Bari, Juni 1944

«Der Marschall kommt.»

«Der Marschall kommt.»

«Der Marschall kommt!»

Das Haus selbst schien es zu flüstern und zu wispern, Zora und Josipina waren in heller Aufregung. Pietro hoffte, sie nicht zu enttäuschen, es konnte durchaus sein, dass der hohe Besuch nicht erschien, Planänderung in letzter Minute, ein Notfall, verfrühter Abflug, die Engländer, irgendetwas. Zora war so nervös, dass sie sich allen Ernstes mit Josipina beratschlagte, welches Teegeschirr man benutzen solle. Zu grob durfte es nicht sein, das wäre unhöflich, da zu bäuerisch, zu fein durfte es auch nicht sein, das wäre dekadent. Nicht das Deutsche, wegen der Deutschen!, hatte Josipina eingeworfen und Zora hatte geantwortet: Nein, das Fürstenberg auf keinen Fall. Pietro hatte die Diskussion mitbekommen, die schier endlos war: Womöglich sei Tee grundsätzlich zu dekadent, vielleicht trinke der Marschall nachmittags Kaffee, er sei ja kein Italiener, sondern Kroate und seine Mutter Slowenin, also irgendwie Österreicherin, daher könne es sein, dass er den Kaffee als Wiener Melange liebe oder gar als Einspänner? Und was, wenn es ihn nach Spirituosen gelüstete? In diesem Punkt konnte Pietro die beiden Frauen beruhigen, er hatte genügend Alkoholika im Haus, auch stärkere, viele von Patienten, arme Bauern bezahlten gern mit Grappa oder Likören, solchen aus Mandeln oder Orangen oder Artischocken, und seit die Engländer in Apulien gelandet waren, erhielt man erstklassigen Whisky auf dem Schwarzmarkt, Josipina hatte neulich eine Flasche mitgebracht, gewitztes Geschöpf.

Anas älteste Tochter von Bovec nach Bari zu holen war eine formidable Idee gewesen, Josipina ein Glücksgriff. Das Mädchen war pfiffig und selbstbewusst, zeigte wenig Scheu vor Zora und konnte zupacken, auch in der Klinik unten. Sie war blond und hochgewachsen wie ihre Mutter, hast du gesehen, sie hat Anas gerade Beine! – was Pietro nicht bemerkt hätte, wenn Zora ihn nicht drauf hingewiesen hätte, als Josipina aus dem Zug gestiegen war, was er jetzt allerdings mit Wohlgefallen wahrnahm, Josipina war eine Freude auch fürs Auge. Und sie sprach gut Serbokroatisch, ihr Vater war Kroate. Nur deswegen hatten sie an die Vierundzwanzigjährige gedacht, als im Februar dieser nächste Wahnsinn losgegangen war, aber wenigstens musste man keine Angst vor Bombenangriffen mehr haben, das war vorbei, zumal die Alliierten vor ein paar Stunden Rom eingenommen hatten, im Radio berichteten sie laufend. Das Haus an der Via Dieta war zu einer Art Umschlagplatz für Flüchtlinge geworden, einem Kurzzeitlazarett für Dalmatiner. Man hatte den kleinen Salon und die stanza blu leer geräumt und Feldbetten aufgeklappt, der Billardtisch stand jetzt im großen Salon, ebenso der Esstisch. Überall roch es nach ungewaschenen Menschen, nach Mercurochrom und Creolina, zudem litten die meisten Patienten an Diarrhö, der Geruch zog bis in die Schlafräume hoch. Schwerverletzte Partisanen waren kaum darunter, die wurden in den geheimen Waldkrankenhäusern Dalmatiens versorgt. Hierher kamen Zivilisten, die von der rechten Ustascha oder den Deutschen ermordet worden wären, wären sie ihnen in die Finger geraten, sie waren auf die von Partisanen kontrollierte Insel Vis geflohen und von dort aus mithilfe der Briten nach Bari verschifft worden, Zehntausende Menschen unterwegs, vor allem Alte, Frauen und Kinder. Die meisten wurden nach Ägypten gebracht, in Zeltlager am Suezkanal, die man extra für sie errichtet hatte, andere ins syrische Aleppo, dort waren sie in Sicherheit, die Briten bauten die Lager auf. Pietro arbeitete mit den englischen Armeekrankenstationen zusammen, die aber nur die mobilen, kleinen Röntgenapparate besaßen, bei ihm hingegen war alles auf dem neuesten Stand, wobei man sagen musste, dass während des Krieges nicht viel an technischen Neuerungen passiert war (allerdings Ungeheuerlichkeiten wie diese: Oskar Blank, munkelte man, habe monatelang im Konzentrationslager Auschwitz die Röntgenkastration an Häftlingen getestet und die Methode verfeinert. Aber jetzt war Blank verschollen, irgendwo in Russland, wahrscheinlich tot). Eigentlich hätte Pietro nur röntgen sollen, aber es waren schlicht zu viele Flüchtlinge in der Stadt, die auf die Verschiffung warteten, also hatten Zora und er das Haus geöffnet. Die Flüchtlinge liebten Josipina, vor allem die Männer. Und alle verehrten Zora, obwohl sie sie ein wenig fürchteten. Doch Zora strahlte – wie immer in Extremsituationen – zwei Dinge aus, die einander ergänzten: Führungsqualität und Beschützertum, also Klarheit und Geborgenheit. Man musste sich ihr bloß anvertrauen, dann wurde alles gut. Nur zu viel fragen sollte man nicht, Fragen kosteten Zeit, und am Schluss wurden die Dinge sowieso so gemacht, wie sie es wollte. Fragen waren reiner Zeitverlust. Deshalb waren diese Diskussionen, die Zora und Josipina gerade führten, etwas verwunderlich. Pietro hörte, wie die beiden über den Billardtisch sprachen, den man abdecken könnte, auch hier tauchte wieder das Dekadenzthema auf, unglaublich, worüber die sich den Kopf zerbrachen! Viel entscheidender war doch: Sollten sie die zwei Krankenzimmer für die Stunden (oder Minuten), die Tito hier war, vom Rest des Hauses abtrennen? Wenn die Patienten mitbekämen, wer zu Gast war … alles könnte aus dem Ruder laufen. Man musste ihn diskret an all den Kroaten vorbeischleusen, dachte Pietro, um ihn vor deren Begeisterung zu schützen, das war das Thema, das jetzt besprochen werden musste, nicht der Billardtisch. Vlatko Velebit hatte gar nicht konkret gesagt, was der Marschall eigentlich wollte, vielleicht nur untersucht werden? Womöglich war er verletzt (er war den deutschen Fallschirmjägern knapp entkommen, fast wäre die Höhle von Drvar, wo er sich tagelang verschanzt hatte, sein Grab geworden), dann würde er sowieso in der Klinik unten bleiben, und die Geschirrfrage hätte sich erübrigt, wobei Pietro das Zora nicht antun wollte. Tito war ein Held, seit seiner spektakulären Flucht aus der bosnischen Höhle mehr denn je, und Zora wollte den Helden sehen (sie hatte die Gerüchte, die über ihr angebliches Treffen mit Tito kursierten, nie zerstreut).

