Wenn ich doch an irgendeinem Punkt
der französischen Geschichte eine
Spur von mir fände!
Aber nein, nichts.
Rimbaud
Der Dickste von den dreien ist mein Vater. Murraille neigt sich zu ihm herüber, als wollte er ihm leise etwas sagen. Marcheret, der ein Lächeln andeutet, steht mit leicht vorgewölbter Brust, die Hände an den Revers des Jacketts, im Hintergrund. Weder die Farbe ihrer Anzüge noch die ihrer Haare läßt sich genau erkennen. Es scheint, daß Marcheret einen sehr weit geschnittenen Kammgarnanzug trägt und daß er eher blond ist. Auffällig der lebhafte Blick von Murraille und der besorgte Blick meines Vaters. Murraille scheint lang und dünn zu sein. Aber der untere Teil seines Gesichts ist gedunsen. An meinem Vater ist alles schlaff, bis auf die Augen, die fast aus den Höhlen treten.
Holztäfelung und ein gemauerter Kamin: Man befindet sich in der Bar der »Auberge du Clos-Foucré«. Nicht zu vergessen die Zigarette, die zwischen Murrailles Lippen hängt. Mein Vater hält seine Zigarette zwischen Ringfinger und kleinem Finger. Eine müde, affektierte Geste. Am äußersten Ende des Raumes eine weibliche Gestalt: Maud Gallas, die Geschäftsführerin vom »Clos-Foucré«. Die Sessel, in denen Murraille und mein Vater sitzen, sind bestimmt aus Leder. Da ist ein vager Reflex auf der Rückenlehne, genau unterhalb der Stelle, wo sich Murrailles linke Hand festklammert. Sein Arm liegt um den Nacken meines Vaters in einer Haltung, die etwas Beschützendes haben könnte. An seinem Handgelenk protzt eine teure Uhr mit rechteckigem Zifferblatt. Marcherets athletische Gestalt verdeckt zur Hälfte Maud Gallas und die Reihen der Apéritifs. An der Wand hinter der Bar entdeckt man, ohne daß es besonderer Anstrengung bedürfte, einen Wandkalender. Sauber abgerissen unter dem Vierzehnten. Unmöglich, den Monat oder das Jahr zu erkennen. Wenn man jedoch diese drei Männer und die weiche Silhouette von Maud Gallas genauer betrachtet, wird man annehmen, daß die Szene in sehr ferner Vergangenheit spielt.
Ein altes, zufällig auf dem Grunde einer Schublade entdecktes Foto, von dem man vorsichtig den Staub abwischt. Der Abend bricht an. Die gespenstischen Gestalten sind, wie gewohnt, in der Bar des »Clos-Foucré« eingekehrt. Marcheret hat sich auf einem Barhocker niedergelassen. Die beiden anderen haben die Sessel genommen, die vor dem Kamin stehen. Sie haben Cocktails bestellt, ein widerliches, sinnloses Gemisch, das Maud Gallas hergestellt hat, unterstützt von Marcheret, der ihr zweifelhafte Komplimente macht, indem er sie »meine dicke Maud« oder »meine Tonkinesin« nennt. Sie scheint darüber nicht entrüstet, und, als Marcheret eine Hand in ihren Ausschnitt schiebt und eine Brust tätschelt – was bei ihm jedesmal eine Art von Wiehern hervorruft –, bleibt sie völlig ungerührt, mit einem Lächeln, bei dem man sich fragt, ob es Verachtung oder heimliches Einverständnis ausdrückt. Sie ist eine Frau um die Vierzig, blond und üppig, mit einer tiefen Stimme. Die strahlenden Augen – sind sie nachtblau oder malvenfarben? – überraschen in diesem recht gewöhnlichen Gesicht. Welchen Beruf übte Maud Gallas aus, bevor sie die Leitung dieses Lokals übernahm? Wahrscheinlich denselben, aber in Paris. Sie und Marcheret spielen häufig auf Beaulieu an, ein Nachtlokal im Quartier des Ternes, das seit zwanzig Jahren geschlossen ist. Sie sprechen davon mit leiser Stimme, wie von einem Kind, das gestorben ist. Animierdame? Ehemalige Varietékünstlerin? Marcheret kennt sie zweifellos schon lange. Sie nennt ihn Guy. Während sie beim Bereiten der Apéritifs kleine unterdrückte Lacher ausstoßen, tritt Grève ein, der Oberkellner, und fragt Marcheret: »Was möchte der Herr Graf speisen?« Worauf Marcheret unweigerlich antwortet: »Der Herr Graf wird Scheiße essen«, und er schiebt das Kinn vor, kneift die Augen zusammen und verzieht gelangweilt und angeekelt sein Gesicht. Dann läßt mein Vater regelmäßig ein kleines beifälliges Lachen hören, um Marcheret zu zeigen, daß er diese Replik genießt und daß er ihn, Marcheret, für den geistreichsten Mann der Welt hält. Der ist von der Wirkung, die er auf meinen Vater hat, entzückt und ruft ihm zu: »Hab ich nicht recht, Chalva?« Und mein Vater pflichtet ihm hastig bei: »Oh, natürlich, Guy!« Murraille bleibt von diesem Humor ungerührt. An dem Abend, da Marcheret, mehr in Form als gewöhnlich, den Rock von Maud Gallas hochhebt und erklärt: »Das, das nenne ich mir einen Schenkel!«, nimmt Murraille einen spitzen weltmännischen Ton an: »Entschuldigen Sie ihn, teure Freundin. Er glaubt sich noch immer in der Fremdenlegion.« (Diese Bemerkung wirft ein neues Licht auf die Persönlichkeit von Marcheret.) Murraille seinerseits befleißigt sich feiner Manieren. Er drückt sich gewählt aus, moduliert den Tonfall seiner Stimme, um sie möglichst geschmeidig klingen zu lassen, und entwickelt nahezu parlamentarische Beredsamkeit. Er begleitet seine Worte mit ausladenden Handbewegungen, versäumt nicht, Kinn und Brauen effektvoll einzusetzen, und die Bewegung seiner Finger erinnert an einen sich entfaltenden Fächer. Er kleidet sich sehr gewählt: englische Stoffe, Hemden und Krawatten in sorgfältig aufeinander abgestimmten Grautönen. Warum dann noch dieses aufdringliche Parfum de Chypre, das ihn umschwebt? Und dieser Siegelring aus Platin? Man betrachtet ihn von neuem: die Stirn ist hoch, und die hellen Augen haben einen munteren, freimütigen Ausdruck. Aber weiter unten läßt die im Mundwinkel hängende Zigarette seine Lippen noch weichlicher erscheinen. Die kraftvolle Struktur des Gesichts zerbröckelt im Bereich der Kiefer. Das Kinn weicht zurück. Hören wir zu: Seine Stimme wird hin und wieder brüchig. Einige vulgäre Worte platzen hervor gleich den Fürzen eines derben Schankwirts. Am Ende fragt man sich beunruhigt, ob er nicht aus dem gleichen groben Stoff gemacht ist wie Marcheret.
Dieser Eindruck bestätigt sich noch, wenn man die beiden gegen Ende der Mahlzeit betrachtet. Sie sitzen nebeneinander, meinem Vater gegenüber, von dem man nur den Nacken sieht. Marcheret spricht sehr laut mit schallender Stimme. Das Blut steigt ihm in die Wangen. Murraille hebt ebenfalls die Stimme, und sein schrilles Lachen überdeckt Marcherets eher gutturales Gelächter. Sie zwinkern sich zu und klopfen einander kräftig auf die Schulter. Eine Komplizenschaft bildet sich zwischen ihnen, ohne daß sich ein Grund dafür erkennen ließe. Man müßte an ihrem Tisch sitzen und ihr ganzes Gerede mitanhören. Von weitem dringen nur ein paar Gesprächsfetzen zu uns herüber, wirr und unzusammenhängend. Jetzt stecken sie geheimnisvoll die Köpfe zusammen, und ihr Gekicher verliert sich in diesem großen menschenleeren Speisesaal. Eine bleischwere Spannung senkt sich über die Tische, die Täfelung, den normannischen Schrank, die Köpfe von Hirschen und Rehböcken, die an der Wand hängen. Ein grelles Licht liegt über dem Saal wie eine Watteschicht und erstickt den Ton ihrer Stimmen. Kein einziger Schatten, außer dem Rücken meines Vaters. Man fragt sich, warum dieses grelle Licht ihn ausspart. Indessen tritt sein Nacken ganz klar unter dem Licht der Hängelampe hervor, und man entdeckt sogar eine kleine rosa Narbe in der Mitte. Dieser Nacken ist derart geneigt, daß er sich einem unsichtbaren Fallbeil darzubieten scheint. Mein Vater trinkt jedes Wort aus ihrem Munde. Er nähert seinen Kopf bis auf wenige Zentimeter dem ihren. Es fehlt nicht viel, und er würde mit seiner Stirn gegen die von Murraille oder Marcherets stoßen. Wenn das Gesicht meines Vaters dem Marcherets etwas zu nahe kommt, packt dieser mit Daumen und Zeigefinger seine Wange und dreht sie mit sanfter Gewalt ein wenig herum. Mein Vater rückt sogleich etwas ab, aber Marcheret läßt nicht los. So hält er ihn einige Minuten lang, und der Druck seiner Finger nimmt noch zu. Offenbar spürt mein Vater einen lebhaften Schmerz. Schließlich bleibt ihm davon ein rotes Mal auf der Wange. Er legt ängstlich die Hand darüber. Marcheret sagt zu ihm: »Das wird dich lehren, Chalva, nicht zu neugierig zu sein …« Und mein Vater: »O ja, Guy … Du hast recht, Guy …« Er lächelt.
Grève bringt die Liköre. Seine Haltung und seine zeremoniellen Bewegungen kontrastieren mit der Lässigkeit der drei Männer und der Frau. Murraille, das Kinn auf die Hand gestützt, mit stumpfem Blick, macht den Eindruck totaler Erschöpfung. Marcheret hat den Knoten seiner Krawatte gelockert und stützt sich mit seinem ganzen Gewicht auf die Rückenlehne seines Stuhls, so daß dieser sich nur noch auf zwei Beinen im Gleichgewicht hält. Man fürchtet, er könnte jeden Augenblick umkippen. Mein Vater neigt sich so zudringlich vor, daß er mit der Brust fast den Tisch berührt. Ein kleiner Schubs genügte, und er würde über die Teller fallen. Die wenigen Worte, die man jetzt noch vernimmt, werden von Marcheret mit belegter Stimme gesprochen. Im nächsten Moment gibt er nur noch Verdauungsgeräusche von sich. Liegt es an dem allzu üppigen Mahl (sie bestellen immer Gerichte mit Saucen und verschiedene Sorten Wild) oder an dem übermäßigen Genuß der Getränke (Marcheret bestellt stets schwere Burgunderweine aus der Vorkriegszeit), daß sie so abstumpfen? Grève, hinter ihnen, hält sich sehr aufrecht. Wie beiläufig sagt er zu Marcheret: »Wünschen der Herr Graf noch ein zweites Glas Likör?«, wobei er auf jede Silbe von »der Herr Graf« besonderen Nachdruck legt. Und noch gewichtiger artikuliert er alsdann: »Sehr wohl, Herr Graf.« Will er Marcheret zur Ordnung rufen und ihm bedeuten, daß ein Edelmann sich nicht so gehen lassen darf, wie er es tut?
Oberhalb der starren Gestalt von Grève ragt der Kopf eines Hirsches wie eine Galionsfigur aus der Wand, und das Tier blickt auf Marcheret, Murraille und meinen Vater mit der ganzen Gleichgültigkeit seiner gläsernen Augen herab. Der Schatten des Geweihs zeichnet ein gigantisches Geflecht an die Decke. Das Licht wird schwächer. Eine Stromstörung? Sie bleiben ermattet und schweigend in dem Halbdunkel zurück, das an ihnen zehrt. Wieder dieses Gefühl, als betrachte man eine alte Photographie, bis zu dem Augenblick, da Marcheret sich erhebt, aber so heftig, daß er fast den Tisch umstößt. Dann beginnt alles von neuem. Der Lüster und die Wandleuchter finden ihre Helligkeit wieder. Kein bißchen Schatten. Keine Weichheit. Der kleinste Gegenstand tritt mit nahezu unerträglicher Schärfe hervor, die Gesten, die bereits zu erlahmen begannen, werden schroff und gebieterisch. Sogar mein Vater richtet sich straff auf, als wäre das Kommando »Achtung!« gefallen.
Sie streben jetzt offensichtlich der Bar zu. Wohin sollen sie auch gehen? Murraille hat meinem Vater freundschaftlich eine Hand auf die Schulter gelegt, die Zigarette zwischen die Lippen geklemmt, und redet auf ihn ein, als wolle er ihn endgültig von einer Sache überzeugen, über die sie schon gesprochen haben. Sie bleiben einige Meter vor der Bar stehen, an der Marcheret bereits Platz genommen hat. Murraille beugt sich zu meinem Vater und schlägt den vertraulichen Ton eines Menschen an, der Sicherheiten zu bieten hat, denen man nicht widerstehen kann. Mein Vater schüttelt den Kopf, der andere klopft ihm auf die Schulter, als ob sie sich endlich einig geworden wären.
Sie sitzen jetzt alle drei an der Bar. Maud Gallas hat das Radio leise eingeschaltet, aber wenn ihr ein Chanson gefällt, dreht sie solange an den Knöpfen herum, bis es ihr laut genug erscheint. Murraille hingegen wird danach aufmerksam den Elf-Uhr-Nachrichten lauschen, die ein Sprecher mit scharfer Stimme skandiert. Dann wird das Zeichen für das Ende der Sendungen folgen. Eine kleine Musik, traurig und einschmeichelnd.
Sie schweigen noch lange, bevor sie zum Austausch von Erinnerungen und Vertraulichkeiten übergehen. Marcheret sagt, er sei mit seinen sechsunddreißig Jahren ein erledigter Mann, und klagt über seine Malaria. Maud Gallas erinnert ihn an den Abend, an dem er in Uniform ins Beaulieu kam und die Zigeunerkapelle zu seiner Begrüßung schluchzend die Hymne der Legion intonierte; eine unserer schönen Vorkriegsnächte, sagt sie ironisch, während sie eine Zigarette zerkrümelt. Marcheret hebt den Blick zu ihr, betrachtet sie sonderbar und sagt, daß ihm der Krieg gestohlen bleiben könne. Und mag alles noch viel schlimmer kommen, ihn schert das nicht. Und er, Graf Guy François Arnaud Marcheret d'Eu, brauche sich von niemandem etwas gefallen zu lassen. Das einzige, was ihn jetzt noch interessiere, sei »der Champagner, der in seinem Glase perlt«, mit dem er nun wütend Mauds Corsage bespritzt. Murraille ruft: »Nicht doch, nicht doch …« Sein Freund sei keineswegs ein erledigter Mann, und überhaupt, was soll das denn heißen, »erledigt«? Wie? Nichts! Er versichert, daß sein teurer Freund noch herrliche Jahre vor sich hat. Und im übrigen kann er auf die Zuneigung von »Jean Murraille« rechnen. Und zögert er, »Jean Murraille«, denn auch nur eine Sekunde, seine Tochter dem Grafen Guy de Marcheret zur Ehe zu geben? Wie? Würde er seine Tochter mit einem Mann verheiraten, der erledigt ist, wie? Er wendet sich zu den anderen, als wolle er sie herausfordern, das Gegenteil zu behaupten. Wie? Welchen besseren Beweis des Vertrauens und der Freundschaft könnte er geben? Erledigt? Was soll das überhaupt heißen »erledigt«? Erledigt sein, das heißt … aber dann verstummt er. Er findet keine Definition und zuckt die Achseln. Marcheret beobachtet mit großer Aufmerksamkeit. Wenn Guy es nicht unpassend findet, ruft Murraille plötzlich, als habe er eine Eingebung, wird Chalva Deyckecaire sein Trauzeuge sein. Und Murraille zeigt auf meinen Vater, dessen Gesicht sogleich in grenzenloser Dankbarkeit aufleuchtet. In zwei Wochen wird man im »Clos-Foucré« die Hochzeit feiern. Die Freunde aus Paris werden kommen. Eine kleine familiäre Feier, die ihre Verbindung zementieren wird. Murraille – Marcheret – Deyckecaire! Die drei Musketiere! Und alles steht zum Besten! Marcheret hat absolut keinen Grund, sich Sorgen zu machen. »Die Zeiten sind trübe«, aber »das Geld fließt in Strömen«. Schon zeichnen sich Möglichkeiten aller Art ab, »die eine interessanter als die andere«. Guy wird seinen Anteil bekommen. »Auf Heller und Pfennig.« Klick! Der Graf trinkt auf das Wohl »seines zukünftigen Schwiegervaters« (etwas sonderbar: Der Altersunterschied zwischen Murraille und ihm dürfte nicht mehr als zehn Jahre betragen …), und, indem er sein Glas erhebt, erklärt er, glücklich und stolz zu sein, Annie Murraille zu heiraten, denn sie hat »den blondesten und heißesten Hintern von ganz Paris«.
Maud Gallas ist wieder munter geworden und fragt ihn, was er denn seiner zukünftigen Gattin zur Hochzeit schenken werde. Einen silbergrauen Nerz, zwei Kettenarmbänder aus massivem Gold, für die er »sechs Millionen bar« bezahlt hat. Kleinigkeit.
Er hat aus Paris einen kleinen Koffer mitgebracht, randvoll mit Devisen. Und mit Chinin. Schweinerei, diese Malaria.
»Ja, eine Schweinerei, das stimmt«, meint Maud.
Wo er denn Annie Murraille kennengelernt habe? Wie bitte? Annie Murraille? Ha! Wo wird er sie kennengelernt haben! Bei Langers, jawohl, ein Restaurant der Champs-Élysées. Tatsächlich, nicht wahr, er hat Murraille erst durch dessen Tochter kennengelernt! (Er lacht schallend.) Das hat wie ein Blitz eingeschlagen, und sie haben den Rest des Abends im Tête-à-tête im Poisson d'Or verbracht. Er verliert sich in Einzelheiten, verheddert sich, findet den Faden seiner Geschichte wieder. Murraille, der ihm anfangs amüsiert zugehört hat, setzt jetzt das Gespräch mit meinem Vater fort, das sie nach Tisch begonnen haben. Maud hört Marcheret geduldig zu, dessen Erzählung in betrunkenem Gestammel versickert.
Mein Vater wackelt mit dem Kopf. Die Tränensäcke unter seinen Augen sind geschwollen, was ihm einen Ausdruck äußerster Erschöpfung verleiht. Welche Rolle spielt er eigentlich an der Seite von Murraille und Marcheret?
Es wird spät. Maud Gallas kommt und knipst die große Lampe vor dem Kamin aus. Zweifellos ein Signal, um ihnen zu bedeuten, daß es Zeit ist, nach Hause zu gehen. Der Raum ist nur noch durch die beiden rot abgeschirmten Wandleuchten im Hintergrund erhellt, und mein Vater, Murraille und Marcheret sind wieder im Halbdunkel.
