Im Zug, Mai 1939

Da drüben lag Albanien. Es war schnell gegangen, nur sechs Tage. Sie hatte nichts von Nino gehört, sie wusste nicht einmal, ob er dabei gewesen war. Wahrscheinlich schon. Ihr jüngster Bruder schien bei jedem Krieg dabei zu sein, den Mussolini in seiner Gier nach Imperialem anzettelte, ein zuverlässiges Rädchen in der schwarzen Maschinerie (gut, dass die Mutter das nicht mehr miterleben musste). Sechs Tage Krieg. Und jetzt gehörte Albanien einfach zu Italien, obwohl doch ein Meer dazwischenlag. Das Meer, über das sie sich gestern Abend und heute früh hatte rudern lassen, beide Male halb ohnmächtig vor Übelkeit. Zora war immer noch ganz rammdösig im Kopf. Sie mochte Seereisen nicht, Seereisen in stinkenden Fischerbooten schon gar nicht, auch wenn sie nur zwei Stunden dauerten. Sie war ein Kind der Berge.

«Da drüben liegt Albanien», sagte sie zu dem Faschisten, der ihr schräg gegenüber saß.

Der Faschist schaute aus dem Fenster: «Ich sehe nichts.»

«Natürlich nicht.»

Der Faschist blickte sie irritiert an. «Sie haben einen Akzent. Sind Sie Albanerin?»

«Natürlich nicht!», antwortete sie gekränkt. Sie dachte, ihr Italienisch sei makellos.

Der Faschist war hager, geschnitztes Gesicht, Mundfalten wie Alpentäler, Adlernase, ihr Alter. «Was sind Sie denn?» Spöttischer Tonfall.

«Slowenin», entgegnete sie trocken.

«Eine von unseren oder eine von den anderen?»

Was für ein dreistes Mannsbild.

«Einfach Slowenin», antwortete Zora gereizt. Übel war ihr nicht mehr, nur noch leicht schwindelig, zudem zogen Kopfschmerzen auf. Sie hätte keine Konversation anfangen sollen, immer musste sie mit allen sprechen, geradezu zwanghaft war das, als ob sie wirklich Italienerin sei, dauernd plaudern mit wildfremden Menschen, anders als Pietro, der im Zug in Ruhe ein medizinisches Fachbuch gelesen hätte. Sie betrachtete Gespräche mit dem Feind als Sozialstudien, aber in ihrem lädierten Zustand war sie diesem Burschen nicht gewachsen. Die letzten zwanzig Stunden hatten sie aus der Bahn geworfen. DAS war eine echte Sozialstudie gewesen. DAS musste sie erst einmal verdauen. Nicht die unruhige Fahrt über das Meer, sondern was sie auf San Domino gesehen hatte.

Bis sie in Bari ankämen, musste sie sich halbwegs erholt haben, Pietro würde sie am Bahnhof abholen. Noch anderthalb Stunden, Trani, Bisceglie, Molfetta, der Zug hielt in jedem Ort. Sie hatte bereits über die Hälfte der Fahrt hinter sich. Das Meer war sehr blau. Hoffentlich stank sie nicht mehr nach Fisch. Sie schnupperte diskret an ihrem Mantel, den sie aufgehängt hatte, doch, der roch streng, ganz eindeutig. Besser, sie überlegte sich vorab eine Lüge, ein Fischhändler im Zugabteil, aber das würde Pietro kaum glauben, Fischhändler fuhren nicht erster Klasse. Ein Kleinkind, das sein Mittagessen in ihren Schoß erbrochen hatte, das klang plausibel, der Zug ruckelte ziemlich, zudem war es stickig hier drin, obwohl nicht voll, der Ruß zog durch die Fenster herein, da konnte einem schon übel werden. Sie mochte sich nicht vorstellen, wie das im August war, in den treni popolari, mit denen Mussolini die Arbeiterfamilien auf die Schienen schickte, zu spottbilligen Preisen, damit sie im Sommer in den Genuss der Strandfreuden kamen, wieder so eine ausgefuchste Idee des Duce, um das Volk zu beglücken, der Mann war nicht dumm, oder zumindest hatte er kluge Minister.

In der dritten Klasse drüben begannen sie zu singen, man hörte es bis hierher.

