Bari, April 1942

Wäre sie doch nur Ärztin, Herrgott! Oder zumindest Sanitäterin. Zora nestelte in ihrer Schmuckschatulle, etwas, das sie nur tat, wenn sie aufgewühlt war. Sie ordnete dann den Schmuck, den sie vor dem Schlafengehen gedankenlos in die Holzkassette gelegt hatte, tagelang und ohne System, manchmal verhedderten sich die Kettenenden mit den Ringen, das war lästig, aber nicht Grund genug, Ordnung zu halten. Jetzt steckte sie die Ringe in die Schlitze im Samt, einen neben den anderen, legte die Armreife in die passenden Mulden, die Broschen dazwischen und drapierte die Halsketten in das große Abteil, man musste dafür den Zwischendeckel anheben. Ordnung in der Schatulle bedeutete Ordnung im Kopf.

Sie brauchte einen Plan.

Seit Tito die Volksbefreiungs-Partisanentruppen ausgerufen hatte, wollte sie Teil davon sein, seit Juni 1941 also. Dass ihr Mann ihr das verbot, war ungeheuerlich. Wäre sie Ärztin oder Sanitäterin, könnte er ihr den Wunsch nicht abschlagen, dann wäre es sogar ihre Pflicht, dahin zu gehen, wo man sie brauchte, so wie dieses ewige Fräulein Dr. Bloch, das man in Haifa brauchte, wahrscheinlich mehr denn je, nachdem Italien die Stadt dreimal bombardiert hatte. Filme der Bombardements zeigten Fliegerstaffeln über der sonnigen Ägäis, röhrende Motoren, Nahaufnahmen von entschlossen blickenden Piloten, dann den Küstenstreifen von Haifa, plötzlich gigantische Rauchschwaden über zerstörten Ölraffinerien, die Stadt in Schwarz gehüllt, das Ganze mit Musik untermalt, dramatisch, heroisch. Wenigstens bei diesen Angriffen war Nino nicht dabei gewesen, er lag verletzt in der Kaserne von Tarent, war auf seinem Schiff bei starkem Seegang im Maschinenraum die Treppe hinabgestürzt, keine besonders ruhmreiche Verletzung; hoffentlich kam er endlich zur Vernunft, Zora würde ihn beim Desertieren unterstützen, nach Südamerika etwa, es gab Mittel und Wege.

Sie ließ die lange Silberkette durch die Hand gleiten, die musste poliert werden. Beruhigt hatte sie sich keineswegs. Wie konnte sie ihre Heimat derart im Stich lassen? Jetzt, wo es so viele Partisanen gab und es immer mehr wurden? Sie hier und die alle da. Das war doch unmöglich! Sogar Goran war in den Wald gegangen. Sie wollte auch in den Wald. Schließlich war nicht mehr nur das Sočatal in italienischer Hand, Mussolinis Truppen hatten auch Ljubljana okkupiert, nachdem die Wehrmacht Jugoslawien zerschlagen hatte, elf Tage hatte das gedauert, ein Blitzkrieg, am 6. April hatten die Deutschen angegriffen, am 17. April hatte Jugoslawien kapituliert, König und Regierung waren ins Exil nach England geflohen, ein Jahr war das nun her. Slowenien war vollständig in fremder Hand, Deutschland hatte die Arbeit erledigt und Italien sich ins Nest gesetzt – auch wenn Mussolini das sicher anders sah. Immerhin wurden die Slowenen nicht in die italienische Armee eingezogen, anders als die Slowenen im Kärntner Gebiet, die für Hitlers Wehrmacht zwangsrekrutiert wurden. Und jetzt (das machte sie fassungslos) entstanden sogar italienische Konzentrationslager für Slowenen! Bei Gonars gab es eines, nicht weit von Gorizia und Triest entfernt, Ljubko hatte davon berichtet, sie hatten einen Freund von ihm geholt, einen jungen Mann aus Koper, sie holten viele junge Männer, wahrscheinlich so viele wie möglich, aus Angst, dass die sich den Partisanen anschlossen. Ljubljana war neuerdings mit Stacheldraht umzäunt, mittelalterliche Methoden, die Stadt abzuriegeln, so sehr fürchteten die Besatzer sich vor den Partisanen, die das Land kontrollierten und sogar Pässe ausstellten.

