«Kleine Stana, Stanka, Stančica», sang die Greisin, «ein Jahr alt bist du heute geworden, kleine Stana, Stanka, Stančica.»
«Eine Wüstenmaus», rief der berühmte Torwart und rannte weiter.
«Bist du eine Wüsten-Wüsten-Wüstenmaus?», singsangte die Greisin. Stana prustete vergnügt und warf ihr den Kamm in den Schoß, einen Kamm, den die Greisin sicherlich kaum brauchte, sie fuhr sich damit morgens einmal durch das dünne Haar und gelegentlich auch abends, tagsüber trug sie ein schwarzes Kopftuch, in Altfrauenmanier unter dem Kinn geknotet, die Jüngeren trugen bunte Tücher, locker im Nacken gebunden, das sah flotter aus.
Polonca trug nie Kopftuch, schon in Split hatte sie das nie getragen, sie war doch keine Bäuerin. Sie mochte auch keine Trachten, dafür Hüte und Schuhe mit Absatz. Dass sie seit sechshundert Tagen in einem Zelt leben musste, in dem es schlecht roch, war eine Zumutung. Sie vermisste Pavle sehr und manchmal weinte sie darüber, dass niemand sie mehr Poli nannte, aber sein Tod hatte ihr das Leben hier auch erleichtert. Ihr Bruder war kein Partisan gewesen, sondern Royalist, seine Verletzung hatte nicht vom Kampf, sondern von einer Detonation auf offener Straße hergerührt, was er verheimlicht hatte, als die Partisanen ihn mit zerfetztem Bein fanden und dachten, er sei einer der Ihren. Er hatte einen roten Stern in den Hosenbund eingenäht gehabt, Poli, man weiß ja nie, wann der einem nützen kann, hatte er ihr oft gesagt und sie zu überreden versucht, einen Stern in den Schlüpfer zu nähen, was sie nie getan hatte, aber tatsächlich hatte das rote Stückchen Stoff ihm das Leben gerettet. Im Lager hatten sich die Gerüchte um Pavle im Laufe der Monate wie Brandbeschleuniger verdichtet, er sei vielleicht kein Faschist, aber doch zumindest Royalist und darüber hinaus ein Betrüger, ein ehrloser Mann, ohne Rückgrat (was fast schlimmer war, als Royalist zu sein). Als dieser starke Mensch an Fleckfieber starb, gab es allerlei hämische Kommentare, doch danach kehrte für Polonca Ruhe ein, die gerade Mutter geworden war, das Baby besänftigte alle, und der Ausbruch der Masernepidemie brachte ohnehin alles durcheinander, Dutzende Kinder starben, es wurde viel geweint, all dieses kleinen Gräber. Stana starb nicht, Stana war ein Glückskind. Und ein glückliches Kind. Sowieso waren die Kinder hier freudvoller als die Erwachsenen, sorglos und frei, das Toben durch den Sand war ihr Leben, sie rannten mit bloßen Füßen herum und vergnügten sich mit Hüpfspielen über die Zeltseile (und wurden weggescheucht); wenn sie Lust auf ein Bad hatten, sprangen sie in den Suezkanal, während Kriegsschiffe an ihnen vorbeizogen, darauf winkende Soldaten.
Polonca war keine Royalistin, aber auch keine Kommunistin. Sie war einfach nur eine Städterin mit einem Faible für modische Kleidung, die es nach Afrika verschlagen hatte, weil die Weltpolitik es so wollte. Die Kommunisten waren gut organisiert, das musste man ihnen lassen, sie verstanden sich als Vorreiter des neuen Jugoslawiens; das Lager funktionierte tadellos, sogar zwei Tageszeitungen gab es, eine wöchentlich erscheinende literarische Beilage und eine Zeitschrift speziell für Frauen (für die Polonca über den idealen Badeanzug geschrieben hatte, samt Schnittanleitung), Theatergruppen und Tanzabende und Volksschulvorträge und Kleiderausgaben mit gebrauchten Kleidungsstücken, nach Farben und Größen geordnet. Die Engländer staunten über die straffe Organisation, wenn sie sich denn blicken ließen; ihre Soldaten hatten die raumgroßen Zelte aufgebaut, in militärischer Ordnung, Hunderte Zelte, Wohnzelte, Küchenzelte, Kirchenzelte, Hospitalzelte, ansonsten kümmerten sie sich kaum um die zwanzigtausend Menschen. Also nahmen die Kommunisten das Lagerleben selber in die Hand, die Partisanen gründeten das Zentralkomitee COZ und fingen an, die sozialistische Gesellschaft zu organisieren.
