Diese Geheimniskrämerei machte Fiammetta noch ganz närrisch. Wovon redeten diese Leute überhaupt? Er ist abgetaucht. So viele Geheimnisse in dem Haus. Heimlichkeiten hier, Heimlichkeiten da, pscht, pscht, pscht, die ganze Zeit. Darüber hinaus verstand sie die Bedeutung vieler Sätze nicht. Was meinte ihre Schwiegermutter, wenn sie sagte: Deinen kleinbürgerlichen Wunsch nach körperlicher Anwesenheit solltest du dir abgewöhnen? Warum war dieser Wunsch kleinbürgerlich? War es nicht normal (und romantisch), dass man sich nach seinem Gatten sehnte? Davide und sie waren gerade einmal sechs Wochen verheiratet! Was war so verwerflich daran, zu sagen, sie wünschte, er komme auch zum Essen? Einfach nur zum Essen!, mit der Familie und den Freunden, anstatt immer zu studieren und zu arbeiten. Jetzt saß sie ohne ihn zwischen diesen älteren Herrschaften und beobachtete verstohlen ihre Schwiegermutter, die beleidigt schien. Fiammetta konnte nicht nachvollziehen, warum Zora alles als Affront wertete, sogar wenn eine Speise nicht genau so schmeckte, wie sie es sich vorgestellt hatte, war sie nicht nur wütend auf die Köchin, sondern schien geradezu gekränkt, auf eine körperliche Art und Weise, sie glühte dann und ließ sich kaum besänftigen.
Sie saßen im Salon, es war kurz vor acht, Dämmerung draußen, innen dezentes Licht, hier ein Lämpchen und da eines, das war angenehm, so wurde nicht jede Regung registriert. Man wartete auf die Hauptnachrichten im Radio und darauf, dass Greco zu ihnen stoßen würde (vor dem Fiammetta sich fürchtete, Davides jüngerer Bruder war ein schrecklicher Zyniker), dann ginge es durch die Halle hinüber ins Speisezimmer, das Fiammetta von allen Räumen des Hauses am wenigsten mochte, sie fühlte sich erdrückt darin, vor allem, wenn sie ahnte, dass die Mahlzeiten Stunden dauerten, in den letzten Wochen hatte sie zwei Banketten und einem Spieleabend beigewohnt (es hatte Streitereien gegeben, ob man kurzfristig absagen solle – wegen des Ereignisses! Aber der Professor hatte bestimmt: Gar nichts wird hier abgesagt! Es waren Gäste aus dem Umkreis der Universität gewesen, also seine Gäste). Die stanza blu war lang gezogen und schmal, wirkte daher hoch, fast gotisch. Die dunkelblaue Seide und die schwarze Ebenholzvertäfelung an den Wänden erinnerten Fiammetta an einen Rittersaal. Sie kannte Rittersäle nur aus Büchern, aber in Rittersälen ereigneten sich gelegentlich abscheuliche Morde, manchmal hausten dort auch Gespenster. Fiammetta las gern Romane, die im Mittelalter spielten, düstere Räume gehörten in Bücher, nicht ins echte Leben, fand sie. Das echte Leben sollte hell und sonnig sein, aus Musik und Tanz und Ausflügen ans Meer bestehen. Fiammetta wusste natürlich, warum ihre Schwiegermutter beleidigt war, sie hatte ihr den Sohn weggeschnappt. Und das auch noch heimlich! Sie nippte an ihrem Sherry. Ja, das musste sie zugeben: Auch sie war eine Spezialistin für Heimlichkeiten. Wie sie ihre Hochzeit in Rom geplant hatte, war eine Meisterleistung gewesen, Davide hatte einfach alles mitgemacht, hatte zum verabredeten Zeitpunkt mit einem Köfferchen am Bahnhof gestanden (das allerdings, wie sie bereits im Zug feststellen musste, mit Büchern anstatt mit Kleidung vollgepackt war (du willst doch nicht etwa arbeiten während unserer Hochzeit?!)), hatte mit ihren beiden älteren Schwestern, die in Rom lebten und