«Fröhliche Menschen», sagte der Faschist, «voller Kraft und Elan.»

«Wahrscheinlich avanguardisti», sagte Zora, «am Bahnsteig von Campomarino stand eine ganze Horde.»

«Horde?!», rief der Faschist, «Diese jungen Männer sind unsere Zukunft!»

Zora setzte dem nichts entgegen, die Kopfschmerzen, der Schwindel, die Verärgerung, dass Mussolini das Wort Avantgarde für seine Jugendorganisation vereinnahmt hatte, wo doch Lenin die Partei als Avantgarde der Arbeiterklasse bezeichnet hatte. Sie fühlte sich machtlos und erschöpft, sie wusste, sie stand auf der richtigen Seite der Geschichte, doch die Entwicklung führte in eine andere Richtung. Wie konnte es sein, dass so viele Menschen dachten wie sie, doch nichts, wirklich nichts diese Verirrten von ihrem Siegeszug abhielt? Alle warteten auf den Krieg (als ob es keinen letzten gegeben hätte), fatalistisch oder bang oder hoffnungsfroh, Leute wie der Faschist mit dem geschnitzten Alpengesicht sowieso. Wenigstens akzeptierte er ihr müdes Schweigen und sprach nicht.

Draußen die Adria, gleißendes Nachmittagslicht, keine Boote mehr zu sehen. Dann Häuserzeilen, sie fuhren in Trani ein, stolzes Städtchen, noch eine Stunde bis Bari.

Zora betrachtete die Hände des Faschisten, die nun demonstrativ eine Zeitung hielten (Lo Sport Fascista natürlich), knochig und lang, kaum behaart, einen Ehering trug er nicht, wahrscheinlich damals willfährig dem Duce geschenkt, oro per la patria, es war keine blasse, sonnenverschonte Stelle zu sehen, vielleicht ein Junggeselle. Oder womöglich auch einer von denen? Sie begutachtete diese fremden Hände und stellte sich ihren Bruder vor, ein Mann von siebenunddreißig Jahren, wie er mit seinen kräftigen sommersprossigen Händen diesen anderen Mann umklammerte, um dann … von hinten … nein, es war ekelhaft.

Sie würde es Pietro nicht erzählen oder vielleicht doch irgendwann, aber nicht gleich, sie musste sich erst beruhigen und Pietro war zurzeit sowieso gereizt: Dass es zum Bruch mit seinem alten Freund Oskar Blank gekommen war, ärgerte ihn mehr, als er zugeben wollte. Medizinische Maßnahmen zur Rassenverbesserung hatte der Duce gefordert, und Blank hatte dem in einem Brief an Pietro eifrig zugestimmt, um nicht zu sagen: die Forderungen noch übertroffen. Die Sterilisation von Menschen mit der Diagnose Schwachsinn fand er überaus sinnvoll, das schlechte Genmaterial Hunderttausender würde so dem Volkskörper entzogen und schade nicht mehr. Dass jede zehnte sterilisierte Frau nach der Operation starb, meist an Bauchfell- und Lungenentzündungen, fand er bedauerlich und präferierte deswegen die Strahlenkastration, an deren Entwicklung er mitgearbeitet hatte (was Pietro am meisten empörte). In Deutschland tobte der Streit über Eugenik unter Medizinern erbitterter als in Italien, wo die Diskussion, ob man Gottes Schöpfung durch Experimente verbessern dürfe, aus den Hörsälen und Laboren in die Kirchen hineingetragen wurde, wo die Forderungen nach Korrektur auf veritablen Widerstand stießen. Endlich waren diese Pfaffen für etwas gut, Mussolini wollte es sich mit ihnen nicht verscherzen und hielt sich zurück, obwohl sie zu seinen drei Hauptfeinden gehörten: Krone, Kirche, Bürgertum. Manchmal hasste er diese am meisten, dann jene, in den letzten zwei Jahren waren die Juden dazugekommen, obwohl Neldo durch frühe Zeitungsartikel nachweisen konnte, dass Mussolini schon 1920 Antisemit gewesen war, trotz mehrerer jüdischer Geliebter, über die man munkelte. Der Duce sprach dauernd von der Überlegenheit der mediterranen Rasse, irgendwie hatte man das nicht ernst genommen, sich in Zoras Kreisen darüber lustig gemacht, obwohl sie durchaus den einen oder anderen ihrer Freunde im Verdacht hatte, sich ernsthaft überlegen zu fühlen, als Slawin reagierte sie empfindlich auf das Thema. Seit dem neuen Gesetz zum Schutz der italienischen Rasse gab es allerdings keine Zweifel mehr, dass für die Juden schwere Zeiten angebrochen waren, sie durften nur noch untereinander heiraten und Mischehen sollten annulliert werden. Fräulein Bloch hatte damals gut daran getan, Pietros Angebot als universitäre Mitarbeiterin nicht anzunehmen, sie war in Palästina sicher besser aufgehoben als in Italien. Zora war es ganz recht, dass die Frau sich ans andere Ende der Welt verzogen hatte, irgendwo in die Wüste, Pietros ferne Schwärmerei für das ach so kluge und engagierte Fräulein Bloch (mit vierzig immer noch ein Fräulein!) war ihr zusehends auf die Nerven gegangen. Aber jetzt hatte sie andere Sorgen. Waren es überhaupt Sorgen?