Hinter der Säule hörte man ein Flüstern: «Josef Stalin. Joseph Goebbels. Josip Tito. Josef von Nazaret. Zu viele Josefs für eine Maria.»

«Was sagt sie?», rief Zora.

Das Säulenstimmchen wiederholte, diesmal mit hüpfender Betonung: «JO-sef Stalin. JO-seph Goebbels. JO-sip Tito. JO-sef von Nazaret. Zu viele Josefs für eine Maria.»

«Sie zählt auf», antwortete Pietro.

«Josipina, ein Gedeck weniger für den Tee!», rief Zora energisch, «Wir können sie unmöglich mit am Tisch haben … Stalin, Goebbels … ungeheuerlich, was sie da redet. Josipina, hast du gehört? Ein Gedeck weniger. Aber lass es in der Nähe, falls der Marschall außer diesem Vlatko Soundso noch jemanden mitbringt. Josipina?»

«Josipina, Josipina», kicherte das Stimmchen, «noch so ein Josef! Es wird voll heute!»

Pietro trat hinter die Säule. Otilija gluckste vergnügt wie ein Kind, das Verstecken spielt, die blassgrauen Augen strahlten. Sie sah anders aus als noch vor zwei Jahren, jünger, glatter, mit durchsichtig gespannter Haut, das volle Haar perlweiß, dafür gelockt. Eine andere Person. Retraumatisierung dachte er immer, wenn er sie sah. So hatte Zora gesagt, als sie ihm erklärt hatte, warum man die Cousine erneut aufnehmen müsse: Otilija wurde retraumatisiert.

«Begleit mich in die Klinik, Otilija, es gibt Arbeit», sagte Pietro und schob sie sachte Richtung Hintertreppe. «Wir gehen runter!», rief er in den Salon, wo Josipina die Servietten glatt strich, um sie dann zusammenzurollen und in elfenbeinerne Serviettenringe mit geschnitzten afrikanischen Tierfiguren zu schieben. «Und Josipina, bitte hol drei Paravents aus den Schlafzimmern, wir stellen sie im Korridor auf. Es muss nicht jeder den Marschall sehen. Giacomina soll dir helfen.» Er war froh, dass Giacomina zurück war, er hatte Zora mit Mühe überreden können, sie wieder einzustellen, nachdem sie davongelaufen war (wie eine räudige Katze), um sich amerikanischen Soldaten in Neapel anzudienen und drei Monate später reumütig und krank wieder vor der Tür zu stehen (ein gefallenes Mädchen).

Im Treppenhaus kam ihnen Nino entgegengestiegen, Pietro hatte ihn schon am schweren Schritt erkannt, er trug die in Grasgrün umgefärbte Uniform eines britischen Soldaten, wahrscheinlich eines Gefallenen, ein Leichentuch!, wie Zora empört ausgerufen hatte. Nino war stark, auf jedem Feldzug hatte er Verletzungen erlitten, nichts schien ihm etwas auszumachen, die Wunden heilten und er kämpfte weiter, jetzt halt an der Seite der Engländer, in dem Gewand eines Toten, ich bin ein Krieger, sagte er gern. Wobei Pietro schien, dass Nino nie wirklich gekämpft hatte, so wie er selber sich Kampf vorstellte (und wie er es in den Schlachten vom Isonzo gesehen hatte), sondern immer nur dabei gewesen war; die Verletzungen hatten von Unfällen hergerührt, Treppenstürzen, umgekippten Fuhrwerken, solchen Sachen, am schlimmsten der Kamelbiss, der daraus folgende Infekt hätte Nino beinahe umgebracht.

Alle drei drängten aneinander vorbei, die Wendeltreppe war eng, Nino nahm zwei Stufen aufs Mal. Er hatte auch so ein seltsam sattes Glimmen im Gesicht, wie Otilija und Zora: Was war nur mit diesen Ostans los? Blühten die in der Krise alle auf?

«Ist etwas passiert, dass du so strahlst?», rief Pietro ihm hinterher.

«Strahlebäckchen», kicherte Otilija und stellte sich neben Pietro ans Geländer, wie er den Kopf in den Nacken gelegt.