Nur hinter der Bar bleibt noch ein kleiner Lichtkreis, in dem Maud Gallas unbeweglich steht. Man hört Murrailles Kichern und Marcherets Stimme, die immer schleppender wird. Er läßt sich wie ein Klumpen von der Höhe seines Barhockers fallen, fängt sich gerade noch und stützt sich auf Murrailles Schulter, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Schwankend bewegen sie sich auf die Tür zu. Maud Gallas begleitet sie bis auf die Schwelle. Die frische Luft draußen belebt Marcheret wieder. Er sagt zu Maud Gallas, wenn sie sich einsam fühle, »meine dicke Maud«, brauche sie ihn nur anzurufen, und daß die Tochter von Murraille den blondesten Hintern von ganz Paris habe, aber daß ihre, Maud Gallas', Schenkel »die geheimnisvollsten zwischen Seine und Marne« seien. Er legt einen Arm um ihre Taille und beginnt sie zu tätscheln, bis Murraille eingreift und »tz … tz« macht. Sie geht ins Haus und schließt die Tür ab.
Die drei finden sich auf der Hauptstraße des Städtchens wieder. Zu beiden Seiten die mächtigen, verschlafenen Häuser. Murraille und mein Vater gehen voran. Marcheret singt mit heiserer Stimme Le Chaland, qui passe. Vorhänge werden aufgezogen, ein Kopf beugt sich heraus. Marcheret beginnt den Neugierigen zu beschimpfen, während Murraille sich bemüht, seinen zukünftigen »Schwiegersohn« zu beruhigen.
Die Villa »Mektoub« ist das letzte Wohnhaus zur Linken, gerade am Waldrand. Von außen gesehen ist es eine Mischung aus Bungalow und Jagdhütte. An der Fassade entlang eine Veranda. Marcheret hat es »Villa Mektoub« getauft, in Erinnerung an die Fremdenlegion. Das Portal ist weiß gekalkt. An einem der Türflügel eine Kupferplatte, auf der die Worte »Villa Mektoub« in gotischen Lettern eingraviert sind. Marcheret hat rund um den Park einen Zaun aus Teakholz errichten lassen.
Vor dem Portal trennen sie sich. Murraille gibt meinem Vater einen Klaps auf den Rücken und sagt: »Auf morgen, Deyckecaire«. Und Marcheret sagt: »Auf Morgen, Chalva!«, während er den Türflügel durch einen Stoß mit der Schulter öffnet. Die beiden gehen die Allee hinauf. Mein Vater bleibt noch unbeweglich stehen. Vielleicht wird er auch diesmal, wie schon oft zuvor, mit ehrerbietiger Hand über die Kupferplatte streichen und mit dem Zeigefinger die gotischen Lettern nachziehen. Der Kies knirscht unter dem Schritt der beiden anderen. Der Schatten von Marcheret zeichnet sich für einen Moment auf der Veranda ab. Er brüllt: »Träume schön, Chalva!« und bricht in Lachen aus. Man hört eine der Fenstertüren der Veranda zufallen. Dann Stille.
Mein Vater wird wieder die Hauptstraße hinaufgehen und sich nach links wenden, um einen kleinen sanft abfallenden Weg zu nehmen. Den »Chemin des Bornage«. An ihm liegen lauter protzige Villen inmitten von großen Parks. Manchmal verlangsamt mein Vater den Schritt und hebt sein Gesicht zum Himmel, als wollte er den Mond und die Sterne betrachten, oder aber er preßt die Stirn an ein Gitter und blickt auf die dunkle Masse der Häuser. Dann nimmt er seinen Gang wieder auf, aber auf eine lässige Art, als hätte er kein bestimmtes Ziel. Das wäre der Moment, in dem man ihn ansprechen müßte.
Er hält an und stößt das Tor zur »Abtei« auf, einer kuriosen Villa im neoromanischen Stil. Ehe er eintritt, scheint er eine Weile zu zögern. Ob ihm diese Villa gehört? Und seit wann? Er schließt das Tor hinter sich und geht langsam über den Rasen auf die Freitreppe zu. Er krümmt den Rücken. Wie traurig er aussieht, dieser beleibte Herr, in der Nacht …
Ganz gewiß einer der hübschesten Orte des Départements Seine-et-Marne und in der besten Lage. Am Rande des Waldes von Fontainebleau. Einige Pariser besaßen dort Landhäuser, aber man sieht sie nicht mehr, zweifellos »wegen der beunruhigenden Entwicklung der Ereignisse«.
Monsieur und Madame Beausire, die Eigentümer der »Auberge du Clos-Foucré«, sind voriges Jahr abgereist. Sie sagten, sie wollten sich bei ihren Vettern in Loire-Atlantique erholen, aber man verstand nur zu gut, daß sie sich diesen Urlaub nur deshalb leisten konnten, weil die Stammgäste immer rarer wurden. Schwerer zu erklären, weshalb seitdem eine Dame aus Paris sich des »Clos-Foucré« angenommen hat. Zwei Herren, ebenfalls aus Paris, haben das Haus von Madame Lamiroux am Waldrand gekauft. (Schon fast zehn Jahre hat sie es nicht mehr bewohnt.) Der jüngere der beiden hat anscheinend in der Fremdenlegion gedient. Der andere soll eine Zeitschrift in Paris herausgeben. Ein Freund von ihnen hat sich in der »Abtei« eingerichtet, dem Wohnsitz der Familie Guyot. Gemietet? Oder profitiert er vielmehr von der Abwesenheit dieser Familie? (Die Guyots leben auf unbestimmte Dauer in der Schweiz.) Ein korpulenter Mann von orientalischem Typus. Er und seine beiden Freunde verfügen über sehr große Einkünfte, aber ihr Vermögen soll erst jüngeren Datums sein. Sie verbringen hier die Wochenenden, wie früher in sorgloseren Zeiten die bürgerlichen Familien. Am Freitagabend kommen sie aus Paris an. Der ehemalige Fremdenlegionär fährt im Eiltempo am Steuer eines beige-lackierten Talbot über die Hauptstraße und bremst hart vor dem »Clos-Foucré«. Einige Augenblicke später kreuzt die Limousine des anderen ebenfalls bei der Auberge auf. Sie haben Gäste eingeladen. Diese rothaarige Frau zum Beispiel, die man immer in Reithosen sieht. Am Samstagmorgen macht sie einen Spazierritt im Wald, und wenn sie zur Reitbahn zurückkehrt, drängen sich die Stallknechte um sie und nehmen sich ihres Pferdes ganz besonders an. Am Nachmittag schreitet sie die Hauptstraße hinab, gefolgt von einem irischen Setter, dessen flammendes Fell (aus Raffinement?) mit ihren gelbbraunen Stiefeln und ihren roten Haaren harmoniert. Häufig begleitet sie eine junge blonde Frau, die Tochter – so scheint es – des Zeitschriftenverlegers. Diese trägt immer einen Pelzmantel. Die beiden Frauen treten für einen Moment in den Antiquitätenladen von Madame Blairiaux und kaufen einige Kostbarkeiten. Die rothaarige Frau hat einen großen Schrank, chinesisches Louis-quinze, gekauft, für den Madame Blairiaux wegen des überhöhten Preises keinen Interessenten fand. Als sie sah, wie die Kundin ihr zwei Millionen in bar hinblätterte, schien sie eingeschüchtert. Die rothaarige Frau hat die Notenbündel auf eine Etagère gelegt. Später hat ein Transporter die Lieferung des Schrankes übernommen und ihn in die Villa von Madame Lamiroux gebracht. (Seitdem sie dort wohnen, haben der Zeitschriftenverleger und der ehemalige Fremdenlegionär das Haus »Villa Mektoub« getauft.) Es fiel auf, daß dieser Transporter regelmäßig Kunstgegenstände und Gemälde in die »Villa Mektoub« brachte, welche die rothaarige Frau bei den Versteigerungen in der Umgegend erstanden hatte; am Samstagabend kehrt sie dann mit dem Verleger im Automobil von Melun oder Fontainebleau zurück, gefolgt von dem Transporter, der mit allem möglichen beladen ist: rustikale Möbel, Tafelgeschirr, Kronleuchter, Silberzeug, das sie in der Villa abladen. Das beschäftigt die Leute im Ort, die gern etwas mehr über diese rothaarige Frau erfahren möchten. Sie wohnt nicht in der Villa »Mektoub«, sondern im »Clos-Foucré«. Dennoch vermutet man zwischen ihr und dem Verleger eine sehr enge Beziehung. Ist sie seine Geliebte? Eine Freundin? Es heißt, der ehemalige Fremdenlegionär sei ein Graf. Und der beleibte Herr von der »Abtei« nenne sich »Baron« Deyckecaire. Sind diese Titel echt? Sie beide entsprechen nicht der Vorstellung, die man sich von wirklichen Aristokraten macht. Ihr Benehmen ist irgendwie verdächtig. Vielleicht sind sie von ausländischem Adel? Hat man nicht eines Tages gehört, wie der »Baron« Deyckecaire dem Zeitschriftenverleger – und zwar mit erhobener Stimme – erklärt hat: »Spielt überhaupt keine Rolle, ich bin türkischer Staatsbürger!« Der »Graf« spricht französisch mit einem leichten Faubourg-Akzent. Eine Angewohnheit aus der Fremdenlegion? Die rothaarige Frau stellt sich anscheinend gern zur Schau; warum sonst trägt sie diese Unmenge von Schmuck, der überhaupt nicht zu ihrem Reitdreß paßt? Bei der jungen blonden Frau wundert man sich, sie immer in einem Pelzmantel zu sehen, im Juni! Sie verträgt wohl die Landluft nicht. Ihr Foto war schon in einer Nummer von Ciné-Miroir erschienen. Die Bildunterschrift: »Annie Murraille, 26 Jahre alt, der Star von Nuit de rafles (Nacht der Razzien).« Ist sie noch Schauspielerin? Oft geht sie in Gesellschaft des ehemaligen Fremdenlegionärs spazieren, wobei sie ihm den Arm reicht und den Kopf an seine Schulter legt. Sie könnten Verlobte sein.
Noch andere Personen kommen übers Wochenende hierher. Oft empfängt der Zeitschriftenverleger bis zu zwanzig geladene Gäste. Am Ende ist man mit den meisten von ihnen vertraut, aber es wäre schwierig, jeder der Gestalten einen Namen zu geben. Im Ort gingen alsbald die erstaunlichsten Gerüchte um: Der Verleger organisiere in der Villa »Mektoub« Partys ganz besonderer Art. Dies sei der Grund, weshalb »alle diese reizenden Leute« aus Paris herbeieilten. Die Frau, die sich in Abwesenheit der Beausires des »Clos-Foucré« angenommen hatte, war gewiß eine ehemalige Bordellwirtin. Übrigens nahm das »Clos-Foucré« immer mehr die Züge eines Freudenhauses an, indem es einer solchen Kundschaft Unterschlupf gewährte. Man fragte sich auch, durch welchen Trick der »Baron« Deyckecaire in den Besitz der »Abtei« gelangt war. Man fand, er habe etwas von einem Spion. Der »Graf« war zweifellos in die Fremdenlegion gegangen, um sich gerichtlichen Nachstellungen zu entziehen. Der Verleger befaßte sich zusammen mit der rothaarigen Frau mit schmutzigen Geschäften. Sie beide veranstalteten in der Villa »Mektoub« Orgien, an denen der Verleger auch seine Tochter teilhaben ließ. Er zögerte nicht, sie dem »Grafen« in die Arme zu werfen oder anderen, die er zu seinen Komplizen machen wollte. Kurzum, man mußte schließlich glauben, der Ort sei »einer Gangsterbande« ausgeliefert. Ein unverdächtiger Zeuge, wie es in den Romanen und Gerichtsprotokollen heißt, der den Verleger und seine Umgebung beobachtete, mußte alsbald an die »Fauna« denken, die gewisse Bars der Champs-Élysées bevölkert. Ihre Anwesenheit hier war ein Mißklang. An Abenden, an denen sie besonders zahlreich sind, dinieren sie alle im »Clos-Foucré« und steuern dann grüppchenweise in lockerem Zug der Villa »Mektoub« zu. Alle Frauen sind rothaarig oder platinblond, alle Männer in grelle Farben gekleidet. Der »Graf« eröffnet den Zug, den Arm in einer Binde aus weißer Seide, als wäre er soeben in einem Gefecht verwundet worden. Will er damit an seine Legionärsvergangenheit erinnern? Sie lassen die Musik sehr laut spielen, so daß Klänge von Rumba, heißem Jazz und Fetzen von Chansons bis auf die Hauptstraße dringen. Bleibt man in der Nähe der Villa stehen, sieht man sie hinter den Fenstertüren tanzen.
Eines Nachts gegen zwei Uhr hat man eine Frau mit gellender Stimme schreien hören. Es war die Rothaarige, die mit entblößten Brüsten durch die Straßen rannte. Jemand verfolgte sie. Wieder schrie sie: »Schwein!« Dann brach sie in Gelächter aus.
Anfangs zogen die Leute die Jalousien hoch. Doch dann gewöhnten sie sich an das lärmende Treiben all dieser Neuankömmlinge. Wir leben in Zeiten, in denen man sich am Ende über nichts mehr wundert.
Die Zeitschrift vor mir ist eine noch junge Gründung, sie trägt die Nummer 57. Der Name C'est la vie prangt in schwarzen und weißen Lettern. Auf der Titelseite ein weiblicher Körper in anzüglicher Pose. Man könnte meinen, es handle sich um ein frivoles Magazin, wenn nicht die Worte »Halbmonatsschrift für aktuelle Politik und Gesellschaft« auf höhere Ambitionen hindeuteten.
Auf der ersten Seite der Name des Herausgebers: Jean Murraille. Dann, in der Rubrik Redaktion, die Liste der Mitarbeiter, etwa zehn an der Zahl und alle unbekannt. Mag man sein Gedächtnis noch so anstrengen, man erinnert sich nicht, ihre Namen irgendwo gelesen zu haben. Allenfalls mit zwei der Namen könnte sich eine vage Erinnerung verbinden. Jean Drault und Mouly de Melun: der erste ein Feuilletonist der Vorkriegszeit, Verfasser des Soldat Chapuzot; der zweite ein ehrgeiziger Reporter von L'Illustration. Aber die anderen? Zum Beispiel dieser mysteriöse Jo-Germain, dessen Name auf der ersten Seite unter einem Bericht über das Erwachen des Frühlings steht? Geschrieben in einem gespreizten Französisch und endend mit dem Ruf »Seid heiter!«. Dazu als Illustration mehrere Fotos ziemlich dürftig bekleideter Personen.
Auf der zweiten Seite die »indiskreten Neuigkeiten«. Es handelt sich um einzelne Absätze, jeder mit einer reißerischen Überschrift. Der namentlich genannte Robert Lestandi erzählt dort die gewagtesten Dinge über Persönlichkeiten der Politik, der Kunst, des Theaters und versteigt sich dabei zu Betrachtungen, die auf Erpressung hinauslaufen. Einige »Witz«-Zeichnungen von ominöser Schwärze tragen die Signatur eines gewissen Le Houleux. Auch der Rest bietet noch viel Überraschendes. Das geht von dem politischen »Leitartikel« bis zu den »Reportagen« und weiter zu den Leserbrief-Spalten. Der »Leitartikel« in Nummer 57 ist ein Gemisch aus Schmähungen und Drohungen, verfaßt von »François Gerbère«. Da liest man Sätze wie: »Kriecher sind schon halbe Diebe«. Oder: »Andere Verantwortliche müssen dafür bezahlen. Und sie werden bezahlen!« Verantwortlich wofür? Darüber läßt »François Gerbère« sich nicht näher aus. Und die »Reporter«? Die gehen schnurstracks auf die heikelsten Themen los. Die Nummer 57 zum Beispiel bietet den »Lebensroman einer Farbigen – quer durch die Welt des Tanzes und der Vergnügungen. Paris, Marseille, Berlin«. Das gleiche traurige Niveau in den Leserbriefen, wo ein Leser fragt, ob »ein Extrakt aus Spanischer Fliege, einer Speise oder einem Getränk beigemischt, eine Person des schwachen Geschlechts unverzüglich zur Hingabe bereit macht«. Und Jo-Germain antwortet auf solche Fragen mit einigen parfümierten Phrasen.
Die beiden letzten Seiten sind für die Rubrik »Was gibt es Neues?« reserviert. Ein anonymer »Monsieur Tout-Paris« berichtet ausführlich über die gesellschaftlichen Ereignisse der Woche. Gesellschaftlich? Um welche Gesellschaft handelt es sich? Bei der Wiedereröffnung des Kabaretts Jane Stick, Rue de Ponthieu (dem »pariserischsten« Ereignis des Monats, wie der Chronist meint), »bemerkte man die Anwesenheit von Osvaldo Valenti und Monique Joyce«. Unter den anderen »Persönlichkeiten«, die »Monsieur Tout-Paris« aufführt: die Komtess Tschernicheff, Mag Fontanges, Violette Morriss; »der Schriftsteller Boissel, Autor von Croix de sang, das Flieger-As Costantini, Darquier de Pellepoix, der bekannte Anwalt, der Anthropologe Montandon; Malou Guérin; Delvale und Lionel de Wiet, die Theaterdirektoren; die Journalisten Suaraize, Maulaz und Alin-Laubreaux«. Aber seiner Ansicht nach, war »der lebhafteste Tisch der von M. Jean Murraille«. Um seine Behauptung zu illustrieren, ein Foto. Man erkennt darauf Murraille, Marcheret, die rothaarige Frau, die immer in Reithosen umhergeht (sie heißt Sylviane Quimphe), schließlich meinen Vater, der unter dem Namen »Baron Deyckecaire« aufgeführt ist. »Sie alle« – so der Kommentator – »verbreiten bei Jane Stick jene geistsprühende Atmosphäre der Pariser Nächte.« Zwei weitere Fotos bieten eine Gesamtansicht dieser Abendgesellschaft. Die schummerige Beleuchtung und die Tische mit den etwa hundert Personen in Smoking und Abendkleidern. Zu jedem Foto eine Bildunterschrift: »Die Szene belebt sich, der Vorhang geht auf, das Parkett verschwindet, eine Stufenleiter mit Tänzerinnen erscheint … Die Revue Dans notre miroir beginnt« und »Eleganz, Rhythmus, Licht. Das ist Paris!« Nein. Irgend etwas an dieser Gesellschaft kommt einem verdächtig vor. Wer sind alle diese Leute? Woher kommen sie? Der »Baron« Deyckecaire zum Beispiel, dort, im Hintergrund, mit seinem fleischigen Gesicht, den leicht zusammengesunkenen Oberkörper halb von einem Sektkühler verdeckt?
»Interessiert Sie das?«
Auf der verblaßten Fotografie sieht man ein Individuum reiferen Alters einem jungen Mann gegenüberstehen, dessen Gesichtszüge nicht mehr genau zu erkennen sind. Ich hebe den Kopf. Er steht direkt vor mir: Ich hatte ihn nicht aus der Tiefe der »schlimmen« Jahre kommen hören. Er wirft einen flüchtigen Blick auf die Rubrik »Was gibt es Neues?«, um zu erfahren, was meine Aufmerksamkeit erregt. Gewiß, er hat mich dabei überrascht, wie ich mit der Nase tief in der Zeitschrift steckte, als handelte es sich um eine seltene Briefmarke.
»Das gesellschaftliche Leben interessiert Sie?«
»Nicht besonders, mein Herr«, stammele ich.
Er streckt mir die Hand hin.
»Jean Murraille!«
Ich erhebe mich und sage, Überraschung vortäuschend:
»Sie also geben diese Zeitschrift …«
»Ich persönlich …«
Leichthin sage ich:
»Freut mich!« – Dann, etwas gezwungen: »Ich schätze Ihre Zeitschrift sehr.«
»Wirklich?«
Er lächelt. Ich sage:
»Sie ist große Klasse.«
Er scheint überrascht, diese saloppe Wendung von mir zu hören, die ich nur gebraucht hatte, um zwischen uns eine Gemeinsamkeit herzustellen.