bei denen sie unterschlüpfen durften, am Vorabend der Trauung gefeiert und es geschafft, sie für sich einzunehmen, indem er ihnen die Mitbringsel, zwei Foulards, die Fiammetta ausgesucht hatte, mit einer diskreten, aber charmanten Bemerkung um die Schultern gelegt hatte (immerhin hatte er selber entscheiden dürfen, welches Stoffmuster zu welcher Schwester passte), war mit ihr durch Juweliergeschäfte gezogen auf der Suche nach passenden Eheringen, die innerhalb eines Tages fertig graviert wären, hatte sie ins Kino eingeladen, um Unter der Sonne von Rom anzuschauen, und war danach mit ihr durchs Kolosseum gestromert, um die Ecke zu finden, in der der kleine Filmheld sein Strohlager aufgeschlagen hatte, Fiammetta hatte erkunden wollen, ob wirklich Kinder im Kolosseum hausten; am Ende hatten Davide und sie statt Stroh eine romantische Nische im Gemäuer entdeckt, in der sie sich küssten und liebkosten und lachten, den Sternenhimmel über sich. Sie seufzte innerlich, riss sich aber zusammen, damit sie nicht auffiel; sich bedeckt zu halten war ratsam. Die anderen saßen ums Radio herum und lauschten konzentriert den Nachrichten, was kompliziert war, weil sie zwei Sender gleichzeitig hören wollten, Don Pietro drehte den Senderknopf von der einen Station zur anderen, immer hin und zurück. Fiammetta wusste, dass man auf eine spezielle Meldung wartete, das ging schon seit Tagen so. Ihr Schwiegervater, ihre Schwiegermutter, Dr. Russo und Colonello Neldo, der ewig selbe Kreis; alle brannten Abend für Abend auf die neuesten Erkenntnisse eines Kriminalfalls, sogar Don Giuseppe, dieser Greis mit dem wilden Haar, schien interessiert, auch wenn er einen arg kurzatmigen Eindruck machte, Fiammetta beäugte ihn besorgt, nicht dass er gleich tot umfiele; sie wüsste nicht, was sie dann tun sollte, aber das würde sie als Arztgattin sicher lernen. Davide konnte ihr zwar sagen, um was für ein Verbrechen es sich handelte (einen Raubmord in Monopoli), aber nicht, warum ausgerechnet dieser Fall alle so interessierte, ach, die sind einfach nur pathologisch neugierig, wiegelte er ab, wenn sie ihn fragte. Sie gehörte seit sechs Wochen zu der Familie, und doch ahnte sie, dass die trennende Wand, die sie von Anfang an zwischen den anderen und sich wahrgenommen hatte, nicht dünner werden würde, sondern in ihren Festen stand. Die Inschrift auf dem Kaminsims Hic murus aeneus esto: nil conscire sibi, nulla pallescere culpa schien ihr von dunkler Bedeutung: Diese Mauern seien dein unbezwingbarer Schutzwall; sei dir keines Unrechts bewusst, erblasse nie in Schuld. Sie wagte nicht zu fragen, warum man sich nicht schuldig fühlen sollte, auch wenn man schuldig war, vielleicht hatte sie es auch nur falsch übersetzt? Nur das mit der Mauer, das erklärte sich ihr ganz genau: Ihre Schwiegermutter betrachtete ihr massiges, abweisendes Haus als ihren Schutzwall, und sie, Fiammetta, hatte ihn durchbrochen. Dafür wurde sie mit Nichtachtung gestraft. Zora hatte ihr zwar nach der heimlichen Hochzeit einen Goldarmreif geschenkt, den sie bei den Abendessen trug, der ihr aber nicht gefiel. Er war zu geometrisch für ihren Geschmack, in geradezu militärischen Reihen angeordnete Edelsteine, das sprach für Zoras Kälte und ihre Obsession für Soldatenspiele (Davide hatte ihr von den Schlachten am Isonzo erzählt, die er als Kind mit Zinnsoldaten hatte nachstellen