljubko. Und dann: «Mutig. Ist Gorkić nicht in Moskau verschwunden?»

«Spurlos», entgegnete Zora.

«Wahrscheinlich tot», sagte er.

«Wahrscheinlich ermordet», sagte sie.

Ljubko sah sie an und dachte: Du führst deine Kämpfe, ich führe meine. Er wollte schnellstmöglich nach Ustica zurückkehren und brauchte dafür einen Grund. Mitte September öffnete die Lithografische Kunstanstalt wieder, dann musste er in Triest sein und arbeiten. Viel Zeit blieb ihm nicht. Er sah den Briefträger den Platz überqueren, noch vier Häuser, dann wäre er bei ihnen, der blickte schon so herausfordernd, der Wicht.

«Er ist nach Moskau geflogen, um sich zu verteidigen. Er wird ihnen beweisen, dass er kein Konterrevolutionär ist. Steht er das durch, wird er die Partei endgültig führen, jetzt, wo Gorkić weg ist. Er wird das schaffen, es gibt nur ihn, Stalin weiß das auch, er braucht ihn», sagte Zora.

Ständig machte sich seine Schwester Gedanken darüber, wie die Dinge sich änderten. Sie analysierte die Vergangenheit, bewertete sie neu, mit jedem Ereignis konnte die Zukunft in eine andere Richtung gehen. Als der arme Gramsci letztes Jahr starb (mit sechsundvierzig, die Jahre im Gefängnis hatten ihn komplett zerstört), war das Wehklagen in der Familie Del Buono groß gewesen, der Kommunismus tot, die Bewegung tot, ohne Gramsci ging nichts, was nicht stimmte, Togliatti machte seine Sache gut, soweit Ljubko es beurteilen konnte, verband er Kommunisten mit Sozialisten und Sozialdemokraten im Kampf gegen den Faschismus. Er verstand nicht, warum sie die Dinge nicht einfach auf sich zukommen ließ, dieses Studieren und Debattieren brachte ja nichts, oder vielleicht doch, vielleicht war sie deswegen ein politischer Mensch und er nicht. Sie wollte aufbauen, Neues einfließen lassen, neue Techniken, neue Ideen, neue Menschen, deswegen war der Kommunismus so aufregend für sie, da konnten umwälzende Dinge geschehen, eine Gesellschaft würde sich sprunghaft verändern, nicht schleichend, und sie konnte mitwirken dabei. Er glaubte nicht einmal, dass sie wichtigtun wollte, sie WAR wichtig, mit jedem heimlich vervielfältigten Flugblatt, jedem Gespräch mit einem Dorfbürgermeister, jeder Lira, die sie an Bedürftige überwies, wurde sie wichtiger, Teil einer Revolution, auf dem Weg zur Gleichheit, zum Wohlstand für alle. Er fand das mal naiv, dann wieder selbstzerstörerisch (wie konnte sie glauben, dass Pietro und sie eine Revolution überleben würden, reich, wie sie waren; an den Laternenpfählen des Lungomare würde man sie aufhängen, da nützte es auch nichts, dass Zora erklärte, Lenin habe maßgeschneiderte Anzüge beim besten Schneider Zürichs nähen lassen, Kommunismus und guter Stil seien durchaus vereinbar), dann schlicht bewundernswert, und gelegentlich sprang der Funke auch auf ihn über. Heute aber nicht. Heute war ihm die Zukunft Jugoslawiens herzlich gleichgültig, heute interessierte ihn seine eigene Zukunft, interessierte ihn Michele, dessen Haut, dessen Hände, dessen schlanker Hals, das Gesäß, so perfekt gerundet und glatt und haarlos wie das einer griechischen Statue, die prall strotzenden Backen, lockend und wartend, und das nur auf ihn.