Die Kommunisten, immer die Kommunisten … Polonca hörte Zora Del Buonos Worte: Frauen, die nicht für die Kommunisten sind, sind dumm. Keiner sonst wirbt für die Sache der Frau. Die Kommunisten haben den Frauen das Wahlrecht gegeben! Schon ’42! Das mochte für Slowenien stimmen, aber in Australien durften Frauen bestimmt auch wählen, oder in Argentinien. Polonca war hin und her gerissen. Australien oder Argentinien? Sie studierte den Atlas im Bibliothekszelt nahezu täglich (was sollte man hier sonst tun?), sie liebte Atlanten fast so sehr wie Modezeichnungen, die Farben, die fremden Namen, die unbekannten Flüsse, die sich frech über Ländergrenzen hinwegschlängelten. Die Karte von Australien gefiel ihr sehr, dieser liegende Kopf, in fünf Farben aufgeteilt, mit schnurgeraden Grenzen, etwa die zwischen Queensland und New South Wales, allein diese Namen. Ja, Australien war gut. Argentinien wäre allerdings auch gut, Buenos Aires klang noch verlockender als Queensland, verwegener, lebenslustiger. Es gab eine Menge Dalmatiner, die in eines der beiden Länder auswandern wollten, vor allem Ustaschaanhänger und Royalisten, für die war El Shatt nur Durchgangslager gewesen, sie waren längst hinter die Hügel des Sinai gezogen und harrten dort der Dinge, Al-Arisch hieß der Ort, er lag am Mittelmeer, wahrscheinlich war es dort weniger sandig und malerischer als hier, aber wer wusste das schon; diese Leute konnten unmöglich zurück nach Jugoslawien, sie würden schon im Hafen von Split oder Dubrovnik verhaftet oder gleich liquidiert werden, Polonca hatte von Massenexekutionen gehört, auch wenn die alten Partisanen das bestritten, aber es gab jetzt die OZNA in Jugoslawien, die Abteilung für Volksschutz, eine Geheimpolizei, gefährliche Leute. Der Krieg war vorbei, das Töten ging weiter. Die Kommunisten brannten selbstverständlich darauf, nach Jugoslawien zurückzukehren: den sozialistischen Staat aufbauen. Die Aufbruchstimmung, die im Sommer geherrscht hatte, war jedoch abgeflaut, die Hälfte der Lagerbewohner war weg, aber aus irgendwelchen Gründen war die Rückführung ins Stocken geraten, es fehle an Schiffen, hieß es, was Polonca recht war: noch ein wenig Zeit gewinnen.
Wo sollte sie hin? Zurück nach Split? Undenkbar. Split war wunderschön, die Bucht, die kargen Berge dahinter, der Marjanwald, und wo gab es das sonst, eine Stadt, die nicht UM, sondern IN einen römischen Palast hineingebaut worden war? Ihre Eltern und sie hatten an der Innenseite der Palastmauer gewohnt, im Herzen der Stadt, das abendliche Flanieren an der Promenade fehlte ihr, sie kannte dort jeden, es war beschaulich und vertraut und die Sonnenuntergänge würde sie vermissen, aber Sonnenuntergänge am Meer fand man in Australien auch (in Buenos Aires nicht – was für Australien und gegen Buenos Aires sprach; Sonnenaufgänge waren langweiliger als Sonnenuntergänge, das hatte sie in Bari festgestellt, ein kurzes Schimmern, dann war’s hell, wie unspektakulär). Eine Zukunft in Split gab es für sie nicht, Pavles Vergangenheit würde ihr Leben gefährden und das von Stana auch. Nicht zu vergessen Zora Del Buono. Polonca wollte keinesfalls zu nah an dieser schrecklichen Frau leben. Und quer über die Adria war noch zu nah. Quer über den Atlantik war besser.
«Stana, Spätzchen», sagte Polonca, nahm der Alten die Kleine ab und hob sie hoch, «wir gehen zum Sportfeld, wo die Kinder sind.» Kinder gab es zwar nicht nur beim Sportfeld, sondern überall, so viele wie Sandkörner, hatten die Erwachsenen oft geseufzt, als das Lager noch voll gewesen war, und noch eins dazu, hatte Polonca ihrer Tochter dann ins Ohr geflüstert. Die Hälfte der Lagerbewohner waren Kinder, zu Höchstzeiten zehntausend, es wimmelte nur so von diesen nacktbeinigen, braun gebrannten kleinen Geschöpfen, viele mit Partisanenmützen auf dem Kopf (wegen der Sonne …), aber ohne Schuhe, barfuß saßen sie auch bei Polonca im Unterricht, wo sie ihnen Lesen und Geografie beibrachte, wobei die Schulzelte sich sehr geleert hatten, viele Familien waren nach Dalmatien zurückgekehrt.