müssen), dabei hätte es einen ähnlichen Armreif mit verspieltem Blumenmuster gegeben, Fiammetta hatte die Schaufensterauslage des Goldschmieds in der Via Sparano studiert. Jedes Mal, wenn sie das Haus betrat, das fortan ihr Zuhause sein sollte (Davide und sie bewohnten ein geräumiges Zimmer mit Ankleideraum und Bad in der oberen Etage), zuckte sie beim Betrachten der Inschrift zusammen, die neben dem Klinikeingang in die Fassade gemeißelt war: prof. del buono stand da zu lesen. Warum nur Kleinbuchstaben?, war die allererste Frage gewesen, die sie ihrer Schwiegermutter gestellt hatte, nachdem Davide und sie aus Rom zurückgekehrt waren, wobei er beklommen gesagt hatte: Jetzt geht’s in die Höhle der Löwin. Fiammetta hatte nur höflich Konversation machen wollen und die Frage mit den Kleinbuchstaben war ganz unverfänglich gewesen. Ein Bekenntnis zur Moderne, hatte ihre Schwiegermutter mokant zurückgegeben, du kennst wohl Adolf Loos nicht? Woher sollte sie den kennen? Sie machte eine Ausbildung zur pharmazeutischen Chemikerin. Und dieser Loos war sicher kein Chemiker. Immerhin erlernte sie einen Beruf! Im Gegensatz zu ihrer Schwiegermutter, die nichts studiert hatte und nur über eine Familie herrschte – und offenbar in ein Verbrechen verstrickt war.
«Sie hat sich das Leben genommen!»
«Aus dem Fenster gestürzt!»
«Das arme Mädchen!»
Fiammetta war so in Gedanken gewesen, dass sie die Nachrichten verpasst hatte. Was war da los?
«Mit zweiundzwanzig!»
«Was für eine Schande.»
«Es ist alles meine Schuld.»
«Unsinn.»
«Aber die Tokarew.»
«Pscht, pscht! Nicht so laut.»
«Das wird auf uns zurückfallen.»
«Ach was. Niemals.»
«Das Autokennzeichen! Wenn ihn einer gesehen hat!»
«Ich erwürge ihn! Diesen Bastard.»
Betretene Stille. Alle Blicke wanderten zu Zora.
«Sie haben den falschen verhaftet.»
«Einen unschuldigen Herrenschneider.»
«Alles meine Schuld.»
«Was machen wir denn nur?»
«Pscht, pscht.»
«Lass uns von etwas anderem reden, solange sie dabei ist.»
Zora wies auf Fiammetta, die sich verunsichert in ihren Sessel drückte und weiter am Sherry nippte. Sollte sie aufstehen und sich zurückziehen? War es das, was man von ihr erwartete?
«Wie geht es denn der kleinen Zorina? Wächst und gedeiht sie?», fragte Don Giuseppe und lenkte das Gespräch in eine andere Richtung, ganz der souveräne Wortführer.
Dr. Russo lächelte. Sein Töchterchen Zora war ein halbes Jahr alt. «Wir bringen sie bald einmal mit. Sie ist quietschfidel und sehr … nun … willensstark. Vor allem in den frühen Morgenstunden.»
«Da macht sie ihrer Namensgeberin ja alle Ehre», sagte Don Pietro. Allgemeines Gelächter, ein Moment der Erleichterung. Das heikle Thema war abgewendet. Auch Fiammetta entspannte sich wieder. Vielleicht blieb sie doch einfach sitzen. Sie beugte sich vor, ihr Gesicht spiegelte sich in dem Glastisch. Sogar in dem opalfarbenen Glas war der Fleck in ihrer rechten Iris zu erkennen, ein großer, dunkler Punkt unterhalb der Pupille, als ob da eine zweite Pupille säße. Sie fiel in Bari sowieso auf mit ihren mausgrauen Augen, aber dieser braune Fleck irritierte die Leute, man starrte ihr unverhohlen ins Gesicht, auch ihre Schwiegermutter hatte sich eine Bemerkung nicht sparen können: Ein Argusmädchen hast du uns ins Haus gebracht.
«Gibt’s was Neues von unserem tschechischen Straßenbauer?»
«Er beklagt sich.»
«Worüber? Kein Tennisplatz in den Westkarpaten?»