In erster Linie musste sie darüber nachdenken, wie sie ihren Bruder davor bewahren könnte, in die Klauen des Regimes zu geraten, so wie es seinem kleinen Freund geschehen war. Dieser Michele war ein hübsches Bürschchen, dachte sie, nachdem der Schauer des Ekels sich gelegt hatte, sie versuchte zu verdrängen, was Ljubko mit dem Jüngling trieb, er war trotz allem ihr Bruder. Michele gehörte sicher zu denen, die ein ideales Objekt für Dr. Blanks medizinische Versuche wären: testen, ob man mit Hormonen etwas ausrichten konnte (kastrieren könnte man später immer noch), die weibischen Seiten des jungen Mannes waren unübersehbar. Ob es das war, was Ljubko reizte? Dieses Mädchenhafte? Warum dann nicht gleich ein Mädchen? Sie verstand es schlicht nicht. San Domino wäre ein gutes Versuchslabor für Mediziner, gerade für solche wie Blank. Eine Insel voller Homosexueller, abgeschieden vom Rest der Welt, an denen man testen konnte, was man wollte. Ob die Deutschen solche Versuchsinseln hatten, fernab jeder Beobachtung? Wahrscheinlich nicht, Deutschland war ja nicht eben reich an Inseln, anders als Italien oder Dalmatien. In Dalmatien könnte man jegliche Varietät menschlichen Verhaltens, politischer Ausrichtung, jede Krankheit oder Neurose auf eine eigene Insel verbannen, es gäbe mehr als genug. Auf San Domino wurde aber nichts getestet, so weit ging Mussolini nicht, auf San Domino wurden Gleichgeschlechtliche aufbewahrt, damit sie keine Unruhe stiften und arglose junge Männer verführen konnten, Schonung des heiligen Volkskörpers eben. Es war eine klitzekleine Insel in der Adria, nur zwei Quadratkilometer groß (ein Viertel von Ustica, das ja auch beängstigend klein war, wie Zora im Gegensatz zu Pietro fand), sie hatte vorher noch nie davon gehört. Dieses elfenhafte Jungchen war nun auf San Domino, von Ustica aus (wohin er erst verbannt worden war) quer durch Süditalien in die Adria geschafft, ein besonders hartnäckiges Exemplar von denen, die Mussolini Verräter der Rasse nannte, ein hoffnungsloser Fall. Und sie war nun ebenfalls auf San Domino gewesen, eine Inselspionin für ein paar Stunden. Verrückt, dachte sie und jubilierte innerlich ein bisschen, ich bin verrückt! Dabei war sie doch nur nach Mailand gefahren, um die neue Bernina-Zickzack-Nähmaschine zu testen. Und zu kaufen natürlich. Die Schweizer produzierten einfach die besten Nähmaschinen, in Bari fand man diese Zauberwerke nicht.