Polonca nicht. Polonca wartete. Nur: worauf eigentlich?
Hatte sie die falsche Entscheidung getroffen? Hätte sie Nino besser nicht schreiben sollen? Warum antwortete er nicht? Oder war der Brief der Zensur zum Opfer gefallen? Im Lager wurde nämlich zensiert, auch wenn das Zentralkomitee das bestreiten würde. Sie hatte darauf geachtet, nichts Kommunistenfeindliches zu schreiben, Politik interessierte sie sowieso nicht, sie wollte nur eines: ein richtiges Leben. Sie wollte nicht mehr mit zehn anderen Frauen und einem Haufen Kinder ein stickiges Zelt teilen müssen (es gab Zelte für Familien und Zelte für Frauen wie sie), sie wollte ihre Wäsche in einem Schrank und nicht an Seilen an klebrigen Zeltwänden aufhängen, sie wollte eine Kommode besitzen und nicht eine alte Kiste, auf der explosive! dangerous! stand, sie wollte nicht mehr auf den Gong warten, der zum Essen rief, um dann aus einem Blechnapf zu löffeln, was im Küchenzelt vorbereitet worden war, sie wollte hübsche Schuhe und Kleider ohne Flecken tragen, sie wollte frisch geschnittenes Gras riechen und bunte Blumen in Vasen betrachten und nicht vertrocknete Wüstenpflanzen (die ihre Mitbewohnerin zugegebenermaßen hübsch arrangierte), sie wollte keine Elefanten auf Kissen sticken und keinen weiteren Malkurs besuchen, um die Zeit totzuschlagen, nein, nie wieder Malkurs. Sie konnte die kilometerlangen Zeltreihen nicht mehr sehen, dann dieser ewige Sand in den Haaren, zwischen den Zehen, sie ertrug den Südostwind nicht mehr, der ohne Vorwarnung aufkam und tagelang blies und einen schier erstickte, der Saharastaub klebte nicht nur in den Haaren und zwischen den Zehen, sondern im Mund, in den Augen, man rieb und hustete und spuckte, überall rieben und husteten und spuckten die Menschen, manche sogar Blut. Ghibli nannten die Einheimischen den Wind (der in Dalmatien Jugo hieß und in Italien Scirocco), aber Einheimische sah sie sowieso kaum, einmal bei ihrer Ankunft im Hafen von Port Said auf der vor Menschen überquellenden Tripolitania, als sie in einen Güterzug verfrachtet worden waren, und am Tag nach Pavles Tod, als sie völlig kopflos hatte abreisen wollen, da doch der Krieg zu Ende war und sie irrwitzigerweise glaubte, im Hafen von Suez das nächste Schiff nach Italien nehmen zu können, um mit diesem Ostan-Kind im Arm in Bari direkt in die Via Dieta zu marschieren. Warum sie es nicht getan hatte, fragte sie sich jede Nacht, wenn sie nicht schlafen konnte (meist wegen der weinenden Frau neben ihr, die ihre Kinder im Waisenhaus in Hvar gelassen hatte). Und jede Nacht lautete die klamme Antwort: weil sie fürchtete, dass Nino ein Hallodri war. Und der Nachsatz: weil sie dieser herrischen Zora Del Buono nicht begegnen wollte, obwohl die ihre Rettung hätte sein können, eine Frau von Welt, eine Frau mit Geld.