Wieder Gelächter. Wenn Manfredi wüsste, wie man über ihn spottete, dachte Fiammetta. Aber wahrscheinlich würde er sogar mitlachen, er war der unkomplizierteste der drei Brüder, war frohsinnig und zuversichtlich, anders als der ewig mit sich hadernde Davide oder der querulantische Greco.
«Über den Tonfall der Genossen. Zu militaristisch.»
Eine gewisse Schärfe in Zoras Stimme. Über ihre Söhne spottete man besser nicht. «Und vor allem: prosowjetisch», ergänzte sie.
«Wird er früher heimkommen?»
«Selbstverständlich nicht!» Zora war empört.
«Und was ist mit seinem Mädchen? Dieser …», fragte Dr. Russo.
«Agata? Die vergisst er hoffentlich beim Straßenteeren. Nicht dass mir der Nächste auf die Idee einer verfrühten Ehe kommt. Ein weiteres Mal werde ich so etwas nicht durchgehen lassen. Das war plemplem.»
«Zora, bitte!»
«Was? Man muss der Realität ins Auge sehen. Das ist im Leben das Wichtigste. Probleme kann lösen, wer sie klar erkennt. Also immer der Realität schön ins Auge sehen. Alles andere ist Geschwätz. Bemäntelung. Augenwischerei.»
Fiammetta schluckte. Hier wurde geredet, als ob sie nicht anwesend sei. Was erlaubte diese alte Hexe sich! Die wusste bestimmt nichts von der Liebe. Sie hingegen liebte ihren Davide von ganzem Herzen. Sie war einundzwanzig und wusste: Diese Liebe würde ewig gelten. Hexe, dachte sie, Hexe, Hexe, Hexe. Dann erschrak sie über ihre eigene Wut. Zora beäugte sie, forschend, kritisch. Fiammetta atmete tief ein und versuchte ebenso kritisch zurückzublicken. Diesen Kampf würde sie aufnehmen, sie würde nicht klein beigeben. Dann schlug sie doch die Augen nieder und spielte an ihrem Armreif herum, diesem hässlichen Stück. Den würde sie nie wieder tragen. Nie wieder! Und sie würde sich auch nicht vertreiben lassen, anders als Polonca, die Kroatin, bis nach Amerika war die mit ihrem Nino und der Tochter geflüchtet, um dem Ostan’schen Regiment zu entkommen (so nannte Fiammetta die Kontrollwut ihrer Schwiegermutter), Zora hatte ja damals Poloncas Briefe aus der Wüste geöffnet und gelesen, und bestimmt hatte sie auch Poloncas Schränke durchwühlt, so wie sie das bei ihren machte, man musste aufpassen wie ein Luchs, plötzlich stand sie scheinheilig im Raum, sogar frühmorgens trat sie ins Zimmer mit Kaffeetassen auf dem Tablett, das tut sie, um uns zu stören!, erboste Fiammetta sich und wollte Davides Beschwichtigung, nein, das tut sie, damit wir Kaffee am Bett trinken können, nicht gelten lassen. Was ihr Mann sich von seiner Mutter alles gefallen ließ, die klopfte nicht einmal an die Tür, bevor sie eintrat, höchstens so ein halbherziges Trommeln mit den Fingerspitzen, damit man ihr nicht vorwerfen konnte, nicht geklopft zu haben. Fiammetta war jeden Morgen übel vor Sorge, dass die Schwiegermutter sie an ihren Mann angeschmiegt finden könnte, kurz vor halb sieben rückte sie von ihm ab, während er ruhig weiterschlief, und lag dann mit Herzklopfen und bis unter die Nase hochgezogener Decke auf dem Rücken am Rand des Bettes, jeden Morgen, und wenn sie sich liebten, taten sie das so lautlos wie in einem Stummfilm, das war doch furchtbar und bestimmt ungesund! Sie wollte keinesfalls zu einer dieser Frauen werden, die an krankhaftem Nervenflattern litten. Wenn sie an vorletzten Samstag dachte, wurde sie ganz nervös. Davide und sie waren mit ein paar Freunden am Meer gewesen, Davide war plötzlich in den Sinn gekommen, dass er noch einmal ins Institut müsse, er hatte gesagt, er hole sie um fünf Uhr wieder ab, und sie war