»Sie ist große Klasse, Ihre Zeitschrift«, wiederhole ich mit nachdenklicher Miene.
»Sind Sie vom Fach?«
»Nein.«
Er erwartet präzisere Auskünfte, aber ich schweige.
»Zigarette?«
Er holt ein Feuerzeug aus Platin aus seiner Tasche, das er mit einer knappen Geste aufflammen läßt. Die Zigarette baumelt dabei in seinem Mundwinkel, als hinge sie dort für alle Ewigkeit. Zögernd:
»Haben Sie den Leitartikel von Gerbère gelesen? Vielleicht stimmen Sie mit der politischen Richtung des Blattes nicht überein?«
»Ich habe nichts mit Politik zu tun«, erwidere ich.
»Ich stelle Ihnen diese Frage«, – er lächelt – »weil ich gern die Meinung eines jungen Menschen kennenlernen möchte …«
»Vielen Dank.«
»Ich habe nicht lange gebraucht, um meine Mitarbeiter zu finden. Wir bilden eine einheitliche Mannschaft. Sie besteht aus Journalisten von überallher: Lestandi, Jo-Germain, Alain Laubreaux, Gerbère, Georges-Anquetil … Auch ich habe für Politik nicht viel übrig. Langweilig, die Politik!« – Kurzes Lachen. – »Was die Leute interessiert, das ist der Klatsch und die Reportagen. Und die Fotos natürlich! Die Fotos! Ich habe dafür eine Formel gefunden … Heiter!«
»In Zeiten wie diesen brauchen die Leute eben Entspannung«, bemerkte ich.
»Ganz Ihrer Meinung!«
Ich hole Luft. Dann erkläre ich mit leicht stockender Stimme: »Was ich an Ihrer Zeitschrift ganz besonders mag, das sind die ›Indiskretionen‹ von Lestandi. Ausgezeichnet! Sehr lebendig!«
»Lestandi ist ein bemerkenswerter Typ. Wir haben seinerzeit zusammen gearbeitet, bei La Volonté von Dubarry! Eine gute Schule! Und Sie?«
Die Frage trifft mich unvorbereitet. Er sieht mich mit seinen hellen blauen Augen an, und ich begreife, daß ich sehr schnell antworten muß, um kein Unbehagen zwischen uns aufkommen zu lassen.
»Ich? Stellen Sie sich vor: ich bin in meinen Mußestunden Romancier.«
Die Dreistigkeit, mit der ich diesen Satz von mir gebe, erstaunt mich selbst.
»Aber das ist doch sehr, sehr interessant! Und Sie haben schon publiziert?«
»Zwei Novellen in einer belgischen Zeitschrift, voriges Jahr.«
»Sind Sie zur Erholung hier?«
Er fragt mich das so direkt, als sei er plötzlich mißtrauisch geworden.
Ich will schon hinzufügen, daß wir uns bereits in der Bar und im Speisesaal begegnet seien.
»Ein erholsamer Ort, nicht wahr?« – er zieht nervös an seiner Zigarette – »Ich habe eine Villa am Rande des Wäldchens gekauft. Und Sie wohnen in Paris?«
»Ja.«
»Haben Sie, abgesehen von Ihrer literarischen Betätigung« – er betont das Wort »literarisch«, und ich höre ein wenig Ironie heraus – »auch eine reguläre Arbeit?«
»Nein. Das ist im Augenblick schwierig.«
»Verrückte Zeiten sind das. Ich frage mich, wie das noch enden soll. Und Sie?«
»Inzwischen muß man das Leben auskosten.«
Diese Bemerkung gefiel ihm. Er lachte laut.
»Nach uns die Sintflut!« – Er klopfte mir auf die Schulter. – »Hören Sie, ich lade Sie für heute abend zum Essen ein!«
Wir machten ein paar Schritte im Garten. Um das Gespräch in Gang zu halten, erklärte ich, daß die Luft an diesen schönen Spätnachmittagen besonders mild sei und daß ich eins der angenehmsten Zimmer des Hauses hätte, eins von denen, die unmittelbar auf die Veranda hinausgehen.
Ich fügte hinzu, daß das »Clos Foucré« mich an meine Kindheit erinnerte, weil ich damals oft mit meinem Vater hierher gekommen sei. Ich fragte ihn, ob ihm seine Villa Freude mache. Er meinte, er würde sie gern öfter nutzen, aber die Zeitschrift nähme ihn ganz und gar in Anspruch. Im übrigen liebe er das. Und Paris habe auch seinen Charme, ganz gewiß. Unter solchen interessanten Reden nahmen wir an einem der Tische Platz. Vom Garten aus gesehen bot das Hotel einen ländlichen, wenn auch pompösen Anblick, und ich verfehlte nicht, das eigens zu bemerken. Die Geschäftsführerin (er nannte sie Maud) war, wie er mir sagte, eine langjährige Freundin von ihm. Sie hatte ihm geraten, die Villa zu kaufen. Ich hätte über diese Frau gern Näheres von ihm erfahren, aber ich fürchtete, meine Neugier könnte ihm verdächtig erscheinen.
Schon seit langem wälzte ich die verschiedensten Pläne, um mit ihnen in Kontakt zu kommen. Zuerst hatte ich an die Rothaarige gedacht. Mehr als einmal hatten sich unsere Blicke gekreuzt. Es wäre mir ein leichtes gewesen, mit Marcheret ins Gespräch zu kommen, wenn ich mich in der Bar neben ihn gesetzt hätte; hingegen war eine direkte Annäherung an meinen Vater unmöglich, wegen seines angeborenen Mißtrauens. Murraille schließlich machte mir Angst. Wie sollte ich ihm beikommen? Und nun war er es, der das Problem endgültig gelöst hatte. Noch ein Gedanke ging mir durch den Kopf. Wenn er den ersten Schritt nur getan hätte, um zu wissen, woran er mit mir war? Wenn er das lebhafte Interesse bemerkt hätte, das ich ihm nun schon drei Wochen lang zuwandte, die Art, wie ich jede ihrer Gesten erspähte, jedes ihrer Worte an der Bar oder im Speisesaal mithörte? Dabei erinnerte ich mich an das, was man mir vorgehalten hatte, als ich mich zur Polizei melden wollte: »Mein Lieber, aus Ihnen wird nie ein guter Kriminaler. Wenn Sie irgend jemanden überwachen oder eine Unterhaltung belauschen, so merkt man das sofort. Sind sind ein Kind, ein Anfänger.«
Grève rollte einen Serviertisch mit den Apéritifs heran. Wir tranken einen Vermouth. Murraille verkündete mir, daß ich in der nächsten Woche in seiner Zeitschrift einen »aufsehenerregenden« Artikel von Alain-Laubreaux lesen könne. Er nahm einen vertraulichen Ton an, als kennte er mich schon lange. Der Tag neigte sich. Wir kamen überein, daß diese Stunde die angenehmste des ganzen Tages sei.
Marcherets mächtiger Rücken. Maud Gallas, hinter der Bar, gibt Murraille mit der Hand ein Zeichen, als wir eintreten. Marcheret wendet sich.
»Wie geht es, Jean-Jean?«
»Gut«, antwortet Murraille. »Ich habe einen Gast eingeladen. Aber eigentlich« – er blickt mich stirnrunzelnd an – »kenne ich nicht einmal Ihren Namen …«
»Serge Alexandre.«
Unter diesem Namen hatte ich mich im Hotel eingetragen.
»Nun, denn, Monsieur … Alexandre«, erklärt Marcheret in schleppendem Ton, »ich schlage Ihnen einen Porto-flip vor.«
»Ich trinke keinen Alkohol – der Vermouth vorhin bereitete mir schon Kopfschmerzen.«
»Da haben Sie aber unrecht«, erwidert Marcheret.
»Dies ist ein Freund von mir«, erklärt Murraille: »Guy de Marcheret.«
»Graf Guy de Marcheret d'Eu«, berichtigt der andere. Und zu mir gewandt: »Er liebt keine Adelsprädikate! Der Herr ist Republikaner! Und Sie? Journalist?«
»Nein«, sagt Murraille, »er ist ein Romancier.«
»Ausgerechnet! Das hätte ich mir denken können. Mit einem Namen wie Ihrem! Alexandre … Alexandre Dumas! Aber Sie sehen niedergeschlagen aus, und ich bin sicher, ein bißchen Alkohol wird Sie wieder aufmuntern!«
Er reicht mir sein Glas, hebt es mir fast unter die Nase und lacht ohne jeden Grund.
»Haben Sie keine Angst«, sagt Murraille zu mir. »Guy ist ein richtiger Spaßvogel.«
»Monsieur Alexandre speist mit uns? Ich werde ihm einen Haufen Geschichten erzählen, die er in seinen Romanen verwenden kann. Maud, erzählen Sie unserem Freund, welchen Eindruck ich gemacht habe, als ich in Uniform das Beaulieu betrat. Sehr romanhaft, dieser Auftritt, nicht wahr, Maud?«
Sie antwortete nicht. Er sah sie haßerfüllt an, aber sie hielt seinem Blick stand. Er schnaubte:
»Was soll's, das alles gehört der Vergangenheit an! Nicht wahr, Jean-Jean? Speisen wir in der Villa?«
»Ja«, erwiderte Murraille trocken.
»Mit dem Dicken?«
»Mit dem Dicken.«
Nannten sie so meinen Vater?
Marcheret erhebt sich. Zu Maud Gallas gewandt:
»Und falls Sie jetzt ein Gläschen in der Villa mit uns trinken wollen, zögern Sie nicht, liebe Freundin.«
Sie lächelt und hält dabei den Blick auf mich gerichtet. Unsere Beziehungen waren über den reinen Austausch von Höflichkeiten nicht hinausgegangen. Als ich sie einmal allein traf, hätte ich ihr gern Fragen gestellt, über Murraille, über Marcheret, über meinen Vater. Zuerst ein bißchen über den Regen und das Wetter reden. Dann Schritt für Schritt zur Sache kommen. Aber ich fürchtete, nicht genug Fingerspitzengefühl zu haben. Ob sie bemerkt hatte, daß ich um die drei herumschlich? Im Speisesaal wählte ich immer den Tisch, der ihrem am nächsten war. Während sie an der Bar tranken, setzte ich mich in einen der Ledersessel und stellte mich schlafend. Ich kehrte ihnen den Rücken zu, um nicht ihre Aufmerksamkeit zu erregen, aber ich fürchtete jeden Augenblick, daß sie mit dem Finger auf mich zeigen könnten.
»Guten Abend, Maud«, sagt Murraille.
Ich hingegen verbeuge mich tief und sage: »Guten Abend, Madame.«
Mein Herz schlägt vernehmlich, als wir über die Hauptstraße gehen. Sie ist ganz leer.
»Ich hoffe«, sagt Murraille zu mir, »daß die Villa ›Mektoub‹ Ihnen gefällt.«
»Sie ist das schönste Bauwerk in der ganzen Gegend«, erklärt Marcheret. »Wir haben sie für ein Butterbrot gekauft.«
Sie gehen langsam weiter. Plötzlich habe ich das Gefühl, daß ich mich in eine Falle locken lasse. Noch ist Zeit wegzulaufen und sie mir vom Hals zu schaffen. Ich richte den Blick fest auf die ersten Bäume des Wäldchens hundert Meter vor mir. In einem Anlauf könnte ich sie erreichen.
»Nach Ihnen«, sagt Murraille halb ironisch, halb zeremoniell.
Ich bemerke eine vertraute Gestalt mitten auf der Veranda. »Sieh an«, sagte Marcheret, »der Dicke ist schon da.«
Er stand leicht an die Balustrade gelehnt. Sie saß auf einem der Sessel aus hellem Holz und hatte Reithosen an.
Murraille stellte mich vor.
»Madame Sylviane Quimphe … Serge Alexandre … Baron Deyckecaire …«
Er reichte mir eine schlaffe Hand, und ich blickte ihm ins Gesicht. Nein, er erkannte mich nicht.
Sie erzählte uns, daß sie eben von einem langen Spazierritt im Wald käme und nicht den Mut gehabt hätte, sich umzuziehen.
»Macht gar nichts, liebe Freundin«, sagte Marcheret. »Frauen sind im Reitdress nur um so schöner!«
Alsbald wandte sich die Unterhaltung dem Pferdesport zu. Sie sprach in hohen Tönen von dem Leiter des Reitstalls, einem ehemaligen Jockey mit Namen Dédé Wildmer.
Ich war ihm schon in der Bar des »Clos-Foucré« begegnet: Bulldoggengesicht, rötlicher Teint, ausgesprochene Vorliebe für Dubonnet, karierte Mützen und wildlederne Westen.
»Wir werden ihn einmal zum Essen einladen müssen. Erinnern Sie mich daran, Sylviane«, sagte Murraille.
Und zu mir gewandt:
»Sie werden sehen, ein Mordskerl!«
»Ja, ein Mordskerl«, wiederholte schüchtern mein Vater. Sie sprach von ihrem Pferd. Sie hatte es soeben über mehrere Hindernisse springen lassen und sein Können »unter Beweis gestellt«.
»Man braucht es nicht zu schonen«, sagte Marcheret in fachmännischem Ton. »Ein Pferd dirigiert man am besten mit Sporen und Peitsche!«
Er erwähnte eine Kindheitserinnerung: Sein alter Onkel, ein Baske, der ihn zwang, im Regen sieben Stunden hintereinander im Sattel zu sein. Wenn du herunterfällst, sagte er, bekommst du drei Tage lang nichts zu essen!
»Nun ja, ich bin niemals heruntergefallen. So ist das«, – sein Ton wurde feierlich – »so bildet man die wahren Reiter aus!«
Mein Vater pfiff bewundernd durch die Zähne. Dann sprachen sie noch weiter von Dédé Wildmer.
»Ich verstehe nicht, wieso dieser Knirps soviel Erfolg bei Frauen hat«, sagte Marcheret.
»Ich jedenfalls finde ihn sehr anziehend!« sagte Sylviane Quimphe geziert.
»Ich habe schöne Geschichten darüber gehört«, erwiderte Marcheret trocken. »Es scheint, daß Wildmer sich dem Kokain ergeben hat.«
Öde Konversation. Eitles Gewäsch. Lebende Tote. Aber da war ich nun einmal mit meinen Gespenstern, und wenn ich die Augen schließe, erinnere ich mich wieder, daß uns dann eine alte Dame in weißer Schürze verkündet hat, das Essen sei angerichtet.
»Wir könnten doch auf der Veranda bleiben«, hat Sylviane Quimphe vorgeschlagen. »Ein so schöner Abend …«
Marcheret hingegen hätte wohl lieber bei Kerzenlicht gespeist, gab aber schließlich zu, daß »die uns umgebende Dämmerung auch ihre Reize« habe. Murraille sorgte für die Getränke; soweit ich es beurteilen konnte, handelte es sich um einen erlesenen Wein.
»Phantastisch!«, rief Marcheret aus und schnalzte mit der Zunge, was mein Vater wie ein Echo nachahmte.
Ich hatte meinen Platz zwischen Murraille und Sylviane Quimphe, die mich fragte, ob ich hier Ferien mache.
»Ich habe Sie schon im ›Clos-Foucré‹ gesehen.«
»Ich Sie auch«, sagte ich.
»Was für ein Zufall, ich glaube sogar, daß unsere Zimmer nebeneinander liegen.«
Dabei warf sie mir einen sonderbaren Blick zu.
»Monsieur Alexandre schätzt meine Zeitschrift sehr«, sagte Murraille.
»Im Ernst?« verwunderte sich Marcheret. »Da sind Sie bestimmt der einzige! Wenn Sie all die anonymen Briefe läsen, die Jean-Jean bekommt … In einem der letzten nennt man ihn sogar einen ›Pornographen‹ und ›Gangster‹!«
»Das kratzt mich nicht«, sagte Murraille. »Ich werde demnächst Präsident des Pariser Presseverbandes.«
»Da wird man wieder sagen, du profitierst von den Zeitumständen.«
»Na und?«
»Auf das Wohl des Präsidenten«, rief Marcheret und hob sein Glas.
»Ich schreibe gerade einen Leitartikel für die nächste Nummer«, sagte Murraille zu mir. »Ich versuche darin die augenblickliche Lage so objektiv wie möglich zu analysieren. Wissen Sie«, fur er leiser fort, »man hat mir in der Presse einen denkbar schlechten Ruf angehängt. Man behauptet sogar, ich hätte vor dem Krieg Gelder veruntreut! Ich habe schon immer den Neid der Subalternen erregt.«
Er hatte diese letzten Worte scharf betont, und die Röte war ihm ins Gesicht gestiegen. Das Dessert wurde aufgetragen.
»Und was machen Sie so, im Leben?« fragte mich Sylviane Quimphe.
»Romancier«, sagte ich überstürzt.
Ich bedauerte jetzt, mich Murraille unter diesem komischen Etikett vorgestellt zu haben.
»Sie schreiben Romane?«
»Sie schreiben Romane?« echote mein Vater.
Es war das erste Mal seit Beginn des Essens, daß er das Wort an mich richtete.
»Ja. Und Sie?«
Er riß die Augen weit auf.
»Sind Sie hier … zur Erholung?« fragte ich ihn höflich.
Er sah mich mit dem Blick eines wunden Tieres an.
»Monsieur Deyckecaire«, sagte Murraille – und er wies mit dem Finger auf meinen Vater – »wohnt auf einem sehr schönen Besitztum hundert Meter von hier. Es nennt sich ›Die Abtei‹.«
»Ja, die Abtei«, sagte mein Vater. »Sie ist viel imposanter als die Villa ›Mektoub‹. Denken Sie nur, es gibt eine richtige Kapelle im Park.«
»Chalva ist sehr religiös«, sagte Marcheret.
Mein Vater platzte vor Lachen.
»Nicht wahr, Chalva?« beharrte Marcheret. »Wann wird man dich endlich in einer Soutane sehen? Sag doch, Chalva.«
»Unglücklicherweise«, erklärte mir Murraille, »geht es unserem Freund Deyckecaire genauso wie uns. Seine Geschäfte halten ihn in Paris fest.«
»Was für Geschäfte?« fragte ich auf gut Glück.
»Nichts Interessantes«, sagte mein Vater.
»Oh doch!« sagte Marcheret. »Ich bin sicher, Monsieur Alexandre würde sich gern von dir über deine finanziellen Transaktionen aufklären lassen. Wissen Sie, daß Chalva« – er fiel in einen spöttischen Ton – »ein ganz gerissener Geschäftsmann ist? Von ihm könnte noch Sir Basil Zaharoff etwas lernen!«
»Glauben Sie ihm nicht«, murmelte mein Vater.
»Ich finde Sie ja so geheimnisvoll, Chalva«, sagte Sylviane Quimphe und legte die Hände zusammen.
Er holte ein großes Taschentuch hervor, mit dem er sich die Stirn trocknete, und ich erinnerte mich plötzlich an diese vertraute Geste. Er schwieg. Ich auch. Das Licht wurde schwächer. Die drei anderen unterhielten sich im Verschwörerton. Ich glaube, Marcheret sagte zu Murraille:
»Deine Tochter hat mich angerufen. Was treibt sie eigentlich in Paris? Sie hurt herum, da bin ich ganz sicher!«
Murraille wunderte sich über diese gemeinen Ausdrücke. Ein Marcheret, ein d'Eu und solche Reden!