Das ganze slowenische Territorium muss ein einziges Schlachtfeld werden, auf dem der Kampf von Dorf zu Dorf, von Haus zu Haus geführt wird, hatte ein Partisanenführer in der Slovenski poročevalec geschrieben. Zora hatte den Partisanengruß Auf zum Kampf! selbstverständlich gleich 2 und 3 beigebracht (1 war im Internat in der Schweiz in Sicherheit), auf Slowenisch natürlich: Za boi! Dazu auch noch das: Za svobode! (Für die Freiheit!) Pietro hatte sie angeherrscht, als er sie mit den Kindern die Aussprache üben hörte; mit Zinnsoldaten historische Isonzoschlachten nachzuspielen war das eine, aber einem Zwölf- und einem Vierzehnjährigen Kampfparolen der Partisanen einzutrichtern, das ging zu weit, zudem sei das gefährlich. Wenn sie in der Schule … Aber so dumm waren ihre Söhne doch nicht. Ach, ihr Mann verstand sie einfach nicht! Hockte unten in seiner dunklen Klinik und verschoss tagein, tagaus Strahlen oder zog mit seinem modernen mobilen Röntgenapparat durch Süditalien, so wie dieser Tage, wo er mit einem Kollegen (einem Internisten) Krankenstationen in der Provinz besuchte. Gorans Brief hatte ihr den letzten Anstoß gegeben, dass sie etwas unternehmen musste. Diese Dinge, die da oben geschahen, die konnte man doch nicht einfach hinnehmen! Immer nur analysieren, kommentieren und lamentieren, das war ihr nicht mehr genug. Sie wollte kämpfen! Noch war sie dafür nicht zu alt, sie war fünfundvierzig und stark und kerngesund, eine Alpennatur. Kämpfen wie all die anständigen Istrier und Dalmatiner, die sich gegen die Faschisten zur Wehr setzten, die sie beherrschten. Kämpfen wie Gorans Cousine, eine Frau ihres Alters, die im Keller der Dorfschule versteckt ein Massaker der Ustascha überlebt hatte. Goran hatte Zora in einem langen Brief schockierende Details geschildert, vor allem eine Szene hatte sich ihr eingebrannt, offenbar genauso wie Goran, dessen sonst eher unbeholfene Ausdrucksweise glasklar war: Als sie Stunden nach dem Überfall aus dem Kellerverlies kroch, sah sie auf dem Marktplatz ein Mädchen auf dem Rücken liegen, zehn, zwölf Jahre alt, mit ausgebreiteten Beinen, das Kleidchen bis zum Kinn hochgeschoben. Über ihr lag ein Mann mit aufgeknöpftem Hosenladen. Auf ihm drauf ein zweites Mädchen, noch jünger und nackt. Die Cousine ging zu ihnen. Alle drei waren tot. Zora, die haben die mit Absicht so hingelegt! Als Drohung. Die Cousine ist kurz darauf in den Wald gegangen.

Auf slowenischem Gebiet geschahen diese Dinge auch, nicht die Ustascha waren die Schlächter, sondern die Deutschen und die Italiener, auch über die Ungarn hörte man nichts Gutes. Alle drei wollten die Slowenen ausrotten, das ganze Volk, so wie die Juden und die Zigeuner, es sei beschlossene Sache, vernahm man immer wieder, die Rassengesetze galten ja schon. AUSROTTEN! Als sie dieses Wort zum ersten Mal in anderem Zusammenhang im Radio gehört hatte, auf Deutsch, war ihr ganz elend geworden, ausrotten klang endgültiger als estirpare oder iztrebiti. Seit die Deutschen Rašica bis auf den Grund niedergebrannt und die Bewohner deportiert hatten, aus Rache für einen Partisanenüberfall, bei dem eine Handvoll Offiziere umgekommen war, traute man ihnen alles zu. Sie erinnerte sich gut an Rašica, ein Haufendorf in hügeliger Landschaft, kleiner noch als Bovec; im Herbst 1916 war sie zusammen mit dem Vater von Ljubljana aus hingefahren, um einem Bauern eine Ladung Brennholz abzukaufen. Rašica war nur das erste von vielen zerstörten Dörfern. Aber nicht nur die Deutschen brandschatzten, auch die Italiener säuberten ganze Orte, erst erschossen sie die Einwohner, dann setzten sie Flammenwerfer ein, um alles zu vernichten, sie lassen nichts Lebendes zurück, schrieb Goran, sie sind komplett verroht, sie hassen uns. Manchmal spürte Zora diese italienische Überheblichkeit am eigenen Leib, es lebten kaum Slawen in Bari, sie wurde dann wegen ihres Akzents argwöhnisch beäugt, auf dem Markt zum Beispiel, Mussolinis Propagandamaschine funktionierte, die Slawen wurden nun als minderwertige Rasse von den Italienern angesehen, als barbarische Untermenschen.