An jenem Morgen auf dem Weg zum Hafen war sie Josip Hatze begegnet, diesem schönen Menschen, alt zwar, über sechzig, aber sehr agil. Polonca hatte sein scharf geschnittenes Gesicht immer bewundert, sein aristokratisches Gebaren, trotz offenem Hemd und sichtbarem Brusthaar, im Lager wurde viel Haut gezeigt, daran hatte man sich gewöhnt, es galten andere Regeln als zu Hause. An jenem Tag hatte er fremd ausgesehen, förmlich, da im Anzug, mit einer Aktentasche unter dem Arm. Sie hatte nicht gewagt, ihn anzusprechen. Sie kannte ihn aus Split – doch wer tat das nicht? Hatze war der berühmteste El-Shatt-Bewohner (berühmter noch als der berühmte Torwart), ein Komponist, dessen Lieder man in ganz Dalmatien sang und der den Lagerchor leitete, in den sie nicht eingetreten war, zu untalentiert, ihre Stimme zu rau. Der Chor hatte Dutzende Konzerte gegeben, in El Shatt und auf Militärbasen, Konzerte, die übers Radio bis nach Amerika ausgestrahlt wurden. Polonca hatte Hatze nicht ansprechen müssen, er hatte sie angesprochen oder vielmehr: Stana. Eine waschechte Pharaonin, hatte er gesagt und das Kind am Zeh gekitzelt. Ja, hatte Polonca gelacht, so steht es im Dokument: Stana Nina Perić, Place of Birth: Egypt. Ob sie Englisch spreche, hatte er sie gefragt. Nur ein bisschen, hatte sie kokett geantwortet, was man wohl oder übel lernt hier: Administration. Camp commandant. Red cross. Do not touch. Do not smoke. Emigrant. Tent. Und hinzugefügt: Too many tents in El Shatt. Hatze hatte gelacht und auf die vertraute Ödnis gezeigt, die durch die akkurat aufgebauten Zeltreihen noch öder wurde, Monotonie durch Repetition. Alles so geordnet. Wir haben uns daran gewöhnt, obwohl wir es hassen. Was wird uns zu Hause erwarten? Das Chaos? Er hatte Stana in den Bauch gezwickt und war weiter durch den Sand gestapft. Abends hatte sie erfahren, dass er nach Kairo gebracht worden war, um mit den Amerikanern eine Konzerttournee zu besprechen. Wenige Tage später war er nach Split zurückgekehrt, samt seinem Wüstenchor, man wollte als Erstes durch Jugoslawien touren.
Was erwartete sie zu Hause? Wo war ihr Zuhause? Das fragte sie sich immer wieder. Bruder tot, Vater tot, Mutter tot, die Wohnung in Split von den Besatzern verwüstet. Ein Kind von einem Mann, der erst seit einem Monat wusste, dass er Vater geworden war. Falls er den Brief erhalten hatte. Und der sich nicht meldete, obwohl seine Tochter heute ihren ersten Geburtstag feierte. Der überhaupt verschwunden war, auch auf ihre ersten Briefe hatte er nicht geantwortet, Liebesbriefe, die sie geschrieben hatte, nachdem sie in El Shatt angekommen war. Es war so demütigend.
Polonca könnte in Argentinien Lehrerin werden, ihr Vater war Lehrer gewesen. In Argentinien gab es bestimmt Schulbücher, nicht wie hier, wo man Buchstaben in den Sand malte und der Unterricht ganz ohne Material stattfand. Oder (besser noch) sie würde bei einem Couturier arbeiten. Sie war schön, sie hatte Geschmack, sie liebte Stoffe. Sie war ein störrisches Kind gewesen, das sich um sich selber kümmern wollte. Heute war sie eine störrische Frau, die sich um sich selber kümmern würde. Wozu brauchte sie Nino oder seine abscheuliche Schwester, die sich wie seine Mutter benahm? Einen Mann, der damit prahlte, ein Krieger zu sein, sich aber vor seiner älteren Schwester fürchtete? Stana und sie würden mit dem nächstbesten Schiff nach Buenos Aires auswandern: Das war heute der Plan. Morgen würde sie einen anderen haben. Herrje, ihr Wankelmut machte sie selber verrückt.
Zora hatte Polonca an dem schrecklichen Nachmittag nach dem schrecklichen Vormittag zu verstehen gegeben, dass sie ihr nicht viel zutraute. Sie ist ja durchaus intelligent. Aber ob sie etwas draus macht?, hatte Zora zu ihrem Mann gesagt, nicht etwa flüsternd, sondern so laut, dass Polonca es hören musste. Es war allerdings dieser Satz gewesen, der Polonca angetrieben hatte, sich zu melden, als das Zentralkomitee nach Frauen fragte, die des Lesens und Schreibens mächtig waren und sich für befähigt hielten, Flüchtlingskinder zu unterrichten. Ich hab etwas draus gemacht, dachte sie triumphierend.