«Nichts weiter, es sind Neue gekommen, viele Kinder dabei, ich hole nur schnell Milch!», rief Nino von oben zurück.

Dass Nino im Haus war, war Zoras Raffinement zu verdanken. Im April hatte sie vernommen, dass ihr Bruder nicht mehr in Neapel stationiert war, sondern dass sein Schiff im Militärhafen von Bari eingelaufen war, Zutritt für Zivilisten verboten. Nino erzählte die Geschichte immer wieder gern, wie er seine Schwester die Stelling zum Schiff habe hochschreiten sehen, in einer leuchtend weißen Rot-Kreuz-Uniform samt Häubchen, die sie irgendwo aufgetrieben hatte (frisch gestärkt!), mit einer riesigen Arzttasche unter dem Arm, erhobenen Hauptes und so entschlossen, dass sich niemand ihr in den Weg zu stellen wagte, aus lauter Angst, dass das Rote Kreuz neuerdings eine Frau zur Direktorin haben könnte. Seine Kollegen, so erzählte Nino dann, hätten an der Reling gestanden und unflätige Scherze über die italienische Florence Nightingale gemacht, seien aber schlagartig verstummt und in Habachtstellung gegangen, als sie ihnen einen bösen Blick zugeworfen und Nino mit: Überraschung, Brüderchen! angesprochen habe (das Brüderchen nahm er ihr übel). An Bord hatte sie den Kommandanten zu sprechen gewünscht und ihm erklärt, ihr Bruder würde, bis sich die Situation beruhigt habe, im Haus gebraucht, um die jugoslawischen Flüchtlinge zu versorgen, immerhin spreche er deren Sprache. Der Kommandant hatte Nino tatsächlich gehen lassen, mit der Auflage, dass er jederzeit als Übersetzer zur Verfügung stehen müsse. Und so war Nino jetzt vorwiegend in der Via Dieta, wo er das laute, große Gästezimmer zu den Gleisen hinaus bewohnte, da das kleine, ruhige zum Garten hin von Otilija besetzt war (Zora hatte das damals absichtlich so geplant: klein und ruhig, lärmig und groß, der Gerechtigkeit wegen, wenn schon klein, dann wenigstens ruhig).

Pietro öffnete die Tür zur Klinik, plötzlich Trubel und viele Leute im Flur. Und wie Nino gesagt hatte: vor allem Kinder. Schwester Aloisia kam ihm entgegengestürmt. «Wir haben einen Mann mit einem uralten Gips über einer Beinfraktur, ekelhaft», flüsterte sie, «es stinkt zum Himmel!»

«Ein Partisan?», fragte Pietro leise.

«Bestimmt», antwortete Schwester Aloisia.

«Die russische Methode!», rief Pietro. Er war ein wenig aufgeregt, hatte die russische Methode noch nie in natura gesehen. Professor Judin hatte sie entwickelt, in der Schlacht um Moskau oder in Stalingrad, jedenfalls im Großen Vaterländischen Krieg, sie wurde auch in den Wäldern Jugoslawiens angewendet.

«Medizin vom Russendoktor?», fragte Otilija, «Das will ich sehen!»

«Na, dann komm mit», sagte Pietro, der sich bei Otilija über nichts mehr wunderte. Sie war konfus und lustig wie früher, aber sie schien sich vor niemandem mehr zu fürchten, sich vor nichts zu ekeln. Zora und er vermuteten, dass sie (seit der Schändung durch zwei Deutsche) unter Schock stand, als ob sich ein Molton zwischen sie und ihre Umgebung geschoben hätte, der bedrohliche Reize schluckte, manchmal schien sie wie in Trance. Beide ahnten, dass dieser Zustand blitzschnell kippen und dann die alte Otilija zum Vorschein kommen konnte, verschreckt, ängstlich und frierend. Sie fror immer noch, aber ohne diesen himmelschreienden Gestus des Vorwurfs. Im Moment konnte man sie tatsächlich für allerlei Handreichungen einsetzen, die sie pflichtbewusst ausführte, sie übernahm sogar Gänge zum Tabakladen und plauderte unterwegs mit Fremden; erstaunlich, wohin ihre Ängste sich verflüchtigt hatten.

Pietro sah den Patienten sofort, er saß auf dem Untersuchungstisch, das linke Bein baumelte wie bei einem gelangweilten Kind vor und zurück, das rechte ruhte auf einem Hocker, der Gips war nicht weiß, sondern schmutzig gescheckt. Otilija flüsterte: «Ich kann ihn riechen.» Der Mann war um die dreißig, neben ihm eine glänzend aussehende junge Frau, die auf ihn einredete, das wellige, bemerkenswert lange Haar trug sie offen. Pietro verstand sie nicht, irgendein Dialekt wohl; er sprach gut Russisch, Slowenisch ordentlich, aber Serbokroatisch fiel ihm schwer. «Komm, übersetz für mich», forderte er Otilija auf, die wie viele Slowenen Serbokroatisch verstand. Otilija richtete sich auf, schüttelte ihre Locken und marschierte auf den Mann zu. Sie rümpfte nur kurz die Nase, schaute dann interessiert auf den Gips, der unproportional dick und voller brauner Flecken war.

«Frag ihn, was geschehen ist. Offene Fraktur? Zertrümmerter Knochen? Von einer Granate? Stand zur Diskussion, ob das Bein amputiert werden sollte? War schon eine Sepsis im Gange? Es war eine Sepsis im Gange, ja?! Und frag ihn, ob’s juckt!» Pietro redete schnell, gleichzeitig begutachtete er den Gips, vor allem die Flecken inspizierte er genau.