Zora legte die Kette auf den Schminktisch und öffnete die meterbreite Schublade. In diese Schublade schaute außer ihr niemand, die Kinder betraten ihr Zimmer nicht unaufgefordert, das Personal würde es nicht wagen und Pietro interessierte sich nicht für ihren Krimskrams. Sowieso interessierte er sich vorwiegend für seine Medizin, mehr denn je. Er stürzte sich in die Forschung und publizierte sogar (er hatte im Gegensatz zu Kollegen anderer Fakultäten Glück: Mediziner konnten unbehelligt forschen – einmal den Treueeid geleistet und sich ordentlich dafür geschämt, danach war Ruhe), als ob kein Krieg herrschte. Die Schublade war eine wahre Fundgrube, so wie die alte Schuhschachtel eines Kindes, das darin seine ganzen Schätze versteckte. Ihre Schätze waren Zeitungsausschnitte, Briefe und Fotografien. Natürlich auch ein bisschen Kosmetik, Parfum und der eine oder andere Seidenstrumpf, aber das lag mehr zur Tarnung darin. Seit Pietro ihr gesagt hatte, dass die Fotografie der Partisanin, die sie so bewunderte – eine junge Frau mit aparter Filzkappe auf langem Haar, strahlendem Lachen und Gewehr auf dem Rücken –, pure Propaganda sei, zeigte sie ihm die Bilder und Illustrationen, die sie aus Parteizeitungen ausschnitt, nur noch selten. Er hatte eine eigene Theorie zu den Langhaarfrisuren entwickelt, die im Wald doch unpraktisch seien: Damit Kämpferinnen rekrutiert würden, müssten sie so feminin wie möglich aussehen, um nicht als Mannweiber und Schreckschrauben zu gelten (er hatte tatsächlich Schreckschrauben gesagt, was für Wörter dieser Mann nur kannte …, wahrscheinlich aus seinem wilden Berliner Winter). Zora hatte widersprochen. Die wollen doch gar keine Frauen an der Waffe! Aber im Grunde wusste sie, dass er recht hatte. Und sie hatte vernommen, dass sich etwas geändert hatte für die Frauen: Waren sie vorher nur für die Versorgung Verwundeter, für Schmuggel und Kontaktpflege mit der Landbevölkerung, für die Betreuung von Waisenkindern und gelegentliche kleine Sabotageakte eingesetzt worden (Automobilreifen aufstechen etwa), galt seit Februar eine neue Losung: Tito höchstpersönlich hatte erklärt, es sei eine Schande, wenn Frauen nicht mit der Waffe in der Hand für die Volksbefreiung kämpfen dürften. Tito hatte das gesagt! Zora war elektrisiert.