»Wenn das so weitergeht«, sagte der andere, »löse ich die Verlobung!«
»Sachte … sachte. Das wäre ein großer Fehler«, sagte Murraille. Sylviane benutzte die Pause, um zu erzählen, daß ein gewisser Eddy Pagnon in einem Kabarett, das sie mit ihm zusammen besucht hatte, vor den entsetzten Stammgästen einen Revolver gezückt habe. Eddy Pagnon … wieder ein Name, den ich schon einmal gehört habe. Welche Rolle spielt er? Ich weiß es nicht, aber dieser Mann, der einen Revolver zieht und damit Gespenster bedroht, gefällt mir.
Mein Vater hatte sich an die Balustrade der Veranda gelehnt, und ich näherte mich ihm. Er hatte eine Zigarre angezündet, die er versonnen rauchte. Nach einigen Minuten ging er dazu über, Ringe zu blasen. Die anderen hinter uns flüsterten und schienen uns vergessen zu haben. Er selbst nahm von mir nicht weiter Notiz, obwohl ich mehrmals hintereinander gehustet hatte, und so blieben wir lange sitzen, während er seine Rauchringe blies und ich aufpaßte, ob sie vollkommen gelangen.
Wir gingen in den Salon hinüber. Man gelangte von der Veranda durch eine Fenstertür dorthin. Es war ein großes Zimmer, das im Kolonialstil möbliert war. An der hinteren Wand eine Tapete in zarten Farben, die (wie Murraille mir später erklärte) eine Szene aus Paul et Virginie darstellte. Ein Schaukelstuhl, kleine Tische und Sessel aus Bambusrohr. Hier und da ein Hocker. (Ich erfuhr, daß Marcheret sie aus Bouss-Bir mitgebracht hatte, als er die Fremdenlegion verließ.) Drei chinesische Lampions hingen von der Decke und verbreiteten ein ungewisses Licht. Auf einem Wandbrett bemerkte ich einige Opiumpfeifen. Dieses ganze Sammelsurium ließ an Tonkin denken, an die Farmer in Südcarolina, an die französische Konzession in Shanghai, an das Marokko von Lyautey, und ich hatte Mühe, meine Überraschung zu unterdrücken, als Murraille mir leicht verlegen sagte: »Guy selbst hat das Mobiliar ausgesucht.« Ich ließ mich etwas abseits nieder. Sie sprachen mit leiser Stimme vor einem Tablett mit Likören. Das Unbehagen, das ich schon seit Beginn des Abends verspürte, verstärkte sich noch, und ich fragte mich, ob es nicht besser sei, mich zu verabschieden. Aber ich war keiner Bewegung fähig, wie in jenen bösen Träumen, in denen man vor einer nahenden Gefahr fliehen will und dabei fühlt, daß einem der Boden unter den Füßen weggleitet. Die Reden, die Gesten, die Gesichter hatten während des Essens in dem Dämmerlicht etwas Verschwommenes und Unwirkliches angenommen. Und jetzt, in dem spärlichen Licht der Lampen im Salon, wurde alles noch undeutlicher. Es ging mir, so dachte ich, wie einem Menschen, der sich in einer pechschwarzen Finsternis weitertastet und vergebens einen Lichtschalter sucht. Sogleich befiel mich ein nervöses Lachen, das die anderen zum Glück nicht bemerkten. Sie setzten ihre Unterhaltung fort, ohne daß ich auch nur ein Wort davon mitbekam. Sie waren gekleidet, wie normalerweise wohlhabende Pariser sich anziehen, wenn sie für ein paar Tage aufs Land fahren. Murraille trug eine Weste aus Tweed und Marcheret einen Pullover in schönstem Braun, zweifellos aus Kaschmir; mein Vater war in einen grauen Flanellanzug gekleidet. Ihre Kragen öffneten sich über seidenen, tadellos geschlungenen Halstüchern. Sylviane Quimphes Reithose gab dem Ganzen eine Note sportlicher Eleganz. Aber all das paßte überhaupt nicht in diesen Salon, in dem man eigentlich Leute in weißen Leinenanzügen und Tropenhelmen erwartet hätte.
»Sie sind so ganz für sich?« fragte mich Murraille. »Das ist meine Schuld. Ich bin ein schlechter Gastgeber.«
»Sie haben noch nicht diesen köstlichen Cognac probiert, lieber Monsieur Alexandre«, – und Marcheret hielt mir mit gebieterischer Geste ein Glas hin – »trinken Sie!«
Ich zwang mich dazu und unterdrückte eine aufsteigende Übelkeit.
»Lieben Sie diesen Raum?« fragte er mich. »Exotisch, nicht wahr? Ich werde Ihnen noch mein Zimmer zeigen. Dort habe ich ein Moskitonetz anbringen lassen.«
»Guy sehnt sich nach den Kolonien«, sagte Murraille.
»Ungesunde Gegenden«, sagte Marcheret. Dann träumerisch: »Aber wenn man mir vorschlüge, wieder hinzugehen, würde ich es tun.« Er verstummte, als ob alles, was er zu diesem Thema sagen könnte, von niemandem verstanden würde. Mein Vater schüttelte den Kopf. Es trat ein sehr langes Schweigen ein. Sylviane Quimphe streichelte zerstreut ihre Reitstiefel. Murraille verfolgte mit den Augen den Flug eines Schmetterlings, der sich auf einem der chinesischen Lampions niederließ. Mein Vater war in einen Erschöpfungszustand verfallen, der mich beunruhigte. Sein Kinn war fast bis auf die Brust gesunken, Schweißtropfen standen auf seiner Stirn. Ich wünschte, daß ein Boy eilends herbeikäme, um den Tisch abzudecken und die Lampen auszuschalten.
Marcheret legte eine Schallplatte auf. Eine süßliche Melodie. Ich glaube, sie nannte sich Soir de Septembre.
»Tanzen Sie?« fragte mich Sylviane Quimphe.
Sie wartete meine Antwort nicht ab, und schon tanzten wir. Der Kopf schwindelte mir. Mein Vater tauchte bei jedem Schritt und jeder Umdrehung vor mir auf.
»Sie sollten auch einmal reiten«, sagte sie. »Wenn Sie wollen, nehme ich Sie morgen mit in die Reitbahn.«
War mein Vater eingeschlafen? Ich hatte nicht vergessen, daß er oft die Augen schloß, aber damit verstellte er sich nur.
»Sie werden sehen, wie schön das ist – die großen Ausritte in den Wald!«
Er hatte in den zehn Jahren mächtig zugenommen. Auch kannte ich diese bleierne Blässe nicht an ihm.
»Sind Sie ein Freund von Jean?« fragte sie.
»Noch nicht, aber ich hoffe es zu werden.«
Diese Antwort schien sie zu überraschen.
»Und ich hoffe, daß auch wir gute Freunde werden«, fügte ich hinzu.
»Aber gewiß. Sie sind sehr charmant.«
»Sie kennen diesen … Baron Deyckecaire?«
»Nicht besonders gut.«
»Was macht er denn eigentlich, genau?«
»Ich weiß nicht, man müßte Jean danach fragen.«
»Mir kommt er sonderbar vor, dieser Baron.«
»Oh, er wird ein Geschäftsmann sein.«
Um Mitternacht wollte Murraille die letzten Nachrichten hören. Die Stimme des Sprechers klang noch höher als gewöhnlich. Nachdem er kurz und knapp die Nachrichten gesprochen hatte, verstieg er sich zu einer Art von Kommentar in geradezu hysterischem Ton. Ich stellte ihn mir hinter seinem Mikrophon vor: schmächtig, mit schwarzer Krawatte und in Hemdsärmeln. Er schloß mit: »Ihnen allen eine gute Nacht.«
»Danke«, sagte Marcheret.
Murraille nahm mich beiseite. Er rieb sich die Nase und legte mir eine Hand auf die Schulter.
»Tatsächlich … hören Sie … Mir kam da eben eine Idee. Würde es Ihnen gefallen, an der Zeitschrift mitzuarbeiten?«
Ich hatte bei diesen Worten leicht gestottert, und das Resultat war einfach lächerlich gewesen: Sie glau-auben? …
»Ja, ich fände es sehr gut, wenn ein junger Mann wie Sie bei C'est la vie mitarbeitete. Der Journalismus ist Ihnen doch nicht zuwider?«
»Keineswegs!«
Er zögerte, dann in noch freundschaftlicherem Ton:
»Ich möchte Sie nicht kompromittieren, weil doch der Charakter meiner Zeitschrift ein wenig … sonderbar ist …«
»Ich habe keine Angst, mich zu kompromittieren«, sagte ich.
»Das ist sehr mutig von Ihnen.«
»Was, meinen Sie, soll ich denn schreiben?«
»Oh, was Sie wollen: eine Novelle, einen Bericht, einen Artikel in der Art von ›choses vues‹. Sie haben so viel Zeit dafür, wie Sie wollen.«
Diese letzten Worte hatte er mit komischem Nachdruck gesprochen und mir dabei fest in die Augen gesehen.
»Abgemacht?« – Er lächelte. – »Sie wollen sich also kompromittieren?«
»Warum nicht?«
Wir kehrten wieder zu den anderen zurück. Marcheret und Sylviane Quimphe sprachen von einem Nachtlokal, das vor kurzem in der Rue Jean-Mermoz eröffnet worden war. Mein Vater hatte sich an der Unterhaltung beteiligt. Er selbst hatte eine Schwäche für die amerikanische Bar in der Avenue de Wagram, deren Inhaber ein ehemaliger Radrennfahrer war.
»Du meinst den Rayon d'Or?« fragte Marcheret.
»Nein, die Bar heißt Fairy-land«, erwiderte mein Vater.
»Da irrst du dich, Dicker! Fairy-land ist in der Rue Fontaine!«
»Aber nein«, sagte mein Vater.
»Rue Fontaine 47. Wetten?«
»Du hast recht, Guy«, seufzte mein Vater, »Du hast recht …«
»Kennen Sie vielleicht das Château-Bagatelle?« fragte Sylviane Quimphe. »Dort soll man sich sehr gut amüsieren.«
»Rue de Clichy?« erkundigte sich mein Vater.
»Aber nein!« rief Marcheret. »Rue Magellan! Du verwechselst es mit Chez Marcel Dieudonné! Du bringst alles durcheinander! Das letzte Mal waren wir im L'Ecrin, Rue Joubert, verabredet, und du hast bis Mitternacht im Cesare Leone, Rue de Hannovre, auf uns gewartet! Nicht wahr, Jean?«
»Ist nicht so wichtig«, brummte Murraille.
Wohl eine Viertelstunde lang leierten sie Namen von Bars und Kneipen wie einen Rosenkranz herunter, als wenn Paris, Frankreich, das Universum nichts als ein einziges verrufenes Viertel, ein riesiges Bordell unter freiem Himmel gewesen wäre.
»Und Sie, Monsieur Alexandre, gehen Sie viel aus?«
»Nein.«
»Dann, mein Freund, werden wir Sie in die ›Reize der Pariser Nächte‹ einweihen.«
Sie tranken immer weiter und nannten dabei immer andere Lokale, deren Namen nur so auf mich einstürmten: Armorial, Czárdás, Honolulu, Schubert, Gibsys, Monico, L'Athénien, Mélody's, Badinage. Sie alle waren plötzlich von einer Geschwätzigkeit, die schier unerschöpflich schien. Sylviane Quimphe knöpfte ihre Hemdbluse auf, die Gesichter von meinem Vater, von Marcheret und von Murraille wurden erregt und so rot wie Ochsenblut. Besorgniserregend. Noch ein paar weitere Namen drangen an mein Ohr: Triolet, Monte Christo, Capurro's, Valencia. Der Kopf schwindelte mir. In den Kolonien – dachte ich – muß es solche endlosen Abende wie diesen geben. Die neurasthenischen Farmer spinnen ihre Erinnerungen immer weiter aus; sie hat die Angst gepackt, beim nächsten Monsun zu krepieren, und ihnen ist jedes Mittel recht, um sie zu verdrängen.
Mein Vater stand auf. Er erklärte, er sei müde und habe in dieser Nacht noch eine Arbeit fertigzumachen.
»Willst du etwa Falschgeld herstellen, Chalva?« fragte Marcheret mit schwerer Zunge. »Finden Sie nicht auch, Monsieur Alexandre, daß er die Visage eines Fälschers hat?«
»Hören Sie nicht auf ihn«, sagte mein Vater.
Dann drückte er Murraille die Hand.
»Geht in Ordnung«, sagte er leise zu ihm. »Ich nehme mich der Sache an.«
»Ich rechne auf dich, Chalva.«
Als er sich auch von mir verabschieden wollte, sagte ich:
»Ich gehe auch. Wir können ein Stück zusammen gehen.«
»Aber gern, Monsieur.«
»Sie gehen schon?« fragte mich Sylviane Quimphe.
»Wenn ich Sie wäre«, sagte Marcheret zu mir, »würde ich ihm nicht trauen!« Und er zeigte mit dem Finger auf meinen Vater.
Murraille begleitete uns bis auf die Schwelle der Veranda. »Ich erwarte Ihren Artikel«, sagte er. »Nur Mut!«
Wir gingen schweigend dahin. Er schien überrascht, daß ich seinen Weg einschlug, anstatt weiter geradeaus zu meiner Auberge zu gehen. Er warf mir einen verstohlenen Blick zu. Ob er mich wohl erkannte? Ich wollte ihn schon danach fragen, aber ich erinnerte mich der Geschicklichkeit, mit der er peinlichen Fragen auszuweichen pflegte. Hatte er mir nicht eines Tages erklärt: »Ich würde zehn Untersuchungsrichter zur Verzweiflung bringen«? Wir kamen an einer Laterne vorbei. Ein paar Meter weiter herrschte wieder Halbdunkel. Die Häuser, die ich erkennen konnte, schienen verlassen. Das Rauschen des Windes in den Blättern. Vielleicht hatte er im Laufe dieser zehn Jahre sogar vergessen, daß ich existierte. Wie viele Mühen und Winkelzüge waren nötig gewesen, um jetzt an der Seite dieses Mannes gehen zu können … Wieder sah ich den Salon der Villa ›Mektoub‹ vor mir, die Gesichter von Murraille, von Marcheret, von Sylviane Quimphe und Maud Gallas hinter der Bar und Grève, der durch den Garten kam … Die Gesten, die Reden, tagelang, und ich immer wachsam, lauschend und lauernd. Ich hatte Lust, mich zu übergeben … Ich mußte stehenbleiben, um Atem zu schöpfen. Er wandte sich nach mir um. Ein weiterer Laternenpfahl ragte zu seiner Linken und hüllte ihn in eine schneeige Helligkeit. Er blieb unbeweglich, wie versteinert, und ich hätte ihn beinahe berührt, um mich zu vergewissern, daß es sich nicht um ein Trugbild handelte. Als wir unseren Marsch fortsetzten, mußte ich an unsere Spaziergänge damals in Paris denken. Wir pflegten so Seite an Seite einherzugehen, wie in dieser Nacht. Nichts als das haben wir getan, seit wir uns kannten. Nur gehen, ohne daß einer von uns das Schweigen brach. Und so blieb das. Nach der nächsten Biegung würden wir vor dem Tor der »Abtei« stehen. Ich sagte mit leiser Stimme: »Eine schöne Nacht.« Wir standen nur ein paar Meter von dem Gitter entfernt, und ich wartete auf den Augenblick, da er mir die Hand drücken würde, um mich zu verabschieden. Dann würde ich ihn in das Dunkel verschwinden sehen, und ich würde mitten auf dieser Straße stehenbleiben in jenem Zustand dumpfer Leere, der einen befällt, wenn man eine Gelegenheit, noch dazu vielleicht die Gelegenheit seines Lebens, hat vorübergehen lassen.
»Hier«, hat er gesagt, »ich wohne hier.«
Er wies mit einer schüchternen Geste auf das Haus, das man am Ende der Allee erkennen konnte. Das Dach glänzte lieblich im Mondlicht.
»Ach so? Dort?«
Eine Verlegenheit war zwischen uns. Zweifellos hatte er mir zu verstehen geben wollen, daß es Zeit war auseinanderzugehen, und sah nun, daß ich mich nicht entschließen konnte.
»Das sieht mir nach einem sehr prächtigen Haus aus«, habe ich in überzeugtem Ton gesagt.
»Ein sehr schönes Haus. Das ist es.«
Ich bemerkte eine Spur von Nervosität in seiner Stimme.
»Haben Sie es erst kürzlich gekauft?«
»Ja. Vielmehr nein!« Er geriet ins Stottern. Er hatte sich an das Gitter gelehnt und rührte sich nicht.
»Sie haben das Haus also nur gemietet?«
Sein Blick suchte den meinen festzuhalten, und das überraschte mich. Er blickte sonst den Leuten niemals ins Gesicht.
»Ja, ich habe es gemietet.«
Er hatte diese Worte gerade noch vernehmbar ausgesprochen.
»Ich muß Ihnen sehr zudringlich erscheinen.«
»Aber keineswegs, Monsieur.«
Er deutete ein Lächeln an, das aber mehr wie ein Beben der Lippen war, als fürchte er, einen Schlag über den Kopf zu bekommen, und ich hatte Mitleid mit ihm. Dieses Gefühl, das ich schon immer für ihn hatte, verursachte mir einen Augenblick lang heftige Schmerzen in der Magengegend.
»Ihre Freunde sind sehr reizend«, habe ich gesagt. »Ich habe mich glänzend unterhalten.«
Er hielt mir die Hand hin. »Ich muß hinein, arbeiten.«
»Woran denn?«
»Nichts von Interesse. Buchführung.«
»Nur zu«, habe ich gemurmelt. »Ich hoffe, Sie in den nächsten Tagen wiederzusehen.«
»Mit Vergnügen, Monsieur.«
In dem Moment, als er das Tor aufstieß, kam mir ein wahnwitziger Einfall: ihm auf die Schulter zu klopfen und ihm in allen Einzelheiten die Mühe zu erklären, die ich mir gemacht hatte, um ihn zu finden. Doch wozu? Er ging langsam die Allee hinauf, in der Haltung eines total erschöpften Mannes. Einen langen Augenblick blieb er auf der Freitreppe stehen. Von ferne wirkte seine Gestalt unförmig. Gehörte sie überhaupt einem Menschen oder vielmehr einem jener Ungeheuer, die einem in Fiebernächten erscheinen?
Hat er sich überhaupt gefragt, was ich da wollte, worauf ich wartete, hinter dem Gittertor?
Schließlich gelang es mir dank meiner Geduld und Hartnäckigkeit, sie näher kennenzulernen. In diesem Juli hielten ihre Geschäfte sie nicht in Paris zurück, und sie »profitierten« von dem Landleben (wie Murraille immer sagte). Diese ganze Zeit verbrachte ich mit ihnen und folgte ihren Gesprächen voller Hingabe und beharrlicher Aufmerksamkeit. Ich notierte auf kleinen Zetteln die Auskünfte, die ich aufgeschnappt hatte. Ich weiß sehr wohl, daß die Lebensläufe dieser schattenhaften Gestalten nicht besonders interessant sind, aber wenn ich es heute nicht täte, würde es kein anderer tun. Ich, der sie gekannt hat, habe die Pflicht, sie – und sei es auch nur für einen Augenblick – dem Dunkel zu entreißen. Ich empfinde das als meine Pflicht und als ein dringendes Anliegen zugleich.