gut gelaunt am Strand unter dem Sonnenschirm geblieben, bis dann ein Gewitter vom Meer über sie hinweggezogen war und die Freunde sie im Auto mit nach Bari zurückgenommen hatten, was zu einem solchen Donnerwetter geführt hatte, dass das echte Gewitter gar nicht hatte mithalten können, ihre Schwiegermutter hatte ihr vorgeworfen, ohne ihren Mann zu fremden Leuten ins Auto zu steigen, sei beschämend, sie hätte am Meer bleiben müssen und warten, was doch lachhaft war, sie allein neben all den eingeklappten Sonnenschirmen, sie war keine unehrenhafte Frau, wie Zora ihr an den Kopf geworfen hatte. Da hatte sie gedacht, dass sie dieses Leben auf Dauer nie und nimmer aushalten würde. Wenn Zora etwas sagte, galt das. Zora war das Gesetz. Das hatte sie zu spüren bekommen. Aber natürlich hatte ihre Ehe auch Vorteile, man war bedacht, dass sie anständig aussah, und kleidete sie ein. Bald würde sie nach Rom fahren, um auserlesene Stiefel zu kaufen und den Zahnarzt aufzusuchen. Das waren die Dinge, um die sie die reichen Mädchen immer beneidet hatte: Für Wichtiges reiste man nach Rom. Aber sie war ja gerade in Rom gewesen, herrliche Stadt. Sie betrachtete ihren Ehering, dachte an den vorwitzigen Standesbeamten, der ihnen nicht nur viel Glück, sondern auch starke Nerven gewünscht hatte, und lächelte. Vielleicht sollte sie Davide zu überreden versuchen, nach Rom zu ziehen? Aber wie sie schon festgestellt hatte: Davide entschied nichts selber (außer ihrer Heirat; und ebendieser Akt des Widerstands war so empörend gewesen, dass sie jetzt dafür büßen musste; bluten muss ich, dachte sie, bluten). Neulich hatte sie ihre Schwiegereltern darüber sprechen hören, dass Davide seine Habilitation in Deutschland machen solle, in Mainz. Ob das Leben in Deutschland mit einem Baby für sie schön wäre? Denn dass sie bald ein Baby bekommen würde, stand außer Frage. Aber sie würde ihre Familie sehr vermissen, ihre Mutter, ihre vier Schwestern! Dass sie hier in ein reines Männernest gefallen war, das unter der Kontrolle einer Despotin stand, hatte sie nicht bedacht. Bei ihnen war es fröhlich und laut und farbig zugegangen (all die Lippenstifte!), hier wurde nur studiert und gelesen und vor allem: politisiert. Die Gespräche über Politik waren aber auch zu öde. Der Krieg war doch längst vorbei und kein neuer in Sicht. Immer diese Streitereien darüber, ob Togliatti mit der Amnestie der Faschisten einen Fehler gemacht hatte, und dann die stundenlangen Schwadronaden über Stalin und Tito, was der Bruch zwischen den beiden bedeutete und ob Albanien der Auslöser für den Rauswurf Jugoslawiens aus der Kominform gewesen war oder nicht doch Stalins Eitelkeit, weil Tito in den kommunistischen Bruderländern mehr gefeiert wurde als er, und ob Stalin zum Wirtschaftsboykott aufrufen würde und was das für den Kommunismus und für Tito persönlich bedeutete, das schien immer das Wichtigste: Was bedeutete das für Tito höchstpersönlich. Jetzt sprachen sie über Israel, das waren ihre Themen: Russland, Jugoslawien, Israel. Fiammetta dachte, dass dieses Fräulein Dr. Bloch, das Anfang des Jahres bei einem Attentat ums Leben gekommen war und über das öfter gesprochen wurde, beeindruckend gewesen sein musste, sie mochte sie allein schon deshalb, weil sie ihrer Schwiegermutter etwas voraus gehabt hatte, was diese bestimmt insgeheim wurmte: ein Leben mit Arbeit. Fiammetta wollte auch arbeiten, noch ein halbes Jahr und dann wäre ihre Ausbildung zu Ende. Sie würde in Mainz in einem chemischen