«Sepsis?», fragte Otilija.

«Blutvergiftung», erklärte Pietro.

«Aha. Sepsis», wiederholte Otilija und sprach mit dem Mann, der sich als Pavle Perić und die Frau neben sich als Polonca Perić vorstellte.

«Sie stammen aus Split, sie ist seine Schwester», kommentierte Otilija, «arg viele Ps in der Familie nicht wahr? Aber ist sie nicht wunderschön, rein wie eine Madonna, blass wie eine Mondfrau?»

«Ja, ja», murrte Pietro, «aber was ist jetzt mit der Verletzung?» Er ahnte, unter dem Gips waren weder Drainage noch Verband angelegt, roher Gips auf tiefer Fleischwunde, gegen alle Regeln der klassischen Lehre. Selbst wenn die Wunde eiterte und der Patient fieberte, amputierte Professor Judin nicht. An der Front galt sonst: besser Arm oder Bein verlieren als das Leben; man amputierte notfalls auch mit Holzsägen. In den Militärspitälern der Alliierten würde man die Wunde säubern, Drainage und Verband anlegen, alles regelmäßig wechseln und desinfizieren und warten, bis die Infektion abgeklungen war und die Wunde sich nach Wochen oder Monaten schloss, danach könnte die orthopädische Operation am Knochen folgen. Die russische Methode war brachial, aber erfolgreich. Und gewöhnungsbedürftig: Die offene Fraktur wurde von Gewebefetzen und Splittern gereinigt, ein dicker Gips um das breit aufgeschnittene Bein gelegt, Vereiterung hin oder her, beginnende Sepsis hin oder her. Das Bein war ruhiggestellt, die Infektion klang ab, der Gips saugte den Eiter auf, daher die hässlichen Flecken, der Gestank war höllisch, der Juckreiz auch. Nach zwei oder drei Monaten wurde der Gips abgenommen, das Gelenk war versteift, der Knochen verheilt, eine Folgeoperation unnötig.

«Er will den Gips weghaben», sagte Otilija, «er kann den Juckreiz nicht mehr aushalten.»

Die Mondfrau sagte ein paar Worte, Pietro ahnte, was sie bedeuteten: Und den Gestank.

«Wie lange trägt er ihn schon?», fragte Pietro.

«Sechs Wochen», antwortete Otilija.

«Das ist zu kurz, er muss sich gedulden. Aber ich werde das Bein röntgen. Schwester, bereiten Sie vor?»

Giacomina tauchte im Flur auf, ein Tablett in den Händen, Nino hatte sie wahrscheinlich runtergeschickt, den Kindern Milch und Backwaren bringen. Giacomina und Nino bildeten ein verschworenes Gespann (was Zora missfiel), Pietro war klar, weshalb: Beide hatten Neapel erlebt. Das befreite Neapel, das Neapel, dessen Einwohner die durchziehenden Deutschen mit Schaufeln erschlagen, mit Messern und Scheren erstochen, ihnen kratzend und beißend den Garaus gemacht hatten (man entdeckte Bisswunden an toten Deutschen), nicht nur die Erwachsenen, auch die Kinder hatten sich wie die Teufel gewehrt (man entdeckte auch Kinderbisswunden an toten Deutschen), so etwas hatten die Deutschen noch nie erlebt; dieses heldenhafte Neapel, das dann durch die Ankunft der Alliierten zum Sumpf Italiens geworden war, zum Sputum seiner eigenen Geschichte. Das Neapel, das Zora bereits in den Zwanzigerjahren fassungslos hatte dastehen lassen, nie vorher hatte sie eine solche Lebhaftigkeit und gleichzeitig eine solch traurige Verkommenheit gesehen, die Stadt war ein einziger lauter Schrei, so hatte sie es Pietro einmal gesagt: Diese Stadt ist ein einziger lauter Schrei. Und das Neapel der Zwanzigerjahre war ein anderes gewesen als das heutige, das seine Seele aus Not verkaufte, für ein wenig Geld und Essen und Kleidung von den Alliierten. Nino und Giacomina sprachen oft miteinander über die Stadt, und Giacomina sah man den monatelangen Schrecken, dem sie sich ausgesetzt hatte, immer noch an. Ganz Neapel war ein Bordell, müde Mädchen wurden von ihren Müttern in klammen Wohnhöhlen wie totgeschlagene Tintenfische auf dem Markt dargeboten, damit die amerikanischen Soldaten sie betatschten. Nino hatte davon gehört, wie Männer Schlange standen, um einer nach dem anderen seinen Finger, der sich sonst an das Abzugszüngel einer Waffe schmiegte, in den engen Schlitz eines Mädchens zu stecken (a virgin, a virgin!) und ein bisschen darin rumzurühren, bis das Mädchen stöhnte, wie die Mutter es ihm beigebracht hatte. Die Amerikaner dachten, die Europäer seien per se verkommen und die Neapolitaner die Verkommensten unter ihnen, sie glaubten, es sei hierzulande normal, dass man Jungfrauen wie Ware ausstellte; sie wollten nicht sehen, dass alles der Armut geschuldet war, dem Elend und dem Versuch, schnelles Geld zu machen, solange diese Goldesel noch da waren. Jeder verdiente Geld mit den Soldaten, denn pfiffig waren die Neapolitaner: Die einen machten die Soldaten verliebt, die anderen verkauften sich oder etwas anderes, und diese adrett gekleideten Riesen mit ihren porzellanweißen Zähnen versanken im neapolitanischen Sumpf, schliefen mit Männern, Frauen, Kindern und ließen sich rupfen wie dumme Gänse. Pietro wusste nicht, wie viele Männer Giacomina bedient hatte, aber er sah, dass sich ihre Hoffnung auf ein Leben an der Seite eines dieser Neuweltler zerschlagen hatte und sie sich nun in ihr Schicksal als Bedienstete in einem wohlhabenden Haus in ihrer Heimat fügte; vielleicht würde sie später einen Baresen finden, der nichts von ihrer Vergangenheit als Alliiertenhure in diesem hitzigen Moloch Neapel wusste. Bari war so ganz anders: trauriger, erstarrter, kälter, aber auch unschuldiger.