Murraille. Er schloß sich, noch sehr jung, im Café Brébant einer Gruppe Journalisten vom Matin an. Diese redeten ihm zu, ihren Beruf zu ergreifen. Er tat es. Und zwar von der Pike auf. Mit zwanzig Jahren Faktotum, dann Sekretär bei einem Mann, der ein Skandalblättchen herausgab. Seine Devise war: »Keine Drohungen. Nur ein bißchen Druck.« Murraille mußte die Umschläge mit dem Geld in den Wohnungen der jeweiligen Opfer abholen. Er erinnerte sich, manchmal nicht sehr herzlich empfangen worden zu sein. Einige indessen waren ihm gegenüber von einer schmierigen Freundlichkeit und baten ihn, sich bei seinem Chef zu ihren Gunsten einzusetzen, damit dieser nicht so hohe Forderungen stelle. Und eben die hatten immer »besonders viel auf dem Kerbholz«. Nach einiger Zeit wurde er zum Redakteur befördert, aber die Artikelchen, die er schreiben mußte, waren von erschreckender Eintönigkeit und begannen stets mit: »Wir erfahren aus zuverlässiger Quelle, daß Monsieur X …« oder: »Wie kommt es, daß Monsieur Y …« oder auch: »Stimmt es, daß Monsieur Z …« Dann folgten die »Enthüllungen«, die zu verbreiten Murraille sich anfangs scheute. Sein Chef empfahl ihm, stets mit einer kleinen Moral zu schließen, etwa in der Art: »Die Bösen müssen nun einmal bestraft werden« oder auch mit dem, was er eine »hoffnungsvolle Note« nannte: »Wir wünschen von ganzem Herzen, daß Monsieur X … (oder Monsieur Y …) auf den rechten Weg zurückfindet. Wir sind dessen sogar sicher, denn, wie der Evangelist sagt, der Mensch in seinem dunklen Drange …« usw. Murraille war immer leicht deprimiert, wenn er am Ende des Monats sein Gehalt empfing. Auch die Büroräume in No. 30, Rue de Grammont konnten melancholisch stimmen: verschossene Tapeten, altmodisches Mobiliar, spärliches Licht. All das hatte nichts Anziehendes für einen Jungen seines Alters. Wenn er drei Jahre in diesem Büro blieb, dann, weil er fette Gratifikationen bekam. Sein Chef wußte sich großzügig zu erweisen und gab ihm ein Viertel der Einkünfte. Dieser Mann (wie es schien, eine Art Doppelgänger von Raymond Poincaré) besaß durchaus Gefühl. Oft verfiel er in große Traurigkeit und vertraute Murraille an, daß er nur zum Erpresser geworden sei, weil seine Mitmenschen ihn enttäuscht hätten. Er hatte sie für gute Menschen gehalten, hatte aber bald seinen Irrtum einsehen müssen; da hatte er sich entschlossen, unbarmherzig ihre Schändlichkeiten aufzudecken. Und sie dafür bezahlen zu lassen. Eines Abends in einem Restaurant starb er am Herzinfarkt. Seine letzten Worte waren: »Wenn Sie wüßten! …« Murraille war 25 Jahre alt. Es kamen für ihn schwierige Zeiten. Er schrieb Artikel über Außenpolitik in einigen zweitrangigen Blättern und arbeitete daneben weiter für das Skandalblatt, bei dem er angefangen hatte. Eine Glosse, die er mit »Bullauge« signiert hatte, trug ihm ein Gerichtsverfahren ein. Es handelte sich um einen Angriff auf den Parlamentspräsidenten jener Tage. »Ich erinnere mich eines Anblicks, der mir an einem Juniabend auf den Seine-Quais zuteil wurde. B. erging sich dort und hatte dabei zärtlich die Arme um den Hals zweier hübscher Jungen geschlungen; hinter ihnen, nur zehn Meter entfernt, spazierten zwei Polizisten von der sogenannten ›Sûreté nationale‹. Sie beobachteten, mit der für ihresgleichen charakteristischen Gleichgültigkeit, die schlüpfrigen Liebesbezeugungen des Präsidenten, eines gockelhaften Ästheten … usw.« Murraille brauchte an jenem Tag dringend dreitausend Francs, um seine Miete zu bezahlen.
Bald hatte er unter Journalisten einen denkbar schlechten Ruf. Man nannte ihn allgemein einen »skrupellosen Schreiberling«. Er litt darunter, aber seine Gleichgültigkeit und seine Vorliebe für ein angenehmes Leben machten es ihm unmöglich, sich zu bessern. Er fürchtete immer, an Geldmangel zu leiden, und dieser Gedanke ließ ihn beinahe den Verstand verlieren. Er wäre dann zu allem fähig gewesen, wie ein Süchtiger, der sich unbedingt seine Droge beschaffen muß.
Zu dem Zeitpunkt, da ich ihn kennenlernte, war er obenauf. Endlich leitete er seine eigene Zeitschrift. »Die schlimmen Zeiten, die wir durchmachen«, hatten ihm gestattet, diesen Traum zu verwirklichen. Er profitierte von der allgemeinen Unordnung und vom Dunkel der Nacht. In dieser Gesellschaft, die sich so treiben ließ, fühlte er sich vollkommen wohl. Ich habe mich oft gefragt, wie ein Mann von so vornehmen Manieren (alle, die mit ihm zu tun hatten, sprachen von seiner angeborenen Eleganz und seinem klaren Urteil) so ohne jeglichen Skrupel sein konnte. Etwas gefiel mir an ihm: Er machte sich für seine Person überhaupt keine Illusionen. Ein Regimentskamerad hatte ihn beim Reinigen seines Gewehrs aus Versehen angeschossen, und die Kugel war ein paar Zentimeter über seinem Herzen steckengeblieben. Wie oft hat er mir nicht wiederholt: »Wenn ich ohne mildernde Umstände zum Tode verurteilt werden sollte, dann können die Burschen, denen man befehlen wird, mir ein Dutzend Kugeln in das Fell zu schießen, eine Kugel sparen.«
Marcheret. Er stammte aus dem Quartier des Ternes. Seine Mutter, Witwe eines Obersten, hatte sich bemüht, ihm die beste Erziehung angedeihen zu lassen. Diese frühzeitig gealterte Frau fühlte sich von der Außenwelt bedroht. Sie hätte ihrem Sohn einen standesgemäßen Beruf gewünscht. Da würde er wenigstens kein Risiko eingehen. Marcheret hatte, seit er fünfzehn war, nur eine Idee: so schnell wie möglich aus der winzigen Wohnung in der Rue Saussier-leroi wegzukommen, wo der Marschall Lyautey von der Wand herab ihn mit mildem Blick zu verfolgen schien. (Es stand sogar eine Widmung auf dem Photo: »Für Oberst Marcheret. Herzlichst. Lyautey.«) Seine Mutter hatte bald allen Grund, sich zu beunruhigen: planlose Studien, Faulheit. Vom Lyzeum geschaßt, weil er einem seiner Mitschüler das Genick gebrochen hatte. Eifriger Besuch von Cafés und Vergnügungsstätten. Billard- und Pokerpartien, die sich bis zum Morgengrauen hinzogen. Geldbedarf, der immer dringender wurde. Seine Mutter machte ihm überhaupt keinen Vorwurf. Nicht er war der Schuldige, sondern die anderen, die Bösen, die Kommunisten, die Juden. Wie sehr hätte sie gewünscht, er bliebe stets im sicheren Schutz seines Zimmers … Eines Abends promenierte Marcheret die Avenue de Wagram entlang. Er spürte jene Ruhelosigkeit, die einen mit zwanzig Jahren stoßweise packt, wenn man mit seinem Leben nichts anzufangen weiß. Zu den Gewissensbissen, seiner Mutter Schmerz zu bereiten, gesellte sich der Zorn, nicht mehr als fünfzig Francs in der Tasche zu haben … Das konnte nicht so weitergehen. Er betrat ein Kino. Dort gab es Le Grand Jeu mit Pierre Richard-Willm. Die Geschichte eines jungen Mannes, der in die Fremdenlegion ging. Marcheret glaubte sein eigenes Bild auf der Leinwand zu sehen. Er blieb zwei Vorstellungen hindurch, fasziniert von der Wüste, der arabischen Stadt und den Uniformen. Um 18 Uhr war es bereits der Legionär Guy de Marcheret, der auf das nächste Café zusteuerte und einen weißen Cassis bestellte. Dann noch einen. Morgen würde er sich melden.
Zwei Jahre später, in Marokko, erfuhr er vom Tod seiner Mutter. Sie hatte sich nie damit abfinden können, daß er nicht mehr da war. Kaum hatte er seinen Kummer einem Stubennachbarn erzählt, einem Georgier mit Namen Odicharvi, da schleppte dieser ihn in ein Etablissement in Bousse-Bir, halb Bordell, halb maurisches Café. Am Ende des Abends kam er auf die gute Idee, sein Glas zu erheben, auf Marcheret zu zeigen und mit schallender Stimme zu rufen: »Auf das Wohl des Waisenknaben!« Er hatte recht damit. Marcheret war schon immer ein Waisenkind gewesen. Und wenn er sich der Fremdenlegion anschloß, dann vielleicht, um Spuren seines Vaters wiederzufinden. Aber was ihn dort erwartete, war nichts als die Einsamkeit, der Sand und die Luftspiegelungen der Wüste.
Malariakrank, begleitet von einem Papagei, kehrte er nach Frankreich zurück. »Das Beschissene dabei ist«, – so erklärte er mir – »daß kein Mensch einen am Zug abholen kommt.« Er kam sich überflüssig vor. Er konnte sich nicht mehr an die vielen Lichter und das Getriebe gewöhnen. Er hatte Angst, die Straße zu überqueren, und auf der Place de l'Opéra von Panik ergriffen bat er einen Polizisten, ihn an der Hand bis zum gegenüberliegenden Bürgersteig zu führen. Schließlich hatte er das Glück, einem anderen Ex-Legionär zu begegnen, der eine Bar in der Rue d'Armeillé betrieb. Sie tauschten ihre Erinnerungen aus. Der andere versorgte ihn mit Kost und Logis, übernahm den Papagei, so daß Marcheret wieder mehr oder weniger Geschmack am Leben fand. Er gefiel den Frauen. Es war die Zeit, die lang entschwundene Zeit, als die Fremdenlegion noch die Herzen höher schlagen ließ. Erst eine ungarische Baronin, dann die Witwe eines dicken Industriellen, dann eine Tänzerin vom Tabarin – kurz, »Blondinen«, wie Marcheret zu sagen pflegte, verfielen dem nostalgischen Charme dieses Tropenveteranen, der aus ihren Seufzern beträchtliche Vorteile zu ziehen wußte. Oft, gleichsam aus beruflicher Gewissenhaftigkeit, erschien er in seiner alten Uniform in den Nachtlokalen. Sozusagen als Stimmungskanone.
Maud Gallas. Über sie besitze ich nur wenige Informationen. Sie hatte als Sängerin angefangen – eine Sache ohne Zukunft. Marcheret hat mir versichert, daß sie einmal Geschäftsführerin in einem Nachtlokal im Bezirk der Plaine Monceau war, das ausschließlich von weiblicher Kundschaft frequentiert wurde. Muraille behauptete sogar, sie sei im Zusammenhang mit einem Fall von Hehlerei aus dem Département Seine ausgewiesen worden. Einer ihrer Freunde hatte das »Clos-Foucré« in Beausire gekauft, und dank diesem reichen Gönner führte sie das kleine Hotel.
Annie Murraille. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt. Eine ätherische Blonde. War sie wirklich die Tochter von Murraille? Ich habe das nie aufklären können. Sie wollte beim Film Karriere machen und träumte davon, ihren Namen »in großen Leuchtbuchstaben« zu sehen. Nach ein paar kleineren Rollen wurde sie der Star in Nuit de rafles, einem Film, der heute ganz und gar vergessen ist. Ich vermute, sie verlobte sich mit Marcheret nur, weil er der beste Freund von Murraille war. Sie hegte zu ihrem Vater (war er es wirklich?) eine grenzenlose Zuneigung. Andere Männer interessierten sie sehr. Sie war, wie man so sagt, hemmungslos sexbesessen. Falls sich noch einige Personen an Annie Murraille erinnern sollten, so bewahrten sie von ihr das Bild einer jungen, glücklosen Schauspielerin und einer »Nymphomanin«. Sie litt an Tuberkulose und wollte, da es für diese Krankheit noch keine Heilung gab, ihr Leben genießen …
Sylviane Quimphe habe ich besser gekannt. Bescheidene Verhältnisse. Ihr Vater hatte eine Stellung als Nachtwächter bei den ehemaligen Samson-Fabriken. Ihre ganze Jugend verbrachte sie in einem Geviert, das im Norden von der Avenue Daumesnil und im Süden durch die Quais von La Rapée und Bercy begrenzt wurde. Diese Gegend hat niemals viele Spaziergänger angelockt. An manchen Stellen glaubt man sich in der tiefsten Provinz, und wenn man an der Seine entlanggeht, hat man den Eindruck, man entdecke einen stillgelegten Hafen. Die über den Pont de Bercy fahrende Métro und die Gebäude der Morgue steigern noch die trostlose Melancholie des Ortes. Indessen gibt es in dieser widerwärtigen Szenerie eine privilegierte Zone, die zum Träumen anregt: der Gare de Lyon. Vor diesem Bahnhof machte Sylviane Quimphe jedesmal halt. Mit sechzehn Jahren erforschte sie ihn bis in den letzten Winkel. Besonders die Bahnsteige, auf denen die Fernzüge abfuhren. Bei den Worten »Compagnie internationale des wagons-lits« röteten sich ihre Wangen. Dann ging sie nach Hause in die Rue Corbineau und wiederholte sich dabei die Namen der Städte, die sie niemals kennenlernen würde: Bordighera – Rimini – Wien – Istanbul. Vor dem Mietshaus gab es einen kleinen Platz, auf dem sich in der Dämmerung die ganze Fadheit und der desolate Charme des XII. Arrondissements verdichten. Sie setzte sich auf eine Bank. Warum war sie nicht auf gut Glück in einen der Waggons gestiegen? Sie entschloß sich, nicht mehr nach Hause zurückzukehren. Ihr Vater war ohnehin während der Nacht nicht da. Sie hatte freie Bahn.
Von der Avenue Daumesnil schlenderte sie auf das Straßenlabyrinth zu, das sich »Chinesisches Viertel« nennt. (Ob es wohl heute noch existiert? Eine Kolonie von Asiaten hatte dort schmutzige Bars, kleine Restaurants und sogar, wie es schien, mehrere Opiumhöhlen aufgezogen.) Die buntgemischte Menschheit, die man in der Umgebung von Bahnhöfen trifft, watete in diesem ungesunden Häusergeviert wie in einem Sumpf. Hier fand Sylviane das, was sie suchte: einen ehemaligen Angestellten von Cook – einen Schwätzer von vorteilhaftem Äußeren, der sich mit allerlei Geschäften abgab und alsbald sehr genaue Pläne hinsichtlich der Zukunft dieses noch sehr jungen Mädchens entwickelte. Sie wünschte zu reisen? Das würde man arrangieren. Sein Vetter war zufällig Schlafwagenschaffner. Die beiden Männer boten Sylviane eine Rückfahrkarte Paris–Mailand an. Aber bei der Abfahrt präsentierten sie ihr einen feisten, rosigen Musiker, dessen ausgefallene Launen sie auf der Hinreise zu befriedigen hatte. Und die Rückreise nahm sie in Gesellschaft eines belgischen Industriellen vor. Diese Prostitution nach dem Fahrplan war sehr einträglich, denn die beiden Vettern spielten ihre Rolle als Zutreiber fabelhaft. Der Umstand, daß einer von den beiden bei der Schlafwagengesellschaft angestellt war, erleichterte die Sache: Er fand seine Kunden während der Fahrt, und Sylviane Quimphe erinnerte sich, wie sie einmal im Zug Paris–Zürich acht Männer nacheinander in ihrem Einzelabteil empfangen hatte. Sie war noch keine zwanzig Jahre alt. Trotzdem muß man an Wunder glauben. Im Seitengang eines Zuges, zwischen Basel und La Chaux-de-Fonds machte sie die Bekanntschaft von Jean-Roger Hatmer. Dieser junge Mann mit den traurigen Augen gehörte einer Familie an, die sich im Handel mit Süßwaren und Textilien einen Namen geschaffen hatte. Er hatte soeben eine fette Erbschaft gemacht und wußte nichts damit anzufangen. Übrigens ebensowenig wie mit seinem Leben. Er fand in Sylviane Quimphe einen Lebenszweck, respektierte sie und war ihr völlig ergeben. Während der vier Monate, die ihr gemeinsames Leben dauerte, nahm er sich ihr gegenüber keinerlei Freiheit heraus. Jeden Sonntag schenkte er ihr eine Schatulle voller Schmucksachen und Banknoten, wobei er mit leiser Stimme sagte: »Für alle Fälle.« Er wollte, daß sie später gegen alles gesichert wäre. Hatmer, der immer in Schwarz ging und eine Nickelbrille trug, hatte die Zurückhaltung, Bescheidenheit und Güte, die man manchmal bei alten Bürovorstehern antrifft. Er interessierte sich sehr für Schmetterlinge, versuchte auch, Sylviane Quimphe für diese Passion zu gewinnen, merkte aber bald, daß es sie langweilte. Eines Tages hinterließ er für sie diese Nachricht: »Die wollen mich vor einen Familienrat zitieren und werden mich gewiß in ein Sanatorium sperren. Wir werden uns nicht mehr sehen können. Da ist noch ein kleiner Tintoretto an der linken Wand im Salon. Nehmen Sie ihn. Und verkaufen Sie ihn. Für alle Fälle.« Sie hörte nie wieder etwas von ihm. Dank dieses fürsorglichen Burschen war sie für den Rest ihrer Tage aller materiellen Sorgen enthoben. Sie hatte noch andere Abenteuer, aber mir ist plötzlich nicht mehr danach zumute.
Murraille, Marcheret, Maud Gallas, Sylviane Quimphe … ich gebe hier ihre Steckbriefe nicht zum bloßen Vergnügen. Auch nicht aus Freude am Pittoresken, denn ich habe leider überhaupt keine Phantasie. Ich widme hier meine Aufmerksamkeit diesen gescheiterten Randexistenzen, um durch sie das sich verflüchtigende Bild meines Vaters zurückzugewinnen. Ich weiß so gut wie nichts von ihm. Aber ich werde etwas erfinden.
Mit siebzehn Jahren bin ich ihm zum erstenmal begegnet. Der Vorsteher des Schulinternats Saint-Antoine in Bordeaux kam mit der Nachricht, daß ich im Sprechzimmer erwartet würde. Ein Unbekannter mit sonnengebräunter Haut, in einem dunkelgrauen Flanellanzug erhob sich, als er mich erblickte.
»Ich bin dein Papa …«
Später fanden wir uns draußen wieder, an einem Juli-Nachmittag, der zugleich das Ende des Schuljahres bedeutete.
»Du hast also das Abitur geschafft?«
Er lächelte mir zu. Ich warf einen letzten Blick auf die Mauern des Internats, in dem man mich acht Jahre lang hatte versauern lassen. Wenn ich weiter in meinen Erinnerungen zurückgehe, sehe ich eine grauhaarige Dame vor mir, der er mich anvertraut hatte. Diese Dame hatte vor dem Krieg als Garderobiere im Frolic's gearbeitet (einer Bar in der Rue de Grammont) und sich danach nach Libourne zurückgezogen. Dort, in ihrem Haus, bin ich aufgewachsen.
Und dann das Internat in Bordeaux.
Es regnet. Mein Vater und ich gehen wortlos Seite an Seite bis zum Quai des Chartrons, wo meine Wohltäter wohnen, die Pessac. (Sie gehören zu jener Wein- und Cognac-Aristokratie, der ich einen raschen Verfall wünsche.) Die Nachmittage, die ich bei ihnen verbringen mußte, zählen zu den traurigsten meines Lebens. Ich will nicht weiter davon reden.