Labor eine Anstellung finden. Aber wie sollte sie das mit dem Kind bewerkstelligen? Sie spielte alle Möglichkeiten durch. Sie spielte gern Möglichkeiten durch, auch wirklichkeitsferne, von all ihren Schwestern war sie immer die mit der blühendsten Fantasie gewesen, die Träumerin. Vielleicht sollten Davide und sie es doch Polonca und Nino gleichtun? Sie könnte Polonca einen Brief nach Amerika schreiben … Sie wollte nicht vertrieben werden, aber aus eigener Kraft woanders hingehen, das würde sie sofort. Amerika: Das war ein Ziel. Ein warmer Schauer durchzog sie. Amerika wäre exzellent für Davides Karriere. Wenn sie daran dachte, wie oft Don Pietro darüber sprach, dass er nächstes Jahr zum Radiologenkongress in Washington reisen würde, dass die führenden Forscher dort aufeinander träfen und auch sein alter Freund Dr. Adelsberger teilnähme, der zwar alles andere als ein führender Forscher sei. Ein Genussspecht, hatte Zora gespöttelt, der Kongresse besucht, um gut zu essen und wahrscheinlich Bordelle zu frequentieren, wie alle Männer, wenn sie reisen. Colonello Neldo und Dr. Russo hatten gelacht und abgewinkt, und Don Pietro hatte sie zu beschwichtigen versucht, aber Zora hatte genüsslich den Klatsch ausgebreitet, den Skandal, der erst kürzlich aufgeflogen war, dass Adelsbergers verstorbener Vater ein Doppelleben geführt habe, einerseits biederer Handelsvertreter in München, andrerseits eine Zweitfamilie in Venedig. Und das Beste daran: Die Zweitfrau war die Tochter eines Casinobesitzers! In Venedig! Ahnte nicht, dass ihr Gatte noch eine Familie in München hatte! Lauter Kinderchen überall. Und Adelsbergers Vater hat das Casino geerbt! Stellt euch das vor! Lügen rundum. Das Interessante ist: Der gute Adelsberger hatte immer eine Aversion gegen Glücksspiele, ohne zu wissen, warum. Ich sage euch, dem fließt das Schlawinertum im Blut.
Fiammetta dachte über Polonca nach, eigentlich eine eingeheiratete Tante dritten Grades, kaum älter als sie, sie war ihr ein einziges Mal begegnet, im Sommer letzten Jahres, als ihr Verhältnis mit Davide noch ein heimliches gewesen war, bei Donelli, dem Eisverkäufer am Lungomare. Polonca hatte mit kroatischen Freundinnen da gesessen (es gab immer noch Kroaten in der Stadt, die nicht ins kommunistische Jugoslawien zurückkehren wollten), einen Turm bunter Eiskugeln mit Schlagobers vor sich, Polonca konnte sich das erlauben, hatte Fiammetta neidisch gedacht, sie selber neigte zur Fülle; gebärfreudiges Becken, hatte Zora mit hochgezogener Braue konstatiert, als sie gemeinsam beim Schneider gewesen waren und Fiammetta plötzlich im Unterrock vor ihr stand, weil ihre Schwiegermutter den Vorhang zur Umkleidegarderobe aufgezogen hatte, um ihre Figur zu begutachten. Gebärfreudiges Becken …, als ob Zora nicht selbst zur Fülle neigte, jetzt hatte sie gerade nach dem Dienstmädchen geklingelt, etwas zum Schnabulieren wollte sie haben, sie war sichtlich verärgert, dass Greco noch immer nicht aufgetaucht war. Fiammetta nahm Greco diese Verzögerung ebenfalls übel, wie lange sollte man denn noch hier ausharren, das Abendessen würde sich so bis in die Nacht hineinziehen, ausgerechnet heute, wo Davide spät nach Hause käme. Greco liebte Provokationen, neulich abends hatte er ihr in aller Lautstärke erklärt, seinen Eltern läge das Wohlergehen armer Sarden mehr am Herzen als seines, der neuerdings an Vertigo litte, er spielte auf den Sarden Gramsci an, wie Davide ihr später erklärte, der allerdings fand, Greco spiele sich