Der Zug kam neben einer Häuserwand zum Stehen, Zora sah sich in der verschmutzten Scheibe gespiegelt, und was sie sah, gefiel ihr nicht schlecht: eine Frau Anfang vierzig mit slawischen Zügen; breiter Mund, dunkle Augen, darüber auffallend gerade Brauen, kaum gezupft, kastanienbraunes Haar, kinnlang geschnitten und in sanfte Wellen gelegt, die Gott sei Dank das Abenteuer der letzten Nacht halbwegs überstanden hatten, das mauvefarbene Hütchen half, das Bild einer ordentlichen Arztgattin aufrechtzuerhalten, die in Mailand Einkäufe getätigt hatte, kein Mensch konnte ahnen, dass sie im durchgelegenen Ehebett einer greisen Fischerwitwe genächtigt hatte, die sich auf den Diwan in die düstere Stube verzog, großzügig entlohnt für diese Hilfeleistung.

Der Zug ruckte, der Faschist faltete die Zeitung und legte sie auf den Sitz neben Zora: «Falls Sie lesen wollen», was sie nicht wollte, sie interessierte sich nicht für Sport. Am liebsten hätte sie gefragt, ob er Fußball denn noch aufregend fände, 1926 hatte der Duce noch einen Ausländer pro Mannschaft erlaubt, seit 1927 keinen mehr, was zu einer Verarmung des Spiels geführt habe, wie ihre Söhne behaupteten, die natürlich alle Fußball spielten (Manfredi am begeistertsten, aber der verstand noch nichts von Politik). Der Faschist stand auf und ging, ohne sich zu verabschieden, sie sah nur noch seinen Rücken. Sie waren in Bisceglie angekommen, ein Provinzler also, draußen wartete eine Frau auf ihn.

Passive Sodomie, dachte Zora. Diesen Begriff hatte sie nie zuvor gehört, aber jetzt kannte sie ihn und würde ihn nicht mehr vergessen. Nicht Michele hatte ihn verwendet, sondern dieser geschminkte Mann, den alle Cinzia la capricciosa nannten, Cinzia, die Kapriziöse. Passive Sodomie. Also musste es auch aktive Sodomie geben, offenbar war das strikt getrennt. Auf die Insel kämen vorwiegend die Passiven, hatte Cinzia ihr erklärt, die, die keine richtigen Männer seien, im Mussolini’schen Sinne. Der Satz hatte sie beruhigt, wenn Michele passive Sodomie betrieb, würde Ljubko ja aktive … So stellte sie sich das zumindest vor, Ljubko der Mann, Michele die Frau, oder so was Ähnliches wie die Frau. Cinzia war eine überaus hemmungslose Person, nicht unsympathisch, sehr herzlich, aber eben hemmungslos. Als Zora gefragt hatte, wie in Gottes Namen die Polizei beurteilen könne, ob jemand passiv oder aktiv sei, hatte Cinzia gesagt, es gebe genügend Spitzel, die sich in Wäldchen und Ruinen herumtreiben würden. Wäldchen und Ruinen?, hatte Zora gefragt. Treffpunkte in den Städten halt … Zora war wirklich ahnungslos. Wo wohl in Bari so ein Treffpunkt war? Hinter den Mauern des normannischen Castello? In flagranti werde man erwischt, das sei das Ziel der Spitzel, und im Revier befingerten die Polizisten einen dann untenrum. Befingern?, hatte Zora entsetzt ausgerufen. Na, dein Loch befingern, hatte Cinzia vulgär geantwortet. Dennoch war es ein Glücksfall, dass ausgerechnet Cinzia am Hafen gestanden und geraucht hatte, als Zora aus dem Fischerboot ausgestiegen war, niemand erwies sich als gesprächiger als sie, die wahrscheinlich ein Er war.