Wir steigen die pompöse Treppe hinauf. Das Hausmädchen öffnet uns. Ich laufe zu dem Verschlag, in dem ich mit ihrer Erlaubnis einen Koffer voller Bücher gelassen hatte. (Romane von Bourget, von Marcel Prévost oder von Duvernois, die im Internat streng verboten waren.) Plötzlich höre ich die spröde Stimme von Monsieur Pessac: »Was machen Sie hier?« Er wendet sich an meinen Vater. Als er mich mit dem Koffer in der Hand erblickt, runzelt er die Stirn: »Sie wollen fort? Aber wer ist dieser Herr?« Ich zögere, dann stammle ich: »Mein Vater.« Offensichtlich glaubt er mir nicht. Mißtrauisch: »Wenn ich das richtig sehe, machen Sie sich wie ein Dieb davon?« Dieser Satz hat sich meinem Gedächtnis eingeprägt, denn wir glichen tatsächlich zwei Dieben, die man in flagranti geschnappt hat. Mein Vater blieb vor diesem kleinen Mann mit Schnurrbärtchen in brauner Hausjacke stumm und kaute an seiner Zigarre herum, um sich etwas Haltung zu geben. Und ich hatte nur einen Gedanken: abhauen, so schnell wie möglich. Monsieur Pessac hatte sich zu meinem Vater gewandt und betrachtete ihn neugierig. Unterdessen erschien auch seine Frau. Dann seine Tochter und sein älterer Sohn. Sie standen da und beobachteten uns schweigend, und ich hatte das Gefühl, daß wir wie Einbrecher in diese bürgerliche Wohnung gelangt waren. Als mein Vater die Asche seiner Zigarre auf den Boden fallen ließ, bemerkte ich auf ihren Gesichtern amüsierte Verachtung. Die Tochter prustete vor Lachen. Ihr Bruder, ein pickeliger Grünschnabel, der sich in »englischem Chic« gefiel (in Bordeaux en vogue), sagte in hochnäsigem Ton: »Wünscht der Herr vielleicht einen Aschenbecher? …« – »Laß doch, François-Marie«, murmelte Madame Pessac. »Mach dich nicht gemein.« Und sie hatte diese letzten Worte besonders betont und dabei meinen Vater beharrlich angeblickt, wie um ihm zu verstehen zu geben, daß dieses Adjektiv auf ihn gemünzt war. Monsieur Pessac wahrte sein hochmütiges Phlegma. Ich glaube, was sie eigentlich aus der Fassung gebracht hatte, war das hellgrüne Hemd meines Vaters und sein levantinischer Typus. Angesichts der offenkundigen Feindseligkeit dieser vier Personen wirkte er wie ein großer Schmetterling, den man aufgespießt hat. Er drehte seine Zigarre und wußte nicht, wo er sie ausdrücken sollte. Er wich zum Ausgang zurück. Die anderen rührten sich nicht und genossen unverhohlen seine Verlegenheit. Ganz plötzlich überkam mich eine Art von Zärtlichkeit für diesen Mann, den ich noch kaum kannte, und ich ging auf ihn zu und sagte mit lauter Stimme: »Mein Herr, erlauben Sie mir, Sie zu küssen.« Danach nahm ich ihm die Zigarre aus den Fingern und drückte sie langsam und genüßlich auf dem Tisch mit der Einlegarbeit aus, den Madame Pessac besonders liebte. Dann zog ich meinen Vater am Ärmel mit.
»Das genügt wohl«, sagte ich zu ihm. »Gehen wir.«
Wir begaben uns zum Hotel Splendid, wo seine Koffer standen. Ein Taxi fuhr uns zum Bahnhof Saint-Jean. Im Zug bemühten wir uns ein Gespräch in Gang zu bringen. Er erklärte mir, daß seine »Geschäfte« ihn gehindert hätten, mir ein Lebenszeichen zu geben, aber daß wir von nun an zusammen in Paris wohnen und einander nicht mehr verlassen würden. Ich stammelte ein paar Dankesworte. »Schließlich hast du viel durchmachen müssen«, sagte er rundheraus. Er schlug mir vor, ihn nicht mehr »Monsieur« zu nennen. Eine Stunde verlief in völligem Schweigen, und ich schlug seine Einladung aus, ihn in den Speisewagen zu begleiten. Ich benutzte seine Abwesenheit, um einen Blick in seine schwarze Mappe zu tun, die er auf der Sitzbank liegen gelassen hatte. Sie enthielt nichts weiter als einen Nansen-Paß. Auf ihm stand der gleiche Name wie meiner. Dazu zwei Vornamen: Chalva, Henri. Er war in Alexandria geboren, zur der Zeit, denke ich, in der diese Stadt noch in einzigartigem Glanz erstrahlte.
Als er ins Abteil zurückkehrte, reichte er mir einen Mandelkuchen – eine Geste, die mich rührte – und fragte mich, ob ich wirklich das Abitur in der Tasche hätte. (Er sprach das Wort mit gespitzten Lippen aus, als ob es ihn mit ängstlicher Scheu erfüllte.) Auf meine bejahende Antwort schüttelte er gedankenvoll den Kopf. Ich wagte es, ihm ein paar Fragen zu stellen: Warum hatte er mich in Bordeaux aufgesucht? Wie hatte er meine Spur auffinden können? Statt jeder Antwort begnügte er sich mit ausweichenden Handbewegungen oder mit Phrasen wie: »Das werde ich dir erklären …«, »Du wirst sehen«, »Das Leben, du weißt ja …« Dann seufzte er und nahm eine nachdenkliche Haltung an.
Paris-Austerlitz. Er zögerte sichtlich, bevor er dem Taxifahrer seine Adresse gab. (In der Folgezeit kam es einige Male vor, daß wir uns zum Quai de Grenelle fahren ließen, während wir doch am Boulevard Kellermann wohnten. Unsere Adressen wechselten so oft, daß wir sie durcheinanderbrachten, und wir erkannten unseren Irrtum jedesmal zu spät.) Zur Zeit war es Square Villaret-de-Joyeuse. Ich stellte mir einen Garten vor, in dem sich der Gesang der Vögel mit dem Rauschen der Fontänen mischte. Aber nein. Eine Sackgasse, gesäumt von mächtigen Mietshäusern. Die Wohnung befand sich im obersten Stock und blickte durch komische Fenster in Form von Bullaugen zur Straße hin. Drei Zimmer mit sehr niedriger Decke. Ein großer Tisch und zwei abgewetzte Ledersessel bildeten das Mobiliar des »Salons«. Die Wände waren mit einer Tapete bespannt, auf der Rosa vorherrschte, eine Nachahmung der Gemälde von Jouy. Eine gewaltige bronzene Hängelampe. (Aber ich bin dessen nicht ganz sicher: Ich kann die Wohnung am Square Villaret-de-Joyeuse und die in der Avenue Félix-Faure, wo wir bei einem Rentnerehepaar in Untermiete waren, nicht gut auseinanderhalten. In der einen wie in der anderen der gleiche muffige Geruch.) Mein Vater wies mir das kleinste Zimmer an. Eine Matratze auf dem nackten Fußboden. »Entschuldige diesen Mangel an Komfort«, sagte er. »Im übrigen werden wir nicht lange hier bleiben.« Ich hörte ihn noch stundenlang auf und ab gehen. So begann unser gemeinsames Leben.
In der ersten Zeit bezeigte er mir eine Höflichkeit, eine demütige Achtung, wie sie ein Sohn nur selten bei seinem Vater findet. Wenn er zu mir sprach, spürte ich, daß er sich um eine gepflegte Ausdruckweise bemühte, aber das Resultat war jämmerlich. Er benutzte immer gekünstelte Wendungen, verlor sich in Umschreibungen und wirkte ständig so, als wollte er sich entschuldigen oder einem Tadel zuvorkommen. Er brachte mir mein Frühstück ans Bett, wie es auch ein Hotelboy getan hätte, mit zeremoniösen Bewegungen, die von diesem Interieur stark abstachen: Die Tapeten meines Zimmers waren stellenweise zerrissen, eine nackte Glühlampe hing von der Decke, und wenn er die Vorhänge aufzog, fiel regelmäßig die Gardinenstange herunter. Eines Tages redete er mich mit meinem Vornamen an und geriet dadurch in höchste Verwirrung. Welchem Umstand verdankte ich soviel Rücksicht? Daß es mein »Bakkalaureat« war, erkannte ich erst, als er selbst nach Bordeaux schrieb, man möge mir das Zertifikat über die bestandene Prüfung schicken. Als es kam, ließ er es einrahmen und hängte es zwischen die beiden »Fenster« des »Salons«. Ich bemerkte, daß er eine zweite Ausfertigung in seiner Mappe aufbewahrte. Während eines nächtlichen Spaziergangs wies er das Dokument zwei Schutzleuten vor, die uns nach unseren Pässen fragten. Und als er sah, daß sein Nansen-Paß sie verblüffte, wiederholte er fünf- oder sechsmal nacheinander, daß sein Sohn »das Abitur« habe. Nach dem Essen (mein Vater bereitete oft ein gallertartiges Gemisch, das er »ägyptischen Reis« nannte), zündete er seine Zigarre an, warf von Zeit zu Zeit einen unruhigen Blick auf mein Diplom und verfiel dann in tiefe Niedergeschlagenheit. Seine »Geschäfte« – so erklärte er mir – trugen ihm viel Ärger ein. Er, der so streitbar war und seit seiner frühesten Jugend der »harten Wirklichkeit des Lebens« die Stirn geboten hatte, fühlte sich »matt«, und die Art, wie er sagte: »Ich bin ein Versager …«, machte mir tiefen Eindruck. Dann hob er den Kopf: »Aber du, du hast das Leben noch vor dir!« – Ich pflichtete ihm höflich bei. – »Zumal mit deinem Bakkalaureat … Wenn ich diese Chance gehabt hätte …« – Seine Stimme wurde heiser – »Dieses Examen, das ist doch immerhin eine gute Referenz …« Noch immer höre ich diesen kleinen Satz. Er rührt mich wie eine Melodie aus vergangenen Zeiten.
Mindestens eine Woche verging, ohne daß ich begriff, worin seine Geschäfte eigentlich bestanden. Ich hörte ihn früh am Morgen weggehen, und er kam erst zurück, um das Abendessen zu bereiten. Aus einer schwarzen Leinwandtasche packte er die Lebensmittel aus – Pfefferschoten, Reis, Gewürze, Hammelfleisch, Schweineschmalz, eingemachtes Obst, Grieß –, band sich eine Küchenschürze um und vermengte, nachdem er seine Ringe abgelegt hatte, in einer Pfanne den Inhalt der Einkaufstasche. Dann setzte er sich dem gerahmten Diplom gegenüber, forderte auch mich zum Sitzen auf, und wir aßen.
Schließlich, an einem Donnerstag, hat er mich gebeten, ihn zu begleiten. Er wollte eine »sehr seltene« Briefmarke verkaufen, und dieses Vorhaben machte ihn ganz fiebrig. Wir gingen die Avenue de la Grande-Armée hinunter. Dann die Champs-Élysées. Mehrmals zeigte er mir diese Briefmarke, die in einer Zellophanhülle steckte. Es handelte sich, so sagte er, um ein »einmaliges« Stück aus Kuwait, das sich »Emir Raschid« nannte. Wir kamen auf dem Platz Marigny an. Auf diesem Raum zwischen dem Theater und der Avenue Gabriel wurde die Briefmarkenbörse abgehalten. (Ob es sie heute noch gibt?) Leute fanden sich zu kleinen Gruppen zusammen, sprachen mit leiser Stimme, öffneten kleine Taschen, beugten sich darüber, um den Inhalt zu prüfen, blätterten in Katalogen, zückten Vergrößerungsgläser und Pinzetten. Diese heimliche Betriebsamkeit, diese Typen mit dem Gehabe von Chirurgen und Verschwörern versetzten mich in lebhafte Unruhe. Bald fand sich mein Vater in einer kleinen Schar von Menschen wieder. Etwa ein Dutzend Sammler umringten ihn. Man stritt sich, um zu ergründen, ob diese Briefmarke, ja oder nein, echt sei. Mein Vater, von den vielen Fragen, die von allen Seiten auf ihn einstürzten, überrumpelt, brachte kein einziges Wort hervor. Wie kam es, daß sein »Emir Raschid« olivbraun war und nicht karmin? War die Zähnung wirklich dreizehn/vierzehn? Hatte sie einen »Aufdruck«? Gehörte sie nicht einfach zu einer beliebigen »Auswahlsendung«? Hatte man bemerkt, wie »dünn« sie war? Der Ton wurde immer giftiger. Man nannte meinen Vater einen »Betrüger« und »Gauner«. Man beschuldigte ihn, er wolle nur »ein wertloses Stück abstoßen«, das nicht einmal im Katalog Champion angeführt war. Einer dieser Rasenden packte ihn beim Kragen und ohrfeigte ihn mit voller Wucht. Ein anderer boxte ihn in die Rippen. Es sah ganz danach aus, als würden sie ihn wegen dieser Briefmarke noch lynchen wollen. (Was viel über die menschliche Seele aussagt.) Und da mir diese Aussicht unerträglich war, schaltete ich mich endlich ein. Zufällig hatte ich einen Schirm in den Händen. Ich teilte aufs Geratewohl ein paar Schläge aus, nutzte den Überraschungseffekt und entriß meinen Vater dieser philatelistischen Meute. Wir rannten bis zum Faubourg Saint-Honoré.
In den folgenden Tagen erklärte mir mein Vater, wohl zum Dank dafür, daß ich ihm das Leben gerettet hatte, in allen Einzelheiten die Art seiner Geschäfte und schlug mir vor, ihm dabei zu helfen. Seine Kundschaft bestand aus etwa zwanzig Wirrköpfen, die überall in Frankreich verstreut saßen und mit denen er dank spezieller Fachzeitschriften in Verbindung getreten war. Es handelte sich um fanatische Sammler, die den verrücktesten Dingen nachjagten: alte Stiefel, Korsetts, Nargilés, Postkarten, Keuschheitsgürtel, Phonographen, Azetylenlampen, Mokassins und Ballschühchen … Er durchstreifte Paris auf der Suche nach diesen Gegenständen, die er den Interessenten per Post zusandte. Er entlockte ihnen im voraus fette Summen, die in keinem Verhältnis zu dem wirklichen Wert der Ware standen. Einer seiner Korrespondenten zahlte hunderttausend Francs für jedes Stück der Chaix'schen Kursbücher von vor dem Krieg. Ein anderer hatte ihm dreihundert Francs a conto gezahlt unter der Bedingung, daß er ihm die Priorität auf alle Büsten und Portraits von Waldeck-Rousseau reservierte, die er fände. … Mein Vater, der sich unter diesen Verrückten einer noch viel größeren Kundschaft versichern wollte, hatte den Plan, sie zu einer »Liga der französischen Sammler« (L. F. S.) zusammenzuschließen, sich zum Präsidenten und Schatzmeister zu machen und ihnen große Spenden abzuverlangen. Die Philatelisten hatten ihn tief enttäuscht. Er mußte sich eingestehen, daß er sie nicht ausnutzen konnte. Das waren Sammler mit kühlem Kopf, listig, zynisch und erbarmungslos. (Man macht sich nur eine schwache Vorstellung von dem Machiavellismus und der Roheit dieser Krämerseelen. Wie viele Verbrechen sind schon begangen worden wegen einer Sierra Leone »mit braungelbem Überdruck« oder einer gradlinig »perforierten« aus Japan.) Er hatte keine Lust, seinen traurigen Ausflug zum Carré Marigny zu wiederholen, der seine Selbstachtung zutiefst verletzt hatte. Anfangs benutzte er mich als Laufburschen. Ich wollte ihm meine Tatkraft beweisen und sprach zu ihm von einem Markt, an den er bis dahin nicht gedacht hatte: die Bibliophilen. Meine Idee gefiel ihm, und er ließ mir freie Hand. Vom Leben wußte ich noch nicht viel, aber in Bordeaux hatte ich meinen Literatur-Lanson gebüffelt. Alle französischen Schriftsteller, vom seichtesten bis zum unergründlichsten, waren mir vertraut. Wozu hätte mir diese sonderbare Gelehrsamkeit dienen sollen, wenn nicht dazu, mich in den Handel mit Büchern einzuführen? Ich begriff sehr bald, daß es schwierig war, sich zu niedrigem Preis seltene Ausgaben zu beschaffen. Ich fand nur lauter Editionen zweiter Ordnung: »Originalausgaben« von Vautel, Fernand Gregh oder Eugène de Molder … Zufällig kaufte ich in der Passage Jouffroy für drei Francs fünfzig ein Exemplar von Matière et mémoire. Da war auf dem Vorsatzblatt die folgende komische Widmung von Bergson an Jean Jaurès zu lesen: »Wann wirst du endlich aufhören, mich die Miß zu nennen?« Zwei Experten erkannten in aller Form die Handschrift des Meisters, und ich verkaufte diese Kuriosität für 100 000 Francs an einen Liebhaber.
Durch diesen ersten Erfolg ermutigt, beschloß ich, selbst falsche Widmungen herzustellen, die jeweils einen überraschenden Aspekt dieses oder jenes Autors enthüllten. Die, deren Schrift ich am leichtesten nachzuahmen verstand, waren Charles Maurras und Maurice Barrès. Einen Maurras verkaufte ich für 500 000 Francs wegen des folgenden Sätzchens: »Für Léon Blum als Zeugnis der Bewunderung. Ob wir einmal zusammen frühstücken sollten? Das Leben ist so kurz … Maurras.« Ein Band der Déracinés von Barrès erzielte 700 000 Francs. Er war dem Hauptmann Dreyfus gewidmet: »Nur Mut, Alfred. Herzlichst Maurice.« Aber ich begriff bald, daß die Kundschaft sich am meisten gerade für das Privatleben der Schriftsteller interessierte. Meine Widmungen nahmen daraufhin einen frivolen Ton an, und demgemäß stiegen meine Preise. Ich suchte mir zeitgenössische Autoren aus. Da einige von ihnen noch leben, werde ich nichts weiter darüber sagen, um mir gerichtliche Folgen zu ersparen. Jedenfalls habe ich auf ihrem Rücken ein schönes Stück Geld verdient.
Solcherart war also unser Handel. Unsere Geschäfte gingen bestens, da wir Leute ausbeuteten, die nicht ganz bei Verstand waren. Wenn ich mich unserer Tricks erinnere, überkommt mich tiefe Traurigkeit. Mir wäre lieber gewesen, mein Leben hätte in einem klareren Licht begonnen. Aber was kann ein junger, auf sich selbst gestellter Mann schon in Paris anfangen? Was kann dieser Unglückliche tun? Wenn mein Vater einen Teil unseres Kapitals auf den Kauf von Hemden und Krawatten von zweifelhaftem Geschmack verwandte, so versuchte er doch auch, es durch Operationen an der Börse nutzbringend anzulegen. Sah ich ihn nicht in einen Sessel gekauert mit ganzen Aktienpaketen unter den Armen? … Er stapelte sie in den Korridoren unserer jeweiligen Behausung, sah sie durch, sortierte sie und erfaßte sie dann in einer Liste. Schließlich begriff ich, daß diese Aktien von Gesellschaften stammten, die in Konkurs gegangen waren oder seit langem nicht mehr existierten. Er glaubte felsenfest daran, sie noch benutzen und wieder auf den Markt bringen zu können. »Wenn wir erst wieder an der Börse notiert werden …«, pflegte er mit einem kleinen Augenzwinkern zu sagen.