zu sehr in den Vordergrund, und sogar bitter bemerkte, er dürfe sich solch freche Aussagen nicht gestatten. Es schien, als habe Greco so viel Narrenfreiheit wie niemand sonst. Einmal hatte er, ohne die Stimme zu senken, zu Fiammetta gesagt: Unsere Mutter … immer alles ex cathedra. Fiammetta tat seit Wochen nichts anderes, als diese Familie verstehen zu lernen. Wer sich wem gegenüber was erlauben durfte etwa. Und sie kam immer wieder zum Schluss: Davide durfte sich am wenigsten erlauben, abgesehen von den Hausmädchen natürlich, die mussten einfach funktionieren. Eine war so schüchtern, dass sie nach dem Auftischen verschämt knickste und mit hochrotem Kopf flüsterte: Signori e signore, das Essen ist angerichtet, und dann aus dem Raum floh, fast rennend, woraufhin Zora jedes Mal seufzte: Herrgott, wann beruhigt sie sich endlich? Ich kann dieses genierliche Getue nicht ausstehen, warum ist die so zaghaft? Auch wenn sie dachte, dass Zora von der Liebe nichts verstand, sah Fiammetta durchaus, dass ihre Schwiegereltern einander mochten und respektierten, Don Pietro war zwar reserviert, aber erfolgreich, was seiner Frau offensichtlich gefiel, er schritt schon so gewichtig, die Hände im Hosenbund, so sizilianisch.
Herrje, jetzt ging es schon wieder um diesen Raubmord. Fiammetta seufzte, sie gehörte nicht zu den Frauen, die ihre Nase in anderer Leute Dinge steckten, manchmal dachte sie, sie sei die Einzige, der Klatsch gleichgültig war. Wenn sie sich mit Dingen beschäftigen wollte, die sie nicht selbst betrafen, las sie Romane. Um in dieser Familie ihre Stellung zu stärken, würde sie allerdings genau hinhorchen müssen. Sie musste wissen, was vor sich ging, mit wem sie sich verbünden konnte, wer ihr den Rücken stärkte und wer nicht. Don Giuseppe schien ihr am wohlgesinntesten. Und vielleicht Dr. Russos Frau, die könnte zu einer Freundin oder zumindest zu einer Beraterin werden. Frau Russo war Triestinerin mit slowenischen Ahnen, daher war Zora ihr gegenüber aufgeschlossener als anderen Frauen – und weil die Russo ihre Tochter nach ihr benannt hatte, das schmeichelte der alten Kuh, dachte Fiammetta. Sie sollte sich gut stellen mit der Russo, bedauerlich, dass sie heute nicht dabei war. Ja, sie musste Strategien entwickeln, zunächst, um in dieser torre chiusa, diesem geschlossenen Turm, wie sie das Haus nannte, zu überleben, und dann, um daraus auszubrechen.
Sie hörte Schritte in der Halle. Greco trat lächelnd in den Salon. Eine Art süditalienischer Westernheld, immer schnodderig nonchalant.
«Abendpost!», rief er und wedelte mit einem Brief.
«Endlich», sagte Zora, ohne auf die Post einzugehen, «wir haben dich längst erwartet.»
«Entschuldigen Sie, Mama», sagte Greco und blickte in die Runde, «wer möchte den Brief öffnen? Interessanter Absender.» Bedeutungsvolles Zwinkern, süffisantes Lächeln.
«Nicht von uns, hoffe ich», warf Colonello Neldo ein.
«Neldo! Beschwör bloß nichts herauf! Post von der Polizei, und das zum jetzigen Zeitpunkt!», sagte Pietro und Zora warf ein: «Der liebe Neldo würde uns vor Polizeiübergriffen schützen, nicht wahr? Du möchtest doch weiterhin den Grabplatz im Familiengrab haben, nicht wahr?»
Neldo lachte peinlich berührt.
Fiammetta war verblüfft. Was sprachen diese Leute über Grabplätze? Ihr graute. Womöglich musste sie dereinst auch zu Zora in die Gruft.
«Nein, nein, keine Polizei, keine Sorge. Aber genauso interessant», schaltete sich Greco ein und reichte den Brief seinem Vater: «Ist an Sie adressiert, Papa.»