Schwester Aloisia begleitete die Perićs zum Röntgen, er humpelte, sie stützte ihn, Otilija tänzelte hinterher. Pietro ging durch die Klinikräume, sah, wie Giacomina im Flur von Kindern umringt war, signalisierte ihr und zwei Dutzend Menschen im Wartezimmer, dass er gleich zurückkäme, betrat Röntgen II, schickte Otilija und die Perić aus dem Raum und zog die Tür hinter sich zu, Pavle Perić lag bereits parat, Schwester Aloisia hatte alles vorbereitet und die Platte eingelegt. Pietro kurbelte den Arm auf die richtige Höhe, stellte Schärfe und Blende ein, zog die Bleischürze an, trat zurück und löste aus.

«Seitenlage, nach links bitte», sagte er zu Schwester Aloisia, die Perić beim Drehen half, auch sie trug die schwere Schürze. Das Wort Strahlenschutz war neu in der Medizinersprache, die Amerikaner hatten den Begriff letztes Jahr eingeführt, health physics nannten sie es, in Italien sagte man radioprotezione.

Ein Klopfen an der Tür. «Moment! Wer ist da?», rief Pietro.

«Ich bin es», antwortete Manfredi, der gern durch die Klinikräume streifte, ein neugieriger Vierzehnjähriger mit Sommersprossen im Gesicht und auf den Händen, rothaarig wie sein sizilianischer Großvater und Vater, der Einzige seiner Generation. Pietro hatte seinen Söhnen nie verboten, nach unten zu kommen, im Gegenteil, je früher sie an die Radiologie herangeführt wurden, desto besser. Der zwanzigminütige Röntgenfilm seines Bonner Kollegen Dr. Jankens war einer der Lieblingsfilme der Jungen, Pietro hatte eine Kopie im Haus. Als Kleinkinder hatten sie sich vor den Aufnahmen eines durchleuchteten, essenden Mannes gegruselt und sich kreischend in den Sofakissen vergraben. Dass man ins Innere eines Menschen blicken konnte, war nur im ersten Moment schockierend gewesen, aber wie dieser fette schwarze Zungenmuskel kaute, wie die Nahrung den Schlund hinunterrutschte, ja flutschte, wie Flüssigkeit die Speiseröhre wie ein Wasserfall hinabschoss, wie der gefüllte Darm pulsierte und sich bewegte, als sei er ein Ungeheuer der Unterwelt, das hatte alle drei nachhaltig fasziniert – zumindest nahm Pietro das an. Er hatte die zweite Aufnahme gemacht und öffnete die Tür zum Flur.

Manfredi hielt einen Brief in der Hand. «Von Davide. Wann darf ich Ihnen daraus vorlesen?»

«Ist etwas Schlimmes passiert?», fragte Pietro seinen Jüngsten.

«Nein, nicht mit Davide. Aber er hat in Zürich etwas gesehen, das ihm Angst macht. Und mir auch. Ich lese es Ihnen und Mama später vor.»

«Wahrscheinlich erst heute Abend. Du weißt, wer noch kommen soll?», fragte Pietro.

«Ja natürlich. Oben sind alle sehr nervös. Darf ich den Marschall auch begrüßen?»

«Selbstverständlich.» Pietro drehte sich um und ging ins Röntgen zurück, die Tür blieb offen. Manfredi verstand, dass er störte, und wollte gehen, als Nino ihm entgegenkam, Polonca Perić an seiner Seite, er hatte ihren Arm scherzhaft untergehakt, beide lachten.

«Ach», seufzte Pietro nur und steuerte mit den belichteten Platten aufs Labor zu. Er hörte Manfredi sagen: «Onkel Nino, ich muss dir erzählen, was Davide geschrieben hat.» Und Ninos Antwort: «Später, Manfredi, später.»

Manfredi lief seinem Vater etwas unsicher hinterher. Da kam Otilija auf ihn zu.

«Man hat Isidor erschossen», sagte sie mit entsetzt aufgerissenen Augen.

«Ich weiß», sagte Manfredi, «auf offenem Feld.»

«Woher weißt du das?»

«Du hast es uns erzählt, teta Otilija. Schon dreimal. Und Mama hat es uns auch erzählt.»

«Weißt du auch, wer ihn erschossen hat?»

«Otilija, lass Manfredi in Ruhe», rief Pietro aus dem Labor, «der Junge ist zu jung für solche Geschichten.»

«Niemand ist zu jung für solche Geschichten», warf Giacomina reichlich frech ein. Zwei Kinder zupften an ihrer Schürze.

«Sei nicht vorlaut, Giacomina», sagte Pietro, «lass diesen Ton nicht meine Frau hören.»

«So darfst du mit dem Professor nicht sprechen, sonst musst du zurück nach Neapel … zu den Negern», kicherte Otilija.