Eigentlich war Zora Körperliches nur selten zuwider, dafür war sie zu sehr Arztfrau, stand zu oft unten in der Klinik, folgte zu oft bei Tisch Krankheitsgesprächen, die Sensiblere in die Ohnmacht getrieben hätten, besuchte zu viele Kongresse an Pietros Seite, hatte zu viele Kinder geboren, stammte aus zu bäuerischen Verhältnissen. Was diese gleichgeschlechtliche Sexualität anbelangte, so rein körperlich, würde sie sich schon beruhigen, das wusste sie. Psychisch hingegen fragte sie sich, wie das hatte passieren können. Warum Ljubko? Ob es bei ihren Söhnen auch möglich wäre? War das erblich? War Davide etwa …? Letzten Endes war natürlich ihre Mutter schuld, wahrscheinlich verspürte Ljubko eine abgrundtiefe Abneigung gegen Frauen, kein Wunder, schließlich hatte Mutter ihn im heikelsten Alter verlassen, rücksichtslos, wie sie gewesen war. Eigentlich logisch, dass ausgerechnet dieser ihrer vier Brüder ein Sodomit wurde. Professor Freud schrieb, Homosexualität sei weder Krankheit noch Entartung, sondern werde durch eine Blockade der sexuellen Entwicklung hervorgerufen; bestimmt war das abrupte Verschwinden der Mutter für den Dreijährigen ausschlaggebend gewesen, blockiert fürs Leben, das arme Kind. Seit ihre Mutter nicht mehr lebte, dachte Zora mit etwas mehr Milde an sie, vielleicht weil ihr Sterben so entsetzlich gewesen war.

Zora empfand keinerlei Schuldgefühle, dass sie ihrem Bruder hinterherspioniert und seinem Geheimnis auf die Schliche gekommen war, im Gegenteil: Sie würde ihn retten. Entweder vor sich (wenn diese leidige Geschichte nur eine Flause war) oder vor dem Staat (notfalls würde sie ihren Einfluss geltend machen, immerhin war ihr Mann wohlhabend und sein Ruf als Arzt exzellent, wer südlich von Rom auf Röntgenmedizin angewiesen war, kam an ihm nicht vorbei, deswegen ließ man ihn in Ruhe, auch die Faschisten hatten Angst vor Krankheiten, zudem war Neldo bei der Polizei auf dem aufsteigenden Ast und Avvocato Basso sowieso ein Fuchs, ein perfektes Trio). Um Ljubko zu retten, musste sie aber ein Gespräch mit ihm unter vier Augen führen, davor graute ihr. Michele würde ihm selbstverständlich schreiben, dass sie aufgetaucht war; wer könnte es ihm verübeln?

Draußen war kein Meer mehr zu sehen, nur noch flaches, verdorrtes, rostrotes Land, Olivenbäume, Bruchsteinmauern, gekalkte flache Häuser, Esel, Ochsen, Armut.

M. Zanoni, San Domino, stand als Absender auf dem an Ljubko adressierten Brief, den sie Weihnachten abgefangen, geöffnet und gelesen hatte, nur wenige Zeilen, sehnsüchtiges Zeug, unterzeichnet mit M. – und einem Herzen dahinter, wie kindisch. Zora hatte allerlei Namen durchgespielt, von Maria über Martina zu Michaela, sich dann aber mit sich selbst auf Maddalena geeinigt und im Atlas nachgeschlagen, wo San Domino lag, die Insel dann aber wieder vergessen. Aber auf dem Weg nach Mailand hatte sie, als der Zug in Termoli hielt, mit dem Gedanken gespielt, auszusteigen und auf die Insel überzusetzen, um die geheimnisvolle Maddalena aufzuspüren, von der Ljubko nie ein Wort erzählte, es aber verworfen, da zu aufwendig und auch lächerlich. Ab Rimini war der Gedanke dann zu einer fixen Idee geworden, die sich während der drei Tage in Mailand immer mehr konkretisiert hatte. Sie war einen Tag früher abgereist, hatte niemandem etwas mitgeteilt und war in Termoli aus dem Zug gestiegen, gestern Nachmittag. Abends, als sie aus dem Fischerboot kraxelte, das sie nach San Domino hinübergebracht hatte (ein Antonio, der sehr behände das Segel setzen konnte, aber kaum sprach, sicherlich war sie ihm suspekt), und gleich auf die rauchende Cinzia stieß, fing ein kurzes Abenteuer an, das sie beglückte: endlich alleine etwas erleben, an einem Ort, an dem niemand sie kannte, weg vom lästigen Mutterdasein. San Domino war kein richtiges Dorf, eher eine Ansammlung von gemauerten Fischerhütten, anders als Ustica, das eine zwar kleine, aber dichte Baustruktur hatte, mit Sinn und Verstand oberhalb des Hafens angeordnet, mit Gassen und Wegen und Treppen, mittendrin ein lang gezogener Marktplatz, dahinter die Kirche. Auf San Domino sah alles planlos aus, zerzaust. Cinzia hatte süffisant gefragt: Na, Prinzessin, was suchen Sie in der Hölle? Zora war seit dreißig Jahren von niemandem mehr Prinzessin genannt worden, sie war ein wenig beleidigt, doch Cinzia hatte versöhnlich gegrinst. Cinzia, lass die Dame in Ruhe!, hatte ein Mann in Uniform geschimpft, ein Brigadier, der am Hafen Kontrolle schob. Ich suche Maddalena Zanoni, hatte Zora gesagt, vielleicht heißt sie auch Maria. Sie spürte wieder, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg, als sie an diesen Lapsus dachte, wie naiv, wie dumm, wie ungeheuer altbacken und weltfremd sie war, anders als Pietro, der in Berlin viel Halbseidenes erlebt hatte, Cabarets, Travestie, solche Sachen, was sie richtig ärgerte, zumal sie wusste, dass er ihr Dinge verschwieg. Vielleicht wollte sie Pietro deswegen nichts von ihrer Entdeckung erzählen, weil der sagen könnte, selbstverständlich habe ich gemerkt, dass Ljubko andersherum ist; wie hochnotpeinlich wäre das für sie: den eigenen Bruder nicht durchschaut. Maria-Maddalena!, hatte Cinzia ausgerufen, ja, zu Maria-Maddalena führe ich Sie gern. Erst da hatte Zora gesehen, dass Cinzia kaum Zähne im Mund hatte, vor allem hinten fehlten sie.