«Eine Schande, eine Schande», murmelte sie. Je mehr sie über Tito und die Heldinnen in den Wäldern und im Karst nachdachte, desto mehr vermisste sie ihre Heimat und desto intensiver sah sie die Landschaft vor sich. In ihrer Fantasie war die Soča nicht durchsichtig smaragdgrün, sondern von dichter Leuchtkraft wie ein Satinstoff, das Licht im Wald hinter Bovec funkelte, Sonnenstrahlen streiften über prallgrünes Moos, es duftete nach feuchten Nadeln, es waren Wälder voller wohlgenährter Hasen, Rehe und Hirsche, die bergauf und bergab flitzten, die sie schießen und für die Kameraden der Kompanie braten würde, auf einer offenen Feuerstelle, natürlich ohne verdächtigen Rauch zu verursachen. Schießen konnte sie, das hatte ihr der Vater beigebracht, sie hatte schon als Jugendliche Wild erlegt. Nicht zu vergessen die Übungsnachmittage mit Zappacosta auf dem verborgenen Schießplatz, wo die Kommunisten trainierten, zwischen dornigen Büschen und Olivenbäumen im Landesinneren. Zappacosta war in schöner Regelmäßigkeit unvermittelt in der Via Dieta aufgetaucht und ebenso unvermittelt wieder verschwunden. Bei einem dieser Besuche hatte sie sich über Davide beklagt, er schien ihr arg verweichlicht, der schwächste ihrer Söhne. Zappacosta hatte die Idee mit den Schießübungen gehabt, damit der Junge etwas abhärte, und sie hatten ihn dreimal auf den Platz mitgenommen. Das hatten sie Pietro verheimlicht, und erstaunlicherweise hatten alle dichtgehalten, Davide, Zappacosta (der kürzlich mit einem gefälschten Pass erwischt worden war und jetzt im Gefängnis saß), die beiden KPI-Kameraden (die wahrscheinlich im Gefängnis saßen) und sogar Dragica, der diese Ausflüge ins Hinterland von Bari nicht entgangen waren, obwohl Zora alles unternommen hatte, um sie klandestin zu veranstalten. Davide hatte diese Stunden der Exklusivität geschätzt, da war sie ganz sicher. Sie plagte mitunter ein schlechtes Gewissen, weil sie mit ihm nicht warm wurde und ihm 2 und 3 vorzog. Diese Nachmittage im Staub hatten die Bindung zwischen ihnen mehr gestärkt als all ihre Bemühungen zuvor. Und auch als all seine Bemühungen, wie sie traurig dachte, er strengte sich seit frühester Kindheit so sehr an, ihr zu gefallen. Auf dem Schießplatz hatte er seine Mutter dafür bewundert, eine Waffe zu benutzen (und ihr das auch verschämt gesagt), und sie ihren Sohn für seine Disziplin, seine Präzision und nicht zuletzt seine Diskretion (und es ihm, wenn sie sich richtig erinnerte, nicht gesagt). Sie teilten nun ein Geheimnis und waren verschworene Kumpane, was sie rührte. Davide hatte den Eltern erst neulich begeistert aus der Schweiz geschrieben, dass er im Schützenverein von Mettmenstetten (unaussprechbar für alle, aber für Scherze geeignet) aktives Mitglied sei und sich als Schütze bereits bewiesen habe. Er zeigt eine Begabung fürs Schießen?, hatte Pietro konsterniert gefragt und Zora hatte innerlich gegluckst und sich 1 wohlig verbunden gefühlt – womöglich sollte sie ihr Verhältnis zu ihm überdenken.

Alle waren aus dem Haus: Pietro in Ostuni, 2 und 3 in der Schule, Dragica mit Giacomina auf dem Markt. Neue Dienstmädchen brauchten eine gewisse Einarbeitungszeit, Giacomina sollte alle Händler und Lieferanten kennenlernen, Dragica nahm sie überall mit hin, von einem Fischer zum nächsten, von Marktstand zu Marktstand, von Geschäft zu Geschäft, zum Zeitungshändler, zum Scherenschleifer und auch zum Parfümeur, quer durch Bari wurde die Sechzehnjährige geschleppt, damit es besser liefe mit ihr als mit der Letzten, die Zora nach zwei Monaten hatte entlassen müssen, trotz des wehklagenden Vaters und der schluchzenden Mutter, und denen sie aus Mitleid den Lohn für ein Jahr ausgezahlt hatte. Giacomina war wie ihre Vorgängerin ein Kind vom Land, aber aufgeweckter, das Stadtleben würde sie nicht überfordern. Zudem konnte sie lesen und schreiben und hoffentlich auch nähen. Sie war ein drahtiges kleines Ding, nicht besonders hübsch, was gut war, Greco kam in ein kritisches Alter. Vor allem aber war Giacomina flink; Zora konnte Langsamkeit nicht ertragen, weder im Denken noch im Handeln.