Nichts trieb ihr so sehr die Schamesröte (oder die Wutröte) ins Gesicht wie die Erinnerung an den Morgen, als Zora Del Buono ungefragt in Ninos Schlafzimmer trat (nicht durch die Haupttür, sondern hintenrum durchs Bad), sie kühl ansah, sich wortlos umdrehte und den Raum verließ, um zwei Minuten später wieder ungefragt das Zimmer zu betreten (diesmal durch die Zimmertür) und sich auf die Bettkante zu setzen, mit hochgezogener Augenbraue (der linken, teuflisch sah das aus) und einer Zeitung in der Hand. Polonca fürchtete im ersten Moment, Zora wolle Nino damit schlagen, aber die sagte nur spitz: In diesem Haus liest man beim Frühstück die Zeitung. Kaffee, die Herrschaften? Nino stotterte dumm und Polonca schwieg. Also Kaffee, sagte Zora und ging. Giacomina brachte verlegen den Kaffee, Nino machte einen (für Polonca unverständlichen) Scherz über Neapel, Giacomina lachte nicht, nur ihre Mundwinkel zuckten nervös.
Es war die vierte Nacht, die Polonca im oberen Stock der Via Dieta verbracht hatte statt im Krankenlager unten, Gott sei Dank nicht die erste. Während der ersten war sie so aufgewühlt gewesen, dass sie gestorben wäre, hätte Zora Del Buono sie im Bett des Bruders erwischt. Nach der vierten war sie souveräner geworden, natürlich hatte sie gemerkt, dass Nino Erfahrung mit Frauen hatte, aber das störte sie kaum, im Gegenteil, ein linkischer Geliebter hätte sie nervös gemacht, so aber konnte sie sich diesem aufregend neuen Spiel der zwei forschenden Körper hingeben und nach den Monaten der Angst verspürte sie eine Leichtigkeit, die all ihre Sorgen herrlich beiseiteschieben half. Sie hörte auf zu denken und fing an zu lieben. Das aber nur kurz. Denn mit Zoras Auftritt war es mit der Liebe vorbei. Danach fing die Zeit der Sehnsucht an. Und später kam das Kind.
Man hätte sie selbstverständlich dabehalten können. Aber das wollte offenbar niemand, wie sie bitter dachte. Man prüfte sie einen Nachmittag lang, unterhielt sich mit ihr, betrachtete und beobachtete sie, verhohlen und unverhohlen, auch Pavle wurde in den Salon gebeten (zur Inquisition, wie er später sagte). Am nächsten Morgen wurden Polonca und Pavle in aller Früh aufs Schiff verfrachtet, wenige Stunden später stachen sie in See, mit eintausend anderen Kroaten. Pavle war bester Dinge, ein neues Abenteuer begann und er tröstete seine Schwester damit, Nino sei sowieso zu alt für sie, schon sechsunddreißig. Leide viele Schmerzen, weil es so schön doch war, sang er übermütig an der Reling und klopfte dabei rhythmisch auf den frisch umwickelten Gips, der immer noch stank, auch die anderen Flüchtlinge sangen erleichtert kroatische Volkslieder, während die Häuserfront des Lungomare kleiner wurde, herrschaftlich und abweisend, dachte Polonca, kalte Stadt. Pavle sang Schmonzetten, um die Partisanenlieder zu übertönen und ihr zu zeigen, dass Liebesleid zu einem freien Leben dazugehörte und Nino nicht das Ziel aller Träume war (einen Moralisten konnte man Pavle wahrlich nicht nennen). Aber Polonca wusste, dass ihr Bruder nur froh war, weg zu sein, dass ihm dieser schwerreiche Kommunistenhaushalt auf die Nerven gegangen war, zu dekadent, der Beweis für das, was er immer schon gedacht hatte: verlogenes Pack allesamt.