Traumatisiert, dachte Pietro, Giacomina war genauso traumatisiert, wie Otilija retraumatisiert war. Er hatte es mit lauter verrückten Frauen zu tun, die ihm auf der Nase herumtanzten. Auch einige von den Patientinnen machten einen wirren Eindruck, die eine schaukelte blödsinnig hin und her, die andere streichelte einen Fetzen Stoff wie ein Kätzchen, eine dritte wiederholte die immergleichen drei Wörter, die Pietro nicht verstand. Diese Leute waren beschädigt, und kein Mensch wusste, wie es ihnen in Ägypten ergehen würde. Die alabasterhäutige und pausbäckige Polonca Perić, die Nino so gut gefiel (und die einen durchweg unbeschädigten Eindruck machte), würde auch in die Wüste verfrachtet werden. Zehntausend dalmatinische Flüchtlinge durften in Apulien verbleiben, das hatten die Engländer mit Titos NKOJ ausgemacht, aber der Rest: ab nach Syrien, ab nach Ägypten, wo sie verharren würden, bis die Situation zu Hause sich entspannt hatte. Pietro und Zora hatten Bilder des Lagers in El Shatt gesehen, endloser Sand, endloser Himmel, endlose Zeltreihen, Kinder in kurzen Hosen und luftigen Röckchen, greise Bäuerinnen in kroatischen Trachten, das Haar unter dem schwarzen Kopftuch versteckt.

«Also, wer hat Isidor erschossen?», fragte Otilija erneut.

«Ein Partisan natürlich!», rief Schwester Aloisia. Pietro schaute sie verblüfft an: dass die sich jetzt auch noch einmischte! Heute waren sie wirklich alle verrückt. Sie litten unter einer Partisanenfixierung; das musste am Marschall liegen.

«Genau!» Otilija schien empört.

«Weil er für die Deutschen gearbeitet hat», konstatierte Manfredi altklug.

«Die Dinge liegen komplizierter», sagte Pietro.

«Er war zu reich.» Nino gesellte sich zu dem Grüppchen, ohne die Perić, die saß bei den anderen Flüchtlingen im Warteraum.

«Ach was, zu reich», grummelte Pietro missmutig.

«Doch, doch», sagte Nino, «ihn hat die Rache des Proletariats ereilt.»

Das stimmte wohl, der Mann hatte Isidor Geld geschuldet, so wie viele im Sočatal, die ihm ihr Land verpfänden mussten, aber die meisten waren bemüht, zumindest ein wenig zurückzubezahlen, nicht so dieser Mann, worauf Isidor ihm sein Grundstück endgültig weggenommen hatte. Arme bestehlen!, wie Zora angewidert bemerkt hatte. Später ging der Mann in den Widerstand, bewaffnet wie alle Partisanen. Eines Tages entdeckte er Isidor zufällig bei der Feldarbeit, erschoss ihn und verschwand im Wald, eine persönliche Revanche, kein politischer Akt.

«Isidor hat die Partisanen durchaus unterstützt», hielt Pietro dem Cousin der Ostans zugute. «Aber ich kann jetzt nicht weiterdiskutieren, wir haben die Klinik voller Leute, die untersucht und in die Spitalzelte verteilt werden müssen. Die Engländer warten.» Er zündete eine Zigarette an und ging zum Warteraum, dachte an Isidor. Und an Zora. Die hatte jetzt die Lastkraftwagen unter Kontrolle, die nach Isidors plötzlichem Tod ohne Besitzer waren. Aus der Ferne hatte sie im Handumdrehen organisiert, dass die Wagen in die Hände der Partisanen und nicht in die der Deutschen gelangten. Es sind UNSERE Lastwagen, hatte sie nach Bovec gekabelt, was zumindest halbwegs stimmte, weil Isidor sie vor Jahren von den Ostans übernommen hatte. Boris solle die Wagen sofort in den Wald fahren, ordnete sie telefonisch an, was Boris auch tat, sogar Pepca schwieg ob der Gefahr. Die Deutschen kannten die Kraftwagen, Isidor hatte für sie Waffen von Görz nach Bovec transportiert und unterwegs den Partisanen einen Teil abgegeben, man war bekannt miteinander, so kam er unbehelligt an allen Posten vorbei, an denen der Deutschen und denen der Partisanen. Die SS entdeckte Isidors doppeltes Spiel, er wurde verhaftet, der SS-Oberfeldwebel habe gesagt: Sie kollaborieren mit den Partisanen. Wir werden Sie erschießen. Isidor habe geantwortet: Hätten Sie die Straßen besser kontrolliert, hätte ich nicht Partisanen bestechen müssen. Ohne mich hätten Sie überhaupt keine Waffen, so bekamen Sie immerhin achtzig Prozent. Das Argument zog, die SS entließ ihn aus der Haft, aber genützt, dachte Pietro, genützt hat es Isidor nichts. Wenige Wochen später war er tot.

Isidor war der Einzige aus ihrem näheren Umfeld, der im Krieg umgekommen war, was erstaunlich war, so viele Tote, auch unter den Partisanen. Auch Franc lebte, er kämpfte in Maribor gegen die Deutschen, Goran war ebenfalls im Widerstand. Ihn hatte Zora treffen wollen, als sie vor zwei Jahren mit gepackten Koffern nach Triest verschwunden war. Pietro dachte mit einer gewissen Sympathie an ihren Ausbruch zurück, wegen solcher Exzesse liebte er sie, auch wenn er verärgert gewesen war und Ljubko beschworen hatte, seine Frau nicht in grünen Hosen in irgendwelche Schluchten im Karst verschwinden zu lassen, sondern sie gefälligst zu ihren Söhnen zurückzuschicken. Ljubko hatte diese Aufgabe mit Souveränität bewältigt und über Mittelsmänner Gorans Brigade eruiert, damit die Medikamentenkoffer dahin gelangten, was, wie man später erfuhr, gelungen war (angeblich). Ljubko, der Fuchs, hatte seine Schwester zur Feier der geglückten Übergabe in die Triestiner Oper ausgeführt, sie also mit den schönen Künsten eingelullt und ihren Furor so virtuos entschärft, dass sie bereit gewesen war, nach Süditalien zurückzukehren, statt in den Kampf zu ziehen.