Pietros Freund Dr. Russo war Zahnarzt, zehn Jahre jünger als er, ebenfalls Kommunist. Vielleicht könnte der einmal auf die Insel fahren, dachte Zora, während sie den Mantel vom Haken nahm und wieder daran roch (es war nicht besser geworden in der Zwischenzeit), Molfetta lag bereits hinter ihnen, noch ein Halt, dann wären sie in Bari. Sie stellte ihre Handtasche auf das Fensterbord und dachte beschämt an die Szene am Tisch. Nie würde sie vergessen, wie sie auf diesen Tisch zugetreten und verstummt und wahrscheinlich auch errötet war, diese Blicke, diese Peinlichkeit. Cinzia war vom Hafen aus vor ihr hergegangen, humpelnd, in abgetretenen Holzpantinen, aber hocherhobenen Hauptes, lachend und scherzend und immer wieder Maria-Maddalena rufend; plötzlich dann die Baracke, davor ein langer Brettertisch, drumherum auf Bänken und Kisten sitzend gut zwanzig Männer, die sie anstarrten, brandmager die meisten. Wer wird gesucht?, hatte einer gefragt, ein Mittelalter in zerrissener Kleidung, aber mit Hut. Maria-Maddalena Zanoni wird gewünscht, hatte Cinzia todernst geantwortet. Vielleicht war Zora in dem Moment stutzig geworden, zumindest leise irritiert, aber verstanden hatte sie immer noch nichts. Erst als Cinzia rief, Zanoni du Schnäuzelchen, die Dame kommt wegen dir, und sich danach zu ihr umdrehte, um zu sagen, Schnäuzelchen ist unser Küken, begriff sie die ganze Dimension. In dem Moment hätte sie schweigen können, irgendeine Lüge erzählen, wer sie war, medizinischer Dienst oder so etwas, aber Schnäuzelchen wusste sofort, wer vor ihm stand, wahrscheinlich hatte er Fotografien gesehen. Ich bin Michele, hatte er sich vorgestellt. Del Buono, hatte sie geantwortet und sich erschüttert auf die Holzkiste gesetzt, die ihr ein Mann in schmutzigem Anzug schnell hinschob, wohl weil er fürchtete, sie kippe um. Sie war in einem Sodomitennest gelandet. Wenigstens hatte keiner gelacht.