Sie stand auf, ging durch den Ankleideraum hindurch aus dem Zimmer, überlegte, ob sie einen Rundgang durch die Etage machen (zwei Gästezimmer, drei Kinderzimmer, Pietros und ihr Schlafzimmer, vier Bäder) und prüfen sollte, ob ihre Söhne und Dragica alles sauber hielten, verzichtete aber darauf und trat auf die Galerie hinaus. Sie blickte in die Halle, mittendrin der Leuchter mit seinen hohen Milchglasscheiben, ihr Art-déco-Monster, das so harmonisch mit dem warmen Marmor der Wände korrespondierte. Gut, dass sie sich durchgesetzt und sich nicht einen ordinären Kronleuchter mit Klimperkristall hatte aufschwatzen lassen. Gut, war sie nach Mailand gefahren für die Einrichtung. Und gut, dass sie sich für Glasbausteine und gegen Klarglas entschieden hatte, so blieb die Außenwelt dort, wo sie hingehörte: draußen. Vor allem jetzt, wo man mit der Außenwelt so sehr haderte, die Italiener: un popolo di pecore (um Pietro zu zitieren). Die Halle war geschlossen und groß, das Herz des Hauses. Und sie selbst war der Herzschlag, der Puls für alles. Zora liebte dieses Haus so sehr. Beim XIII. Italienischen Kongress der Medizinischen Radiologie hatte der Eröffnungsempfang hier stattgefunden, und sie hatte als Gastgeberin eine hervorragende Figur gemacht, gute Güte, vier Jahre war das schon her, ganz andere Zeiten. Alle waren da gewesen, neben den Italienern auch Bianchi aus Lugano, Altschul aus Prag und natürlich Professor Frik, der Präsident der deutschen Radiologie. Pietro hatte den Kongress ausgerichtet, sie hatte mit den Gattinnen das Kulturprogramm absolviert, auch für das Konzert im Palazzo della Provincia und den Abschlussausflug zum Castel del Monte war sie verantwortlich gewesen, eigentlich hatte sie alles organisiert, was nicht mit der Medizin zu tun hatte. Aber der Empfang war das Glanzlicht gewesen, wochenlang hatte sie Gerichte probegekocht und mit den Mädchen den perfekten Ablauf eingeübt. Nie war sie so stolz auf ihr Haus gewesen wie an jenem Abend, als all die Professoren samt Ehefrauen seine Eleganz und Großzügigkeit bestaunen konnten, auch der Rektor und der Senat der Universität, die peinlicherweise Università Benito Mussolini hieß, waren gekommen, eine feine Sache. Sie stand da oben und ließ den Raum auf sich wirken, die Hände auf das kühle Messinggeländer gelegt, dessen Geruch ein wenig an der Haut hängen blieb. Beim Händewaschen stieg er ihr manchmal in die Nase und erinnerte sie an die Zeit, als sie noch an Kinderfingerchen geschnuppert hatte, wenn die Knaben ihr auf dem Schoß saßen, tempi passati. Wenn sie allein zu Hause war, was kaum je vorkam, war sie versucht, alberne Dinge zu unternehmen, wie die Kinder das Geländer hinabzurutschen oder am Piano verruchte Barlieder zu singen, obwohl sie weder singen konnte noch das Klavierspiel beherrschte (nur Manfredi hämmerte manchmal auf dem Instrument herum, das sonst verwaist neben der Kaminecke stand, eine Fehlinvestition), nachts alle Lichter in der Halle anzudrehen und auf der Fensterbank vor der Glasbausteinwand expressive Tanzschritte aufzuführen, um sich vorzustellen, wie das von außen wirkte, von den Nachbarhäusern und der Piazza di Luigi di Savoia aus; sogar aus der vorbeifahrenden Eisenbahn wäre ein Blick auf die tanzende Silhouette zu erhaschen, vielleicht würden auch die Nonnen im Kloster sie beobachten (wenn sie Nonnen begegnete, entwickelte sie reflexartig unpassende Fantasien), sie überlegte, wie sie die Lampen ausrichten müsste, damit der Schattenriss übergroß würde, so wie in einem dieser deutschen Stummfilme der Zwanzigerjahre, eine biegsame Figur, monströse fünf Meter hoch, zum Fürchten verzerrt, vielleicht sogar nackt. Dass ihr das ausgerechnet jetzt einfiel: Was hauste da in ihr, das über sie selbst hinauswachsen wollte? Die Schattenspielidee hatte sich für einen Moment über alles gelegt und ihre Kampfeslust übertüncht, aber jetzt war sie wieder voll da, und Zora wusste plötzlich haargenau, was zu tun war. Sie ging zu der Wendeltreppe, die sich am Ende des Flurs durch das Haus schraubte, und eilte die Treppenstufen hinab, zwei Stockwerke, bis in die Klinik. Sie stand vor verschlossener Tür, schon drang ihr der spezifische Klinikgeruch in die Nase, weniger Medizin als Fotolabor, sie roch das gern, genau wie Pietro, nur dass es für sie nicht die Bedeutung hatte wie für ihn: Dieser chemische Geruch war sein Leben. Für sie war es ein Teil ihres Mannes, sein Viertelgeruch. Die anderen drei Viertel: Tabakrauch, Eau de Toilette, Männerkörper, mal überwog das eine, mal das andere, meist war Tabak die vorherrschende Komponente, was ihr gefiel. Doch Pietro roch grundsätzlich verlockend, würzig und doch fein.