Im Warteraum herrschte kein Durcheinander mehr, sondern matte Ruhe. Kinder waren eingeschlafen, in den Schoß von Frauen gekippt, die ihnen gedankenverloren übers Haar strichen, selbst kurz vor dem Einnicken. Sie würden zwei oder drei Tage in der Via Dieta bleiben und dann nach Ägypten gebracht werden. Lebensbedrohliche Verletzungen gab es keine. Die Menschen litten unter Erschöpfung und Sorgen, aber nicht mehr unter Todesangst. Die meisten waren in Ruderbooten auf die Insel Vis geflüchtet, sie hatten die Verwundeten und Toten hinter sich gelassen. Wer es nach Vis geschafft hatte, überlebte. Doch alle hatten den Überblick über ihre Leben verloren, wie immer im Krieg. Es gab Frauen, die in zerlöcherten Schuhen quer durch die Stadt, hinaus in die Olivenhaine und von Militärzelt zu Militärzelt marschierten, um nach ihren verwundeten Männern und Söhnen zu suchen, in der Hoffnung, sie seien ebenfalls hier. Die britischen Soldaten waren von ausgesuchter Höflichkeit, mit dieser Gewissheit, die nur Sieger ausstrahlten, anders als die Italiener, denen die Scham und die Verwirrung, ob sie eigentlich Verlierer oder Sieger waren, ins Gesicht geschrieben stand. Die Engländer halfen den kroatischen Bäuerinnen und Fischersfrauen durchaus, auch wenn ihr Bestreben darin lag, die Flüchtlinge so schnell wie möglich an den Suezkanal zu verfrachten. Sie schürten ihre Hoffnung, in den Wüstenzelten von El Shatt auf Bekannte und Verwandte zu stoßen, auch wenn keiner der Kroaten sich die Wüste vorstellen konnte. Die Wüste muss man gesehen haben, um sie zu verstehen, vor allem nachts, erklärte Nino; die Wüste ist größer als Gott, fügte er noch an, aber nur, wenn keine strengen Katholiken anwesend waren, was in der Via Dieta sowieso selten der Fall war, außer Neldo war hier kaum einer gläubig, auch wenn alle dauernd die Mutter Gottes um irgendetwas anflehten.

Pietro untersuchte den verkrüppelten Fuß eines Jungen. Neben ihm eine Frau in fleckiger Bluse, sie kratzte sich genant am Oberkörper und rückte etwas weg, sie roch stark, ein Geruch, den Pietro kannte, eine aufgebrochene Geschwulst der Brust womöglich, er würde sie als Nächste untersuchen, er mammografierte regelmäßig. Pietro hörte, wie Manfredi im Flur auf Giacomina einredete. Die Sache mit Davides Brief nahm ihn offensichtlich so gefangen, dass er sogar dem Dienstmädchen davon erzählen musste, weil sonst niemand Zeit für ihn hatte. Pietro hörte mit halbem Ohr hin, nun selber neugierig geworden. Manfredi verschluckte sich immer wieder, seine Stimme klang gepresst. Es ging um Kohlewaggons aus Italien, die nach Deutschland fuhren, um den Gotthardtunnel, um den Aufruf des Roten Kreuzes an die Bevölkerung, Suppe und Tee und Decken an den Bahnhof Zürich zu bringen, für die frierenden und hungernden Menschen, die in den Waggons transportiert wurden, die deutsche Kohle nach Italien gebracht hatten und nicht leer nach Norden fahren sollten, deswegen die Menschentransporte, Lagertransporte. Es ging darum, dass Davide, der in Zürich studierte, dem Aufruf gefolgt und mit einem Kommilitonen nachts zum Bahnhof marschiert war, die Züge kamen nachts an, mit dünner Minestrone in Flaschen, die Lebensmittel waren rationiert, Minestrone, weil die Menschen in den Güterzügen ja Italiener waren, Juden und Zigeuner und Kommunisten und auch Partisanen. Man solle Gasmasken tragen, hieß es, kein Mensch wusste, warum, aber alle hatten eine um den Hals hängen, jeder Schweizer besaß eine Gasmaske, wenn nicht zwei. Es ging in dem Brief um nächtliche Rangieraktionen an den Bahnhöfen, um den Lärm, der die Anwohner störte, um das Flehen, Rufen und Hämmern der Menschen in den Zügen, die darum baten, sie freizulassen, um Streit zwischen Hilfeleistenden und Protestierern, die von schreienden Menschen in verplombten Kohlewaggons nicht behelligt werden wollten und die sich vor fremden Bazillen fürchteten, um die Stadtverwaltung, die die Züge dann dort abstellen ließ, wo niemand wohnte, um Namen wie Dachau und Bergen-Belsen. «Das ist doch schrecklich», schluchzte Manfredi plötzlich.

Pietro betrachtete seinen verstörten, nun hemmungslos weinenden Sohn, den die kleine, dünne Giacomina in den Arm genommen hatte, die ihm jetzt beruhigende Worte zuflüsterte. Pietro betrachtete die verlorenen Kroatinnen im Warteraum und wünschte sich ein Ende von dem allem, damit alle ihren Frieden fänden und er endlich in seine Dunkelkammer zurückkehren könnte, um in Ruhe an seinem neuesten Gegenstand zu forschen: der Meniskusläsion.