Pietro warf einen Blick auf den Absender: «Von der Partei?!»
«Nun öffne schon.» Zora war ungeduldig, wie immer.
Pietro ging drei Schritte zum Regal, griff nach dem Brieföffner und schlitzte das Couvert auf, entnahm das einseitige Schreiben und begann zu lesen. Fiammetta konnte sehen, wie er erblasste. Es wurde still. Alle hielten ihre Gläser in der Hand und warteten, dass Don Pietro etwas sagte.
Der schaute schließlich fassungslos Dr. Russo an: «Sie bezichtigen uns der Zersetzung der Partei.»
«Wen uns?»
«Dich und mich.»
«Zersetzung der Partei?!»
Dr. Russo und Zora standen auf und traten neben Pietro, Russo links, Zora rechts, drei Köpfe neben der Stehlampe über das Papier gebeugt, sie lasen erst stumm, dann kopfschüttelnd, schließlich schnaubte Zora und Pietro hustete. Fiammetta fragte sich, wer zuerst explodieren würde.
«Was steht denn nun drin?», wollte Neldo wissen.
«Sie werfen uns raus!», rief Zora erregt.
«Was?», Greco schien irritiert, «Aus der Partei? Das ist unmöglich!»
Ach, dachte Fiammetta, auch der Herr Gleichmut war zu erschüttern, obwohl der, im Gegensatz zu Davide und Manfredi, gar nicht in der Partei war, Davide wäre schockiert, wenn er nach Hause käme. Und Manfredi erst recht. Schleppte Steine in der Tschechoslowakei und dann so etwas.
Don Pietro reichte den Brief an Dr. Russo weiter und steckte sich eine Zigarette an, wahrscheinlich zitterten seine Hände, es war zu düster, um es genau zu erkennen.
Dr. Russo las vor: «Die Politische Exekutive des Kommunistischen Bundes von Bari hat bei ihrer letzten Zusammenkunft auf Grundlage der von der Bundeskommission beauftragten und von den Genossen Pastore und Assennato vorgenommenen Untersuchung gegen Prof. Pietro Del Buono und Dr. Sergio Russo einstimmig beschlossen, die beiden wegen ‹politischer Unwürdigkeit› aus dem P. C. I. auszuschließen. Diese schwerwiegende Maßnahme, mit der die Föderation Prof. Del Buono und Dr. Russo bestraft, war angesichts der störenden Umtriebe, die sie seit Langem gegen die politische Einheit des P. C. I. geführt haben, notwendig. Und ich persönlich halte in der Tat fest, dass in der Kommunistischen Partei nur Platz für diejenigen ist, die in völliger Freiheit, aber diszipliniert, zur Umsetzung der politischen Linie beitragen. Prof. Del Buono und Dr. Russo wandten nicht nur die Politik der Partei nicht an, sondern arbeiteten beständig daran, diese zu neutralisieren, um die Zersetzung in den Reihen der Partei herbeizuführen.
Il Segretario Domenico Giufolo».
«Das wird einen Aufruhr geben in der Stadt!»
«All die Gerüchte, warum das passiert ist!»
«Sie denken, wir seien Titoisten.»
«Das seid ihr doch auch.»
«Ich nicht», widersprach Dr. Russo.
«Ob es etwas mit dem EREIGNIS zu tun hat?»
«Auf keinen Fall!»
«Sie hassen die Intellektuellen, das ist es.»
«Und die Vermögenden.»
«Jahrelang haben wir uns für die braccaianti eingesetzt.»
«Sicher, aber welcher Tagelöhner hat etwas zu melden in der Partei?»
Fiammetta war sprachlos. Hier fiel gerade alles in sich zusammen. Und sie war Zeugin der größtmöglichen Demütigung dieser Familie.
«Danken sollten sie uns, anstatt uns zu erniedrigen! Auf den Knien herumrutschen sollten sie aus lauter Dankbarkeit! Was, wenn wir reden? Wie sollen sie es ohne uns schaffen? Diese dilettantischen Dummköpfe! Diese Bastarde! Diese Kleinbürger! DIESE STALINISTEN!»
Fiammetta hatte ihre Schwiegermutter noch nie so wütend gesehen.