Der Schlüssel lag auf der Notleuchte, sie schloss auf und trat ein, marschierte am Labor und der Diagnostikkammer vorbei direkt in den Materialraum, ein fensterloses Zimmer, damit Passanten nicht auf Ideen kämen. Die Fenster der Klinik waren rundum mit Metallstäben gesichert, mit Kriegsbeginn war das nötig geworden, so viele Methamphetaminabhängige heutzutage, aber wenigstens hatte sie die Gitter mithilfe des Schmieds selbst entworfen, ein System aus ineinander verschachtelten Rechtecken und Quadraten, als ob ein Piet-Mondrian-Gemälde Pate gestanden hätte (was es auch hatte, das hatte sie nur niemandem verraten, auch nicht dem Schmied, wer kannte hier unten schon Mondrian); das sah nicht wie eine Notlösung aus, sondern wie ein gelungener Entwurf, ein rund ums Haus sich wiederholendes Ornament.

Sie schaute sich um. Metallschränke, Glasschränke, Tablare, Kassetten, alles war gefüllt mit Laken, Verbandsmaterialien, Spritzen, Kanülen, Klemmen, Scheren, Zwirnen, dunklen Flaschen mit desinfizierendem Merbromin, Blutverdünner, Aspirin, Prontosil. Zora griff nach den Flaschen im Seitenregal, darin Lipiodol, Uroselectam; sie wusste nicht, was es war, Kontrastmittel wahrscheinlich. Sie stellte sie zurück, schwer war das. Eine radiologische Klinik war für das Entwenden von Erste-Hilfe-Materialien nicht ideal, eine Chirurgie wäre geeigneter. Aber dennoch, besser als nichts. Und es ging ja auch um ihre Kräfte, nicht nur um Verbandstoffe und Aspirinschachteln. Die könnte man in einer zweiten Etappe organisieren, erst mal würde sie rekognoszieren. Wäre nur Zappacosta nicht in Haft, er wäre der ideale Gefährte für diese Unternehmung: jung, idealistisch, couragiert, unverfroren und auch rücksichtslos, wenn nötig. Und überaus maskulin. Sie brauchte einen Mann an ihrer Seite. Eine Frau allein im Automobil, das würde Aufsehen erregen, und dann noch dieses Kennzeichen: BA-11 (in Bari drehte man sich nach der niedrigen Nummer um). Oder sollte sie besser den Zug nehmen? Aber wenn sie sich schon auf den Weg machte, dann mit Hilfsgütern im Gepäck. Also doch das Auto. Was einpacken? Vor allem: Wie viel mitnehmen, ohne aufzufallen? Sie würde einfach Koffer füllen, ganz normale Reisekoffer, das mittlere Format. Und sie würde Ljubko kontaktieren; er musste ihr helfen, er stand in ihrer Schuld, zutiefst sogar. Einerseits hatte sie über seine sodomitische Veranlagung geschwiegen und ihm anderseits telegrafisch Geld überwiesen, in aller Heimlichkeit, damit er dem abgemagerten Michele, dieser vorlauten Cinzia und den anderen armen Tröpfen in ihrer Verbannung auf San Domino etwas unter die Arme greifen konnte. Wie das Geld auf die Insel käme und wozu sie es verwenden würden, hatte sie nicht gefragt. Je weniger sie wusste, desto besser. Pietro durfte das sowieso nie erfahren. Gott sei Dank war Ljubko Slowene und musste nicht in die Armee. Er war sowieso zu alt, schon vierzig. Partisan würde er bestimmt auch keiner mehr werden, er taugte nicht zum Kampf. Auch ein Intellektueller war er nicht, deswegen blieb er verschont. Im Dezember 1941 hatte das Regime Massenverhaftungen in Triest durchgeführt, die Hälfte der slowenischen Intelligenz hatten sie abgeholt. Ihn nicht. Er war kein Oppositioneller, er musste zusehen, dass er mit seiner abnormen Neigung möglichst nicht auffiel.