Und dann haben wir, erinnere ich mich, eine Limousine aus zweiter Hand gekauft. An Bord dieses alten Talbot unternahmen wir nächtliche Ausfahrten in Paris. Ehe wir losfuhren, zogen wir immer in aller Form das Los. An die zwanzig Zettelchen waren auf dem Tisch mit den geschwungenen Beinen im Salon verstreut. Wir wählten auf gut Glück eins aus, auf dem unser Reiseziel geschrieben stand. Batignolles-Grenelle, Auteuil-Picpus. Passy-La Villette. Oder wir machten uns zu einem dieser Viertel mit Geheimnamen auf: les Épinettes, la Maison-Blanche, Bel-Air, l'Amérique, la Glacière, Plaisance, la Petite-Pologne … Ich brauche nur mit dem Absatz auf gewisse empfindliche Stellen von Paris zu treten, und schon schießen die Erinnerungen funkensprühend hervor. Diese Place d'Italie zum Beispiel, wo wir auf unseren langen Touren Station machten … Es gab dort ein Café, das sich Clair de Lune nannte. Dort produzierten sich gegen ein Uhr morgens sämtliche Veteranen der Music-Hall: Akkordeonspieler aus der Vorkriegszeit, Tangotänzer mit weißen Haaren, die auf der Bühne noch einmal schmachtend die Gewandtheit ihrer Jugend wiederzufinden suchten, geschminkte alte Soubretten, die das Repertoire von Fréhel oder von Suzy Solidor sangen. Ein paar verzweifelte Spaßmacher sorgten für die »komischen Einlagen«. Das Orchester bestand aus Herren im Smoking. Es war eins der Lieblingslokale meines Vaters, der an diesen gespenstischen Darbietungen Vergnügen fand. Ich habe niemals begriffen, warum.
Und nicht zu vergessen, das heimliche Bordell in Nr. 73 Avenue Reille am Rand des Park Montsouris. Mein Vater führte dort endlose vertrauliche Gespräche mit der Directrice, einer blonden Person mit einem Puppengesicht. Sie war aus Alexandrien wie er auch, und sie gedachten seufzend der Abende von Sidi Bishr, der Bar Pastroudis und so vieler Dinge, die heute verschwunden sind … Oft blieben wir bis zum Morgengrauen in dieser ägyptischen Enklave des XIV. Arrondissements. Aber noch andere Etappen reizten uns auf unserer Irrfahrt. (oder unserer Flucht?) Am Boulevard Murat, ein zwischen den Häuserblocks verstecktes Nachtlokal. Der Speisesaal war stets leer, und an einer der Wände hing aus unerfindlichen Gründen ein großes Foto des erzkatholischen Schriftstellers Daniel-Rops. Zwischen Maillot und Champerret eine pseudo-amerikanische Bar, Treffpunkt einer ganzen Horde von Buchmachern. Und, wenn wir uns in den äußersten Norden von Paris vorwagten – das Viertel der Docks und der Schlachthöfe –, machten wir im »Boeuf Bleu« halt, Place de Joinville, am Ufer des Kanals des Ourcq. Diese Stelle liebte mein Vater besonders, denn sie erinnerte ihn an das Viertel Saint-André in Antwerpen, wo er einmal gewohnt hatte. Wir steuerten auch den Südosten an. Dort findet man schattige Avenuen, die bereits den Bois de Vincennes ankündigen. Wir kehrten im Chez Raimo ein, Place Daumesnil, das zu dieser späten Stunde noch geöffnet war. Eine melancholische »Eiskonditorei«, wie man sie noch in Badeorten findet und die außer uns kein Mensch zu kennen schien. Noch andere Orte tauchen manchmal plötzlich wieder in meinem Gedächtnis auf. Unsere verschiedenen Adressen: Nr. 56 Boulevard Kellermann mit Blick auf den Friedhof von Gentilly; die Wohnung in der Rue de Regard, wo der Vormieter eine Musikbox vergessen hatte, die ich für 30 000 Francs verkaufte. Das spießige Mietshaus der Avenue Félix-Faure und die Portiersfrau, die uns jedesmal mit den Worten: »Da kommen die Juden!« empfing. Oder auch die Abende in einer baufälligen Drei-Zimmer-Wohnung am Quai de Grenelle nahe beim Vélodrome d'Hiver. Das elektrische Licht funktionierte nicht. Ans Fenster gelehnt, verfolgten wir das Ankommen und Abfahren der Hochbahn. Mein Vater trug eine Hausjoppe, die an mehreren Stellen durchlöchert war. Er wies auf die Zitadelle von Passy auf dem anderen Ufer und sagte in bestimmtem Ton: »Eines Tages werden wir ein eigenes Haus am Trocadéro besitzen!« Vorläufig jedoch bestellte er mich in die Hallen der großen Hotels. Dort kam er sich wichtiger vor, besser gerüstet für seine hochfliegenden Finanzpläne. Dort hielt er sich ganze Nachmittage auf. Wie viele Male mußte ich zu ihm ins Majestic, ins Continental, ins Claridge, ins Astoria … Diese flüchtigen Orte paßten zu einer so rastlos schweifenden Seele wie der seinen.
Jeden Morgen empfing er mich in seinem »Büro« in der Rue des Jardins-Saint-Paul. Ein riesiges leeres Zimmer, dessen Einrichtung nur aus einem Korbsessel und einem Empire-Schreibtisch bestand. Die Pakete, die wir noch am gleichen Tag verschicken mußten, waren an den Wänden gestapelt. Nachdem wir ein Verzeichnis mit den genauen Namen und Adressen der Empfänger aufgestellt hatten, hielten wir eine Arbeitsbesprechung ab. Ich berichtete ihm über die Bücherkäufe, die ich vorhatte, und über technische Einzelheiten meiner gefälschten Widmungen. Die Anwendung von Tinten, Schreibfedern oder Kugelschreiber, je nach Autor verschieden. Wir prüften unsere Buchführung und lasen aufmerksam die Fachzeitung für Sammler. Danach schafften wir die Pakete hinunter zu unserem Talbot und verstauten sie recht und schlecht auf dem Rücksitz. Diese Arbeit für Schauerleute erschöpfte mich restlos.
Mein Vater machte sich dann auf die Rundfahrt zu den Bahnhöfen, um die Ladung zu expedieren. Den Nachmittag würde er in seinem Warenlager in dem Stadtviertel Javel verbringen, würde aus dem Gerümpel ein Dutzend Gegenstände auswählen, die unsere Kunden interessieren könnten, sie in die Rue des Jardins-Saint-Paul transportieren und sich an das Verpacken machen. Danach versorgte er sich mit neuer Handelsware. Wir mußten die Bestellungen unserer Kundschaft so prompt wie möglich ausführen. Diese Verrückten können nicht lange warten.
Auch ich ging aus, einen Koffer an der Hand, und schürfte bis zum Abend in einem Bezirk, der von der Bastille, der Place de la République, den großen Boulevards, der Avenue de l'Opéra und der Seine begrenzt ist. Diese Viertel haben ihren eigenen Reiz. Saint-Paul, wo ich meinen Lebensabend zu verbringen gedachte. Ein kleiner Laden würde mir genügen, ein kleiner Handel mit irgend etwas. Solange es nicht in der Rue Pavée oder Rue du Roi-de-Sicile wäre, dem Ghetto, in das man schicksalhaft eines Tages zurückkehrt. Am »Temple« spürte ich meinen Fälscherinstinkt wiedererwachen. Am »Sentier«, in diesem orientalischen Kleinstaat, der von der Place du Caire, der Rue du Nil, der Passage ben-Aïad und der Rue d'Aboukir gebildet wird, mußte ich an meinen armen Vater denken. Die vier ersten Arrondissements teilen sich in eine Vielheit von Provinzen, die einander berühren und von denen ich schließlich die unsichtbaren Grenzen erkennen lernte. Beaubourg, Grenéta, le Mail, la Pointe Saint-Eustache, les Victoires … Meine letzte Station war die Librairie Petit-Mirioux in der Galerie Vivienne. Dort pflegte ich gegen Abend anzukommen. Ich inspizierte die Regale und war sicher zu finden, was ich brauchte. Madame Petit-Mirioux bewahrte dort die literarische Produktion der letzten hundert Jahre auf. Wie viele Autoren, wie viele zu Unrecht vergessene Bücher … Wir stellten es bedauernd fest. Diese Leute hatten sich soviel Mühe umsonst gemacht … Wir trösteten uns gegenseitig und versicherten einander, daß es noch Liebhaber für Pierre Hamp oder für Jean-José Frappa gäbe und daß eines Tages, früher oder später, auch die Brüder Fischer aus dem Purgatorium erlöst würden. Unter solchen ermutigenden Reden trennten wir uns. Die anderen Lädchen der Galerie Vivienne schienen seit einem Jahrhundert geschlossen. Im Schaufenster einer Musikalienhandlung drei vergilbte Partituren von Offenbach. Ich setzte mich auf meinen Koffer. Kein Laut war zu hören. Die Zeit war irgendwo zwischen der Juli-Monarchie und dem Zweiten Kaiserreich stehengeblieben. Am Ende der Passage ein schwacher Lichtschein aus der Buchhandlung, und ich erkannte nur mit Mühe die Gestalt von Madame Petit-Mirioux. Wie lange noch würde sie hier auf Posten sein? Arme alte Wächterin.
Und dann die verlassenen Arkaden des Palais Royal. Einstmals vergnügte man sich dort. Das ist vorbei. Ich ging durch die Gärten. Eine Zone des Schweigens und des sanften Halbdunkels, in dem dir die Erinnerung an verblichene Jahre und nicht eingelöste Versprechungen ans Herz greift. Place du Théâtre Français. Der Lichtschein blendet dich. Du bist wie der Taucher, der allzu plötzlich an die Oberfläche zurückkehrt. Ich sollte »Papa« in einer Karawanserei der Champs-Élysées wiedertreffen. Wir würden den Talbot nehmen, um, wie gewohnt, Paris zu durchstreifen.
Die Avenue de l'Opéra lag vor mir. Sie kündigte andere Avenuen an, andere Straßen, die uns im Nu zu den vier wichtigsten Punkten bringen würden. Mein Herz schlug ein wenig stärker. Meine einzigen Ruhepunkte inmitten so vieler Ungewißheiten, das einzige Terrain, das sich nicht verflüchtigte, das waren die Straßenkreuzungen und Gehsteige dieser Stadt, in der ich mich zweifellos eines Tages allein wiederfinden würde.
Jetzt will ich, so schwer es mir auch fällt, zu der »schmerzlichen Episode auf der Métrostation George-V« kommen. Seit mehreren Wochen interessierte sich mein Vater lebhaft für die »Petite Ceinture«, die längst außer Betrieb gesetzte Eisenbahnlinie rund um Paris. Hatte er etwa vor, sie durch eine Spendenaktion wieder instandsetzen zu lassen? Eine Anleihe bei den Banken? Jeden Sonntag bat er mich, ihn in die Außenviertel zu begleiten, und wir gingen zu Fuß diesen ehemaligen Schienenweg entlang. Die Bahnhöfe dieser Strecke waren verwaist oder in Warenlager umgewandelt. Die Geleise waren völlig von Unkraut überwuchert. Von Zeit zu Zeit blieb mein Vater stehen, um sich eine Notiz oder eine rohe Skizze in sein Büchlein zu machen. Welchen Traum verfolgte er? Erwartete er vielleicht einen Zug, der niemals kommen würde?
An diesem Sonntag, dem 17. Juni, waren wir der »Petite Ceinture« durch das XII. Arrondissement gefolgt. Nicht ohne Schwierigkeiten. Bei der Rue de Montempoivre vereinigt sich die Strecke mit der Linie von Vincennes, und dort gingen wir schließlich völlig in die Irre. Nach drei Stunden, total erschöpft von diesem Schienenlabyrinth, beschlossen wir, mit der Métro nach Hause zurückzufahren. Mein Vater schien mit seinem Nachmittag unzufrieden. Gewöhnlich war er, wenn wir von unseren Exkursionen zurückkamen, bester Laune und zeigte mir seine Notizen. Er würde demnächst – so erklärte er mir – eine »seriöse« Dokumentation über die »Petite Ceinture« anfertigen und sie den städtischen Behörden zuleiten.
»Warten wir's ab …«
Was? Ich wagte nicht, ihn danach zu fragen. Aber an diesem Sonntagnachmittag, dem 17. Juni, war seine schöne Begeisterung dahingeschmolzen. In dem Abteil der Métro Vincennes–Neuilly riß er ein Blatt nach dem anderen aus seinem Notizbuch und zerfetzte sie in winzige Stücke, die er langsam wie Konfetti verstreute. Das alles mit den Bewegungen eines Nachtwandlers und mit einer kleinlichen Wut, die ich an ihm nicht kannte. Ich versuchte, ihn zu beruhigen. Ich sagte ihm, es sei wirklich schade, eine so wichtige Arbeit mit einem Schlag zu zerstören, und daß ich größtes Vertrauen in seine organisatorischen Fähigkeiten hätte. Er fixierte mich mit glasigem Blick. Auf der Station George-V stiegen wir dann aus. Wir warteten auf dem Bahnsteig. Mein Vater stand mit verdrossener Miene da. Die Station füllte sich allmählich, wie sonst nur zu den Stoßzeiten. Alle diese Leute kamen vom Spaziergang auf den Champs-Élysées oder aus dem Kino. Wir standen dicht aneinander gedrängt. Ich in der ersten Reihe, am Rande des Bahnsteigs. Unmöglich zurückzutreten. Ich wandte mich nach meinem Vater um. Von seinem Gesicht tropfte der Schweiß. Das Rumpeln der U-Bahn. In dem Augenblick, als sie hervorschoß, erhielt ich einen heftigen Stoß in den Rücken.
Dann liege ich auf einer der Bänke ausgestreckt. Eine kleine Gruppe Neugieriger hat sich um mich versammelt, murmelnd. Einer von ihnen beugt sich zu mir herab, um mir zu sagen, daß ich noch einmal »gut davongekommen« bin. Ein anderer in Uniform und Mütze (zweifellos ein Angestellter der Métro) erklärt, daß er »die Polizei verständigen« wird. Mein Vater hält sich im Hintergrund. Er hüstelt.
Zwei Gendarmen helfen mir auf. Ihre Hände liegen unter meinen Achseln. Wir durchqueren die U-Bahn-Station. Die Leute wenden sich nach uns um. Mein Vater folgt fast widerwillig. Wir steigen in den Polizeiwagen, der in der Avenue George-V geparkt ist. Die Gäste auf der Terrasse von Fouquet's genießen den schönen Sommerabend.
Wir sitzen nebeneinander. Mein Vater hält den Kopf gesenkt. Die beiden Polizisten uns gegenüber schweigen. Wir halten vor dem Revier in der Rue Clément-Marot. Beim Hineingehen zögert mein Vater. Seine Lippen zucken nervös.
Die Beamten wechseln ein paar Worte mit einem großen hageren Mann. Der Kommissar? Er fragt uns nach unseren Papieren. Sichtlich widerstrebend zeigt mein Vater seinen Nansen-Paß vor.
»Flüchtling?« fragt der Kommissar …
»Ich werde in Kürze die Einbürgerung erlangen«, sagt mein Vater leise. Er hat sich diese Antwort offenbar vorher zurechtgelegt. »Aber mein Sohn ist Franzose.« Dann, nur noch gehaucht: »Und Abiturient …«
Der Kommissar wendet sich zu mir:
»Sie wären also um ein Haar unter die Métro geraten?«
Ich bleibe stumm. »Ein Glück, daß man Sie zurückgerissen hat. Sonst wären Sie jetzt in einer schönen Verfassung.«
Ja, irgendwer hat mir das Leben gerettet, indem er mich genau in dem Moment, wo ich das Gleichgewicht verlor, zurückriß. Ich erinnere mich nur sehr verschwommen an diese paar Sekunden.
»Wie kommt es aber«, fährt der Kommissar fort, »daß Sie mehrmals ›Mörder!‹ geschrien haben, als man Sie zu der Bank hinübertrug?«
Dann, an meinen Vater gewandt:
»Leidet Ihr Sohn an einer Art von Verfolgungswahn?«
Er läßt ihm keine Zeit zu antworten. Wieder wendet er sich an mich und sagt mir auf den Kopf zu:
»Aber vielleicht hat man Sie in den Rücken gestoßen? Denken Sie nach … Sie haben jede Menge Zeit.«
Ein junger Mann im Hintergrund tippte auf der Maschine. Der Kommissar, hinter seinem Schreibtisch sitzend, blätterte in einer Akte. Wir, mein Vater und ich, warteten auf unseren Stühlen. Ich glaubte schon, man hätte uns vergessen, aber der Kommissar hob schließlich den Kopf und sagte zu mir:
»Wenn Sie eine Erklärung zu machen haben, zögern Sie nicht. Dazu bin ich da.«
Ab und zu brachte der junge Mann ihm eine getippte Seite, die er mit roter Tinte korrigierte. Wie lange würde man uns hier noch festhalten? Der Kommissar wies auf meinen Vater:
»Politischer Flüchtling oder einfach Flüchtling?«
»Einfach Flüchtling.«
»Um so besser«, sagte der Kommissar.
Dann vertiefte er sich wieder in seine Akte.
Die Zeit verging. Mein Vater zeigte Anzeichen von Nervosität. Ich glaube sogar, er rang die Hände. Schließlich war er mir ja ausgeliefert. Und das wußte er. Warum hätte er mir sonst mehrmals einen ängstlichen Blick zugeworfen? Ich mußte mich an die Tatsachen halten: Jemand hatte mich gestoßen, damit ich auf die Schienen fiele und die Métro mich in Stücke risse. Und das war dieser Orientale, der neben mir saß. Der Beweis: Ich hatte an meinem Schulterblatt seinen Siegelring gespürt.
Als hätte er meine Gedanken erraten, fragte mich der Kommissar ganz beiläufig:
»Verstehen Sie sich gut mit Ihrem Vater?«
Gewisse Polizeibeamte verfügen über eine Hellsehergabe. So auch dieser Inspektor, der, nachdem er pensioniert war, sein Geschlecht änderte, um unter dem Namen »Madame Dubail« spezielle »hellseherische« Audienzen zu geben.
»Wir verstehen uns sehr gut«, erwiderte ich.
»Sind Sie dessen sicher?«
Er stellte mir diese Frage gleichsam gelangweilt und begann alsbald zu gähnen. Ich war überzeugt, daß er alles begriff, aber daß mein Fall ihn nicht weiter interessierte. Ein junger Mann, den sein Vater unter die Métro stößt – ganz gewiß hatte er eine Menge solcher Fälle erlebt, reine Routinesache.
»Noch einmal, wenn Sie mir etwas zu sagen haben, ich höre.«
Aber ich wußte, daß er das aus purer Höflichkeit fragte.
Dann knipste er seine Schreibtischlampe an. Der andere tippte weiter, offenbar hatte er es eilig mit seiner Arbeit. Das Hämmern der Schreibmaschine lullte mich ein, und ich hatte große Mühe, die Augen offen zu halten. Um gegen den Schlaf anzukämpfen, betrachtete ich aufmerksam die Winkel und Ecken dieses Polizeireviers. An der Wand ein Kalender und die Fotografie des Präsidenten der Republik. Doumer? Mac-Mahon? Albert le Brun? Die Schreibmaschine war ein altes Modell. Ich beschloß, daß dieser Sonntag, 17. Juni, in meinem Leben zählen würde, und wandte mich unauffällig meinem Vater zu. Dicke Schweißtropfen liefen an seinen Schläfen herab. Trotzdem sah er gar nicht wie ein Mörder aus.