Polonca sah den Wasserturm am Horizont, ein metallenes Ungetüm in der Wüste, das die Kinder zum Hochklettern reizte. Sie ging an zwei Zelten vorbei, vor denen Ziergärten angelegt waren, diese sinnlosen Gärten, wie Polonca dachte, wenn sie schlecht gelaunt war, und diese rührenden Gärten, wenn sie guter Dinge war. Heute fand sie sie eher sinnlos. Sie betrachtete die Gießkanne, die früher eine Blechkonserve gewesen war, und trat näher: Die Gravur war noch lesbar, eine Blutwurstdose. Alles hier war zusammengebastelt und alles sah gut aus, sogar diese sorgfältig gelötete Kanne. Der berühmte Fußballer überholte sie trabend, auch so einer, der hängen geblieben war. Beim Volleyballfeld trainierten zwei Mädchengruppen, weiter hinten passten Frauen auf die Kleinsten auf, vier vergnügte Jungen juchzten in einer Schiffchenschaukel mit Piratenflagge am Mast, Lieblingsgerät der Kinder, aus angeschwemmten Fässern aus dem Suezkanal gezimmert, die Werkstätten funktionierten gut. Eine junge Frau schob schwungvoll die Schaukel an, kraftvoll und trotzdem elegant, Polonca kannte sie nicht, sie konnte ja nicht jede kennen hier. Das Camp hatte von Anfang an wie ein Transithotel funktioniert, plötzlich waren neue Menschen da, genauso plötzlich waren sie wieder weg; man wusste nie so recht, ob sie tatsächlich die waren, die sie zu sein vorgaben. Die Schaukelschubserin sah wie eine Partisanin aus den Zeitungen aus, schlank und strahlend, eine edle Person, eine Idealistin, die ganz im Dienste der Sache stand, überdurchschnittlich klug, so stand es in den Artikeln, man stopfte nicht nur die Kinder mit Propaganda voll. Pavle hatte Poloncas Blick dafür geschärft. Jetzt lachte die Schubserin laut. Polonca war sie schlagartig unsympathisch. «Stana, Mäuschen, wir müssen weg von hier», flüsterte Polonca ihrer Tochter zu, die mit den Beinchen strampelte, weil sie auch in die Schiffchenschaukel wollte.
«Polonca Perić!», rief der Kommandant quer über den Spielplatz; er hieß Novak, ein herrischer Typ.
«Ja?», rief sie zurück.
«Telegramm im Postzelt!»
Nino!, dachte Polonca als Erstes. Und dann: endlich.
«Ein Telegramm?»
«Für Stana. Geburtstagswünsche.»
Geburtstagswünsche für eine Einjährige. Polonca war fassungslos.
Sie bemühte sich, nicht zu rennen. Die Schubserin beobachtete sie genau. Dann rannte sie doch. Das Kind wippte in ihren Armen auf und ab.
Sie schlüpfte durch den Schlitz des Postzelts, gleich am Eingang die Wandzeitung, dahinter Tische für die Funker und Schreibkräfte, Frauen tippten Berichte für die Bezirksverwaltung, in den Holzregalen Fächer mit Zeltnummern, darin die Post.
«Ah, Polonca!», sagte eine der Frauen an den Schreibmaschinen, die Stenotypistin des COZ.
«Es ist ein Telegramm für mich gekommen?», fragte Polonca.
«Eins? Grad kam ein zweites. Und ein drittes an den Kommandanten: Das geht auch um dich.» Die Stenotypistin händigte ihr das eine Telegramm aus und fächelte sich mit dem anderen Luft zu. «Der Reihe nach», sagte sie lehrerinnenhaft. Polonca hörte einen gehässigen Unterton heraus. Im Postzelt war es still, kein Tippen mehr. Vier Frauen blickten Polonca an.
Sie las: GLÜCKWUNSCH ZU DEINEM ERSTEN GEBURTSTAG STANA PROF Z UND P DEL BUONO.
Enttäuscht legte sie das Stück Papier auf den Tisch.
Die Stenotypistin fragte: «Hast du etwas anderes erwartet? Wer sind diese Leute?»
Polonca war ihr keine Antwort schuldig. «Gib mir das zweite», sagte sie. Die Stenotypistin zögerte noch, da trat Kommandant Novak ins Zelt und sie streckte ihm ein weiteres Telegramm hin: «Für Sie. Es betrifft Polonca.» Polonca spähte darauf, ein längerer Text. Novak las ihn sorgfältig.
«Anweisung aus der Zentrale in Vis. Frau Perić, Sie packen noch heute. Ich werde Sie morgen an den Hafen begleiten», sagte Novak.
«Gib mir jetzt mein Telegramm», forderte Polonca die Stenotypistin auf. Sie wollte endlich lesen, was Nino geschrieben hatte. Diese unverschämte Frau hielt es in die Höhe und lächelte süffisant: «Glaub mir: Auch Italien wird bald kommunistisch sein. Die wollen da keine Schwestern von Royalisten.»
«Was redest du denn da?», rief Polonca.
«Nun geben Sie es ihr schon», befahl Novak, «und hören Sie auf zu orakeln.»
Auf dem Blatt Papier standen nur zwei Zeilen: ERWARTEN SIE IN BARI SCHIFFSPASSAGE BEZAHLT GUTE REISE PROF Z UND P DEL BUONO.