Sie zog den Mantel an, stand auf und wechselte die Seite des Abteils, wie sie es immer tat, wenn der Zug in Bari einfuhr. Von Norden kommend saß sie gerne links, wegen des Blicks aufs Meer, doch ganz zum Schluss wollte sie ihr Haus sehen, dieses Prachthaus, das sie entworfen hatte, ein Palazzo, der von außen unscheinbar war, hochmodern, aber ohne Verzierung, keinerlei Eskapaden, ein nobler Sandsteinblock mit Fenstern, die bis in die Ecken reichten und dort auf das nächste Fenster stießen. Der Zug fuhr auf einem Wall in die Stadt ein, das Haus begegnete einem deshalb auf ungewöhnlicher Höhe, angemessener Höhe, Aug in Aug, dachte Zora, man erfasste es in Gänze, wenn man vorbeifuhr, sie erhaschte einen Blick in den Garten, diesen wildwüchsigen Dschungel, den sie hinter den hohen Mauern hatte anlegen lassen. Sie sah diese Üppigkeit und dachte an das karge Leben von Michele und Cinzia und drei Dutzend anderen Homosexuellen, die auf dieser gottverlassenen Insel vegetierten, auf die sie sich selbst hatten rudern müssen, die hundertfünfzig Gramm Brot am Tag erhielten und fünf Lira dazu, die Kapern von den Büschen lasen und Kräuter sammelten und Zitronen stahlen, die im Dorf arbeiteten, wenn sie Glück hatten, beim Schuster oder beim Krämer, die in einem Raum mit zehn Stockbetten schliefen wie Soldaten, die die Baracken nicht verlassen durften, wenn es dem Kommandanten gerade so in den Sinn kam, weil er eine Laune hatte oder seine Frau ihn geärgert, die von ihren Vätern verstoßen worden waren und deren Mütter nach ihnen weinten, die unter Syphilis litten und unter Tbc und faulen Zähnen und venerischen Krankheiten, die einfach nur dahockten und warteten, dass der Krieg anfangen und vielleicht eine neue Zeit anbrechen würde, eine bessere. Man hatte sie als Politische verurteilt, da es den homosexuellen Italiener als solchen nicht gab und auch kein Gesetz gegen Homosexualität, die echten Politischen saßen auf San Nicola drüben, das noch kleiner war. Wenigstens, und das sah Zora genau, waren die Männer auf San Domino unter sich, halbwegs unbehelligt. Und es schien, als hätten sie auch Spaß, Scherze waren hin und her geflogen, Codewörter, die sie nicht verstand. Sie hatte Michele nicht allein sprechen können, die anderen Männer hatten sich um ihn geschart, als ob sie ihn beschützen wollten wie ein frisch geworfenes Fohlen, da hatte sie begriffen, dass dies eine geschlossene Gesellschaft war, eine Gemeinschaft, in der sie nichts zu suchen hatte, dabei hätte sie nicht einmal gewusst, was sie mit ihm hätte reden sollen, da zu überrumpelt von der Situation. Sie könnte seine Mutter sein, und immer, wenn er zu ihr hinübergeblickt hatte, sah sie ein unruhiges Flackern in seinen Augen, darunter gleichzeitig ein schelmisches Lächeln. Er wollte ihr gefallen, wollte ihre Anerkennung, ihre Protektion, es war, als würde er sagen: Schlag mich nicht, hab mich lieb. Das war nun doch zu viel des Guten, dachte sie, sie könnte Ljubko diese Liaison nicht verbieten (und psychologisch gesehen war das alles interessant), aber selbstverständlich würde sie sie nicht unterstützen. In Bari würde der junge Mann keinesfalls willkommen geheißen werden. Einen Vorteil hatte die ganze Angelegenheit allerdings: keine aufmüpfige Schwägerin. Eigentlich war nichts Spektakuläres passiert, es war zu keinem Drama gekommen, und im Rückblick war sie zufrieden, wie beherrscht sie die Situation bewältigt hatte. Wäre Ljubko dabei gewesen, hätte es anders enden können, aufgeregter, mit Gezeter, sie herrschte ihre Brüder durchaus an – wenn sie nur an Nino dachte, bei dem verlor sie oft die Contenance, bei Ljubko hingegen war das selten vorgekommen, und sie gedachte auch nicht, das zu ändern. Sie würde sich verhalten wie eine Frau von Welt, wie eine Pariserin oder Wienerin der besten Gesellschaft, mondän und gelassen. Sie würde zu erkennen geben, dass sie Bescheid wusste, des Weiteren würde sie schweigen. Und ihr war klar: Sie würde diesen jungen Mann niemals wiedersehen.