Es klingelte. Schwester Aloisia öffnete die Kliniktür, Otilija stand hinter ihr wie ihr Schatten. Dr. Lovrič, Chirurg und Oberst der jugoslawischen Militärmission, rauschte an beiden vorbei Pietro entgegen, die beiden Männer begrüßten einander mit Handschlag.

«Der Marschall ist auf dem Weg, Vlatko Velebit begleitet ihn», sagte Dr. Lovrič, der keine Uniform trug, aber ein poliertes Abzeichen am Revers, roter Stern auf rot-weiß-blauem Grund. «Viel Zeit bleibt nicht, sein Flug nach Vis ist für heute Abend oder spätestens für morgen Früh geplant.»

«Nach Vis, tatsächlich?», fragte Pietro erstaunt.

«Nicht ideal, gewiss, aber sicher. Die Engländer bauen Vis zu einer Art Festung aus, sie legen Landebahnen an. Die Deutschen werden die Insel nicht angreifen, dafür sind sie zu geschwächt.»

«Hat er Beschwerden?», fragte Pietro.

«Diffuse. Wir haben ihn vollumfänglich untersucht. Er verlangt eine Aufnahme des unteren Rückens, am besten, Sie machen lumbalis und sacrum. Und einen Thorax zur Sicherheit. Aber erst wünscht er Ihre Frau zu sprechen. Er will ihr etwas überreichen.»

Einen Orden, dachte Pietro. Er nickte Otilija auffordernd zu. Sie verstand und flitzte Richtung Treppe, tänzelnde Schritte, wippende Locken. «Ich werde zwei Montagsringe anziehen», jauchzte sie, «obwohl Dienstag ist.»

«Kommen Sie mit nach oben?», fragte Pietro.

«Danke, ich warte hier», antwortete Lovrič.

«Schauen Sie sich die Frau im roten Rock an. Könnte ein Mamma-Ca sein, ich habe sie noch nicht untersucht», sagte Pietro, zog seinen Kittel aus und reichte ihn Schwester Aloisia. Er hörte die Türklingel der Wohnetage schellen, lang und fordernd, madre mia, jetzt schon; er rannte die Treppe hoch, drückte an ihrem Ende den Öffner des Tores und trat schwer atmend in die Halle, seine Kurzatmigkeit war bedenklich, zu viele Muratti in letzter Zeit, eher drei Päckchen am Tag als zwei, wahrscheinlich war Rauchen doch schädlich, Pietro kannte Müllers Fall-Kontroll-Studie zum Lungenkarzinom; er sollte paffen, statt zu inhalieren, was allerdings beschämend war, paffen bedeutete: rauchen in Frauenmanier.

Pietro eilte durch die Halle zur Hauseingangstür, ornamentale, verschlungene Messingringe innen und außen, Milchglasscheiben dazwischen. Er zog die schwere Tür auf, zwei Männer kamen die lange Loggia entlanggeschritten, beide trugen Uniform, dunkelgrüne Hosen in schwarz glänzenden, kniehohen Stiefeln. Tito wirkte breiter als Velebit, ein mächtiger Mensch, obwohl Pietro ihn größer in Erinnerung hatte.

«Professor Del Buono», sagte Josip Broz Tito, «wie lange ist es her?»

«Seien Sie willkommen, Marschall», antwortete Pietro, «gut sechs Jahre sind es seit Paris. Ich freue mich, Sie wohlauf zu sehen.» Wie schon damals sprachen sie Russisch miteinander. Dieses scharfkantige Gesicht, dieser glasklare, kritische Blick, die majestätische Haltung, der entschiedene Händedruck – er hatte das alles vergessen, aber wahrscheinlich hatte es sich auch verstärkt; vor ihm stand ein stattlicher Mann von sechsundfünfzig Jahren. Pietro, acht Jahre jünger, schmal und agil und elegant gekleidet, fühlte sich neben dieser kraftstrotzenden Gestalt in Uniform wie ein sizilianischer Dandy. Eindeutig: Tito war kein Revolutionär mehr, er war Politiker geworden.

«Bitte, nach Ihnen.» Pietro trat als Letzter ins Haus.

Stiefelschritte auf Stein, dann Stille. Kein Mucks war zu hören, nicht einmal ein Geräusch aus den Krankenzimmern. Es war die gespannte Atempause, bevor sich der Vorhang hob und das Stück begann: Giacomina lugte hinter dem Samtparavent hervor. Otilija lehnte an der Säule beim Kamin, hinter ihr die Inschrift: Hic murus aeneus esto: nil conscire sibi, nulla pallescere culpa (Latein verstand Tito bestimmt nicht). In der Doppeltür zum Salon Josipina, ganz die slowenische Schönheit in Blond, daneben Greco und Manfredi, frisch gekämmt, die Haare glänzend. Großvater Giuseppe soigniert vor der Bücherwand, ein Cognacglas in der Hand.

Auf der Galerie ein Hüsteln. Nino und Zora traten aus dem Dunkel nach vorne, Bruder und Schwester in seltener Eintracht, beide in Grün, er in Uniform, sie im Kleid. Zora legte die Hände auf das frisch polierte Messinggeländer. Sie lächelte.

Tito ging zwei Schritte Richtung Treppenaufgang, öffnete die Arme weit, als sei er ein Tenor, der zur Arie ansetzt. «Es ist mir eine Ehre, Gast im Haus einer Genossin der Volksbefreiungsarmee zu sein, einer grande signora mit humanitärer Gesinnung, mit Liebe für die Freiheit und das Vaterland.»

Alle atmeten wieder.

Was für ein Theater, dachte Pietro.