Rimini!, schoss es ihr durch den Kopf. Ja, Rimini war gut, ein harmloses Städtchen, an Fremde gewöhnt, viele Hotels. Ljubko sollte ihr mit dem Zug nach Rimini entgegenkommen, dachte sie. Bis dorthin würde sie es allein schaffen, sie fuhr den Wagen zwar selten, aber gern. Luftangriffe fürchtete sie nicht, an der Ostküste gab es wenig zu bombardieren, bislang hatten die Allierten sich auf die Militärhafenstädte des Südens konzentriert, Neapel, Tarent, Palermo, ihre Flugzeuge waren von Malta aus gestartet. Die Industriestädte des Nordens würden sicherlich folgen, Genua, Mailand, Turin. Aber doch nicht Seebäder wie Rimini und auch nicht Venedig; niemand würde es wagen, Venedig zu zerstören, den Baedeker hatten die Alliierten auch in ihren Regalen stehen, sie vertraute auf das Kulturbewusstsein der Engländer und Franzosen, nicht auf das der Amerikaner allerdings. Natürlich wusste man nie, was geschehen würde. Aber das Risiko musste sie in Kauf nehmen. Sie blickte auf die Uhr über Röntgenraum II. Es war halb elf. Die Mädchen kehrten frühestens in einer Stunde zurück, die Jungen um eins.

Sie raffte den Rock und rannte nach oben, in die Kammer hinter der stanza fredda, Koffer holen. Sie hatte Pietros Stimme noch im Ohr, wie er erst gespottet, es ist lächerlich, du benimmst dich, als seist du Titos Braut!, und sie dann gewarnt, ja ihr schlicht untersagt hatte, sich den Partisanen anzuschließen und in den Wäldern ihrer Heimat unterzutauchen, die sie jetzt so dringend brauchte, wie er sein letztes, durchschlagendes Argument angebracht hatte, das bei ihr wochenlang verfangen hatte, jetzt aber nicht mehr verfing: Willst du deinen Söhnen antun, was deine Mutter dir angetan hat? Willst du sie allen Ernstes verlassen? Sie werden Neurosen entwickeln, hörst du?, schlimme Neurosen!

Sie versuchte diese Stimme zu übertönen, indem sie laut vor sich hin monologisierte: «Das ist doch etwas anderes! Greco und Manfredi sind keine Kleinkinder mehr. Und ich verlasse sie nicht wegen eines dahergelaufenen Lumps. Ich will mein Land befreien! Das werden sie verstehen! Meine Söhne werden stolz auf ihre Mutter sein, alle drei!»

Ihr Entschluss stand fest. In der faschistischen italienischen Provinz einen Hausstand zu führen war ihr nicht genug, ganz gleich, wie illuster die Gäste waren. Sie war zu Größerem berufen. Sie würde Tito nicht enttäuschen, stari, wie auch sie ihn insgeheim nannte, Alter (obwohl er nur fünf Jahre älter war als sie). Gegen die Stimme im Ohr begann sie erst anzusummen, dann anzusingen.

«Kameradin, gehen wir auf den Berg,

wo die jungen Proletarier fallen,

Kameradin, komm mit uns in den Wald,

denn die Freiheit kommt nicht von allein.»

Dann trug sie zwei große, leere Koffer in die Klinik hinunter.