Der Kommissar beugt sich über die Schulter des jungen Mannes, um festzustellen, wie weit er mit seiner Arbeit ist. Er gibt ihm mit leiser Stimme ein paar Anweisungen. Plötzlich erscheinen drei Polizeibeamte. Vielleicht werden sie uns in die Arrestzelle mitnehmen? Diese Aussicht läßt mich ziemlich gleichgültig. Aber nein. Der Kommissar blickt mich an:
»Also? Nichts zu erklären?«
Mein Vater gibt ein klägliches Grunzen von sich.
»Nun denn, meine Herren, Sie können gehen …«
Wir sind aufs Geratewohl losmarschiert. Ich wagte nicht, ihn um eine Erklärung zu bitten. Erst an der Place des Ternes, den Blick fest auf die Leuchtreklame der Brasserie Lorraine gerichtet, sagte ich in möglichst neutralem Ton:
»Du wolltest mich also umbringen …«
Er gab keine Antwort. Ich fürchtete, ihn zu verschrecken, wie manche Vögel, wenn man ihnen zu nahe kommt.
»Du weißt, daß ich dir darum nicht böse bin.«
Und ich sagte daher, auf die Terrasse der Brasserie weisend:
»Wie wäre es mit einem Gläschen? Das muß gefeiert werden!«
Diese letzte Bemerkung entlockte ihm ein kleines Lachen. Als wir uns hinsetzten, sorgte er dafür, nicht mir gegenüber zu sitzen. Er hatte dieselbe Haltung wie in dem Polizeiwagen: runder Rücken, Kopf gesenkt. Ich bestellte für ihn einen doppelten Bourbon, weil ich wußte, wie sehr er diesen Whisky liebte, und für mich ein Glas Champagner. Wir prosteten uns zu, waren aber mit dem Herzen nicht dabei. Nach dem bedauerlichen Vorfall in der Métro hätte ich gern reinen Tisch zwischen uns gemacht. Unmöglich. Er setzte mir solchen passiven Widerstand entgegen, daß ich es vorzog, nicht weiter in ihn zu dringen.
An den Nachbartischen gingen die Unterhaltungen munter weiter. Man entzückte sich über die milde Abendluft. Man war entspannt. Und man war glücklich zu leben. Und ich war siebzehn Jahre alt, mein Vater hatte mich unter die Métro stoßen wollen, und das interessierte keinen Menschen.
Wir tranken ein letztes Glas in der Avenue Niel in dieser komischen Bar Petrissan's. Ein alter Mann kam schwankend herein. Er setzte sich an unseren Tisch und begann mir von der Armee Wrangel zu erzählen. Ich glaubte zu verstehen, daß er dort gedient hatte. Die Erinnerung war für ihn äußerst schmerzlich, denn er brach auf einmal in Tränen aus. Er wollte uns nicht mehr verlassen. Er klammerte sich an meinen Arm. Aufdringlich und überspannt, wie die Russen nun mal sind, nach Mitternacht. Wir folgten der Avenue in Richtung Place des Ternes, und mein Vater ging einige Meter vor uns, als schämte er sich, in dieser erbärmlichen Gesellschaft gesehen zu werden. Er beschleunigte seinen Schritt, und ich sah ihn im Eingang zur Métro entschwinden. Ich dachte, ich würde diesen Menschen niemals wiedersehen. Ja, ich war mir dessen völlig gewiß.
Der alte Krieger drückte meinen Arm und schluchzte an meiner Schulter. Wir setzten uns in der Avenue Wagram auf eine Bank. Ihm lag viel daran, mir in allen Einzelheiten den »langen Leidensweg« der weißrussischen Armeen zu beschreiben, ihre Flucht in Richtung Türkei. Schließlich waren diese Helden in ihren betreßten Uniformen in Konstantinopel gestrandet. Was für ein beklagenswertes Los! Es scheint, daß der General Baron Wrangel über zwei Meter groß war.
Du hast dich nicht sehr verändert. Eben, als du in die Bar des »Clos-Foucré« tratest, war dein Gang noch der gleiche wie vor zehn Jahren. Du hast dich mir gegenüber gesetzt, und ich wollte schon einen doppelten Bourbon für dich bestellen, aber ich hielt es für nicht angebracht. Erkanntest du mich wieder? Man weiß nie, woran man mit dir ist. Wozu dich bei den Schultern packen und dir Fragen stellen? Du bist schlüpfrig wie ein Aal, und ich frage mich, ob du das Interesse, das ich für dich zeige, überhaupt verdienst.
Eines Tages habe ich plötzlich den Entschluß gefaßt, mich auf die Suche nach dir zu machen. Ich war damals äußerst gedrückter Stimmung. Man muß schon sagen, die Dinge nahmen eine beunruhigende Wendung, und ein Geruch von Unheil lag in der Luft. Wir lebten in einer »verrückten Zeit«. Nichts, an das man sich halten konnte. Ich erinnerte mich plötzlich daran, daß ich einen Vater hatte. Gewiß, ich dachte oft an die »schmerzliche Episode in der Métro George-V«, aber ich hegte nicht den geringsten Groll gegen dich. Es gibt Menschen, denen man alles verzeiht. Zehn Jahre waren seitdem vergangen. Was war aus dir geworden? Vielleicht brauchtest du mich.
Ich habe Serviermädchen in Teestuben gefragt, Barkeeper und Hotelportiers. Schließlich war es François vom Silver-Ring, der mich auf deine Fährte gesetzt hat. Du verkehrtest – so schien es – in einer lustigen Bande von Nachtschwärmern, deren Stars die Herren Murraille und Marcheret waren. Wenn der Name Marcheret mir nichts sagte, so kannte ich doch den Ruf Murrailles: ein Journalist, der teils von Erpressungen, teils von dunklen Geschäften lebte. Eine Woche später sah ich dich in ein Restaurant der Avenue Kléber treten. Du wirst meine Neugierde entschuldigen, aber ich setzte mich an den Tisch, der deinem benachbart war. Ich war sehr bewegt, dich wiederzufinden, und ich wollte dir schon auf die Schulter tippen, aber ich verzichtete darauf, als ich mir deine Freunde ansah. Murraille saß an deiner Linken, und schon auf den ersten Blick kam mir seine elegante Garderobe verdächtig vor. Man sah, daß er »auf schick machen« wollte. Marcheret stellte laut fest, daß »die Gänseleber ungenießbar« sei. Ich erinnere mich auch noch an eine rothaarige Frau und an einen blonden Gecken, die beide moralische Verkommenheit aus allen Poren schwitzten. Du selbst, und das macht mich untröstlich, erschienst mir nicht in deinem günstigsten Licht. (Waren es deine pomadisierten Haare, dein Blick, der noch unsteter war als sonst?) Ich spürte ein gewisses Unbehagen beim Anblick der Gruppe, die du und deine »Freunde« bildeten. Der blonde Geck prahlte mit Banknoten, die rothaarige Frau fuhr den Oberkellner grob an, und Marcheret riß seine schlüpfrigen Witze. (Ich habe mich seitdem daran gewöhnt.) Murraille sprach von seinem Landhaus, wo man »so angenehm ein Wochenende verbringen« könnte. Ich erkannte schließlich, daß dieser kleine Kreis sich hier jede Woche zusammenfand. Du gehörtest dazu. Ich habe dem Verlangen, dich in diesem hübschen Ferienort wiederzutreffen, nicht widerstehen können.
Und nun, da wir einander gegenübersitzen wie zwei Fayence-Hündchen und ich mit Muße deinen dicken levantinischen Schädel betrachten kann, habe ich Angst. Was machst du mit diesen Leuten in diesem Städtchen des Départements Seine-et-Marne? Und vor allem, wie hast du sie kennengelernt? Ich muß dich schon wirklich sehr lieben, daß ich dir auf diesem abschüssigen Terrain folge. Und ohne die geringste Dankbarkeit von deiner Seite! Vielleicht täusche ich mich, aber deine Situation erscheint mir höchst prekär. Ich nehme an, daß du noch immer staatenlos bist, was »bei den heutigen Zeiten« schwere Nachteile mit sich bringt. Ich selbst habe meine Ausweispapiere verloren, bis auf jenes Zeugnis, auf das du so viel Wert legtest und das heute, da wir eine beispiellose »Krise aller Werte« durchmachen, nichts mehr besagen will. Ich will versuchen, um jeden Preis meine Kaltblütigkeit zu bewahren.
Marcheret. Er klopft dir auf die Schulter und nennt dich »mein dicker Chalva«. Er sagt zu mir: »Guten Abend, Monsieur Alexandre, Sie nehmen doch einen Americano?« – Und ich bin genötigt, dieses widerliche Zeug zu trinken aus Angst, ihn zu verärgern. Ich möchte wohl wissen, welche Interessen dich mit diesem ehemaligen Fremdenlegionär verbinden. Devisenschmuggel? Börsengeschäfte, wie du sie einst machtest? »Noch zwei Americanos!« brüllt er zu Grève, dem Oberkellner, hinüber. Dann wieder zu mir: »Das trinkt sich wie Ambrosia, nicht wahr?« Ich trinke, voller Angst. Ich habe den Verdacht, daß er unter seinem jovialen Äußeren besonders gefährlich ist. Ich bedauere, daß unsere Beziehungen nicht über die strikte Höflichkeit hinausgehen, denn ich würde dich sonst vor diesem Typ warnen. Und auch vor Murraille. Du tust Unrecht, »Papa«, mit Individuen von dieser Sorte zu verkehren. Sie werden dir am Ende übel mitspielen. Und werde ich die Kraft haben, meine Rolle als Schutzengel bis zum Ende durchzuhalten? Du ermutigst mich nicht im geringsten dazu. Ich mag noch so sehr auf einen Blick von dir lauern, auf eine Geste der Sympathie (selbst wenn du mich nicht wiedererkannt hast, könntest du mir dennoch ein bißchen mehr Beachtung schenken), aber nichts reißt dich aus deiner osmanischen Dickfelligkeit. Ich frage mich, ob eigentlich hier mein Platz ist. Erstens ruiniere ich meine Gesundheit mit diesen alkoholischen Getränken. Und dann deprimiert mich dieser pseudo-rustikale Dekor in höchstem Maße. Marcheret fordert mich auf, eine »dame-rose« zu trinken, einen Cocktail, dessen Feinheit »alle seine Freunde von Bouss-Bir« zu schätzen gelernt haben. Ich fürchte schon, daß er mir wieder von der Fremdenlegion und von seiner Malaria erzählen will. Aber nein. Er wendet sich an dich:
»Also, hast du es dir überlegt, Chalva?«
Mit fast unhörbarer Stimme antwortest du:
»Ich habe es mir überlegt, Guy.«
»Also, fifty-fifty?«
»Du kannst auf mich rechnen, Guy.«
»Ich mache große Geschäfte mit dem Baron«, sagt Marcheret zu mir. »Nicht wahr, Chalva? Das muß gefeiert werden! Grève, bitte drei Vermouth!«
Wir stoßen an.
»Bald werden wir unsere erste Milliarde feiern!«
Er versetzt dir einen kräftigen Schlag in den Rücken. Wir sollten diesen Ort schnellstens verlassen. Aber dann, wohin? Leute wie du und ich laufen Gefahr, an der nächsten Straßenecke verhaftet zu werden. Es vergeht kein Tag, ohne daß am Ausgang der Bahnhöfe, der Kinos und der Restaurants Razzien gemacht werden. Vor allem die öffentlichen Orte meiden. Paris gleicht einem großen dunklen Wald, der mit Fallen übersät ist. Man geht vorsichtig tastend. Du wirst zugeben, daß man wirklich stahlharte Nerven haben muß. Und die Hitze macht es nicht besser. Ich habe noch nie einen so heißen Sommer erlebt. Heute Abend herrscht eine Temperatur! Zum Ersticken! Marcherets Kragen ist völlig durchgeschwitzt. Du hast es schon aufgegeben, dir übers Gesicht zu wischen, die Tropfen zittern einen Augenblick an deinem Kinn, bevor sie in regelmäßigen Abständen auf den Tisch fallen. Die Fenster der Bar sind geschlossen. Kein Lüftchen. Mein Anzug klebt an meinem Körper, als käme ich aus einem Platzregen. Unmöglich, mich zu erheben. Die kleinste Bewegung in diesem Schwitzbad, und ich zerfließe endgültig. Dich scheint das nicht übermäßig zu stören: Vermutlich hast du in Ägypten oft solche Hundstage erlebt, wie? Marcheret seinerseits hat mir versichert, daß man hier »vor Kälte umkommt im Vergleich zu Nordafrika«. Und er bietet mir noch einen Schnaps an. Nein, wirklich, ich kann nicht mehr. Los, Monsieur Alexandre … einen kleinen Americano … Ich habe Angst, ohnmächtig zu werden. Und jetzt sehe ich wie durch einen Dunstschleier Murraille und Sylviane Quimphe auf uns zukommen. Falls es sich nicht um eine Fata Morgana handelt. (Ich möchte Marcheret fragen, ob einem eine Fata Morgana so, wie durch einen Dunstschleier, erscheint. Aber ich habe nicht die Kraft dazu.) Murraille reicht mir die Hand.
»Wie fühlen Sie sich, Serge?«
Zum erstenmal nennt er mich bei meinem »Vornamen«. Ich mißtraue dieser Art von Vertraulichkeit. Er trägt wie gewöhnlich einen dunklen Pullover und ein seidenes Tuch um den Hals. Die Brüste von Sylviane Quimphe quellen aus der Bluse, und ich stelle fest, daß sie wegen der Hitze keinen Büstenhalter trägt. Aber warum hat sie dann ihre Reithosen und Stiefel anbehalten?
»Wenn wir jetzt zu Tisch gingen?« schlägt Murraille vor. »Ich habe einen Bärenhunger.«
Es gelingt mir gerade noch, mich zu erheben. Murraille nimmt mich beim Arm:
»Haben Sie über unser Vorhaben nachgedacht? Noch einmal: Ich lasse Ihnen völlig freie Hand. Sie schreiben, was Sie wollen. Die Spalten meiner Zeitschrift stehen Ihnen offen!«
Grève erwartet uns im Speisesaal. Unser Tisch steht genau unter dem Kronleuchter. Natürlich, alle Fenster sind geschlossen. Es ist noch heißer als in der Bar. Ich setze mich zwischen Murraille und Sylviane Quimphe. Du hast deinen Platz mir gegenüber, aber ich weiß schon im voraus, daß du meinen Blicken ausweichen wirst. Marcheret bestellt das Menu. Die Gerichte, die er auswählt, scheinen kaum der herrschenden Temperatur angepaßt: Krebssuppe, ein Fleischgericht mit schwerer Sauce und ein Soufflé. Kein Widerspruch. Die Gastronomie, so scheint es, ist seine Domäne.
»Wir beginnen mit einem weißen Bordeaux! Danach Chateau-Pétrus! Ist das recht?«
Er schnalzt mit der Zunge.
»Sie sind heute morgen nicht auf die Reitbahn gekommen«, sagt Sylviane Quimphe zu mir. »Ich hatte mit Ihnen gerechnet!«
Seit zwei Tagen macht sie mir immer deutlichere Avancen. Sie hat ein Auge auf mich geworfen, und ich frage mich, warum eigentlich. Ist es meine Erscheinung eines wohlerzogenen jungen Mannes? Mein Teint eines Schwindsüchtigen? Oder will sie Murraille reizen? (Aber ist sie überhaupt seine Geliebte?) Für kurze Zeit glaubte ich, sie habe einen Flirt mit Dédé Wildmer, dem apoplektischen ehemaligen Jockey, der sich um die Reitbahn kümmert.
»Das nächste Mal werden Sie Wort halten müssen. Sie müssen um Verzeihung bitten …«
Sie spricht im Tonfall eines kleinen Mädchens, und ich fürchte schon, die anderen könnten es bemerken. Nein. Murraille und Marcheret reden vertraulich miteinander. Und du, dein Blick verliert sich in der Ferne. Das Licht des Kronleuchters ist so stark wie das eines Projektors. Es drückt auf meinen Kopf wie ein bleierner Deckel. Und ich schwitze so stark an den Handgelenken, daß ich den Eindruck habe, meine Pulsadern seien geöffnet und mein Blut ströme langsam heraus. Wie werde ich nur diese heiße Krebssuppe hinunterbringen, die Grève uns serviert hat? Marcheret erhebt sich unvermittelt: »Meine Freunde, ich verkünde Ihnen eine große Neuigkeit: Ich heirate in drei Tagen! Chalva wird mein Zeuge sein! Ehre, wem Ehre gebührt! Etwas einzuwenden, Chalva?«
Du verziehst das Gesicht zu einem Lächeln und murmelst:
»Ich bin entzückt, Guy!«
»Auf das Wohl von Jean Murraille, auf meinen zukünftigen Schwiegervater«, brüllt Marcheret und wirft sich in die Brust.
Ich erhebe gleich den anderen mein Glas, stelle es aber sofort wieder hin. Wenn ich nur einen Tropfen von diesem weißen Bordeaux trinke, werde ich mich bestimmt übergeben müssen. Alle meine Kräfte für die Krebssuppe aufsparen.
»Jean, ich bin sehr stolz, Ihre Tochter zu heiraten«, erklärt Marcheret, »sie hat die aufregendste Hüftpartie von ganz Paris.«
Murraille bricht in Lachen aus.
»Sie kennen Annie?« fragt mich Sylviane Quimphe. »Sie oder mich, wen würden Sie vorziehen?«
Ich tue, als zögerte ich. Und dann bringe ich heraus: »Sie!« Wie lange soll dieses Geplänkel noch gehen? Sie verschlingt mich mit den Augen. Dabei biete ich bestimmt keinen schönen Anblick … Der Schweiß tröpfelt aus meinen Ärmeln. Wie lange noch dieses Martyrium? Die anderen hingegen legen eine ungewöhnliche Ausdauer an den Tag. Keine Spur von Schweiß auf dem Gesicht von Murraille, von Marcheret und von Sylviane Quimphe. Ein paar Tropfen gleiten an ihren Schläfen entlang, aber das ist nicht weiter schlimm … Und ihr alle macht euch an eure Krebssuppe, als befänden wir uns mitten im Winter auf einer Berghütte.
»Sie streiken, Monsieur Alexandre?« ruft Marcheret. »Da tun Sie unrecht! Diese Suppe ist wie Samt!«
»Unser Freund leidet unter der Hitze«, sagt Murraille. »Ich hoffe, Serge, das wird Sie nicht hindern, etwas Gutes für mich zu schreiben … Ich sage Ihnen gleich, daß ich es schon nächste Woche brauche. Haben Sie eine Idee?«
Wäre mein Zustand nicht so bedenklich, würde ich ihn ohrfeigen. Wie kann dieser Renegat glauben, daß ich mich leichten Herzens bereitfinde, an seiner Zeitschrift mitzuarbeiten, mich mit diesem Haufen von Spitzeln zu kompromittieren, diesen erpresserischen und anrüchigen Schreiberlingen, deren Signaturen sich seit zwei Jahren ungestraft auf jeder Seite von C'est la vie breitmachen. Sollen sie ruhig warten. Schmierfinken, Kanaillen, Schakale. Todeskandidaten auf Bewährung! Zuchthäusler, Kadaver! Hat Murraille mir nicht die Drohbriefe gezeigt, die er immer bekam? Er hat Angst. Gestern hat er wieder einmal zu mir gesagt: »Mir, mir macht es nicht das geringste aus, elf Kugeln aufs Fell gebrannt zu bekommen.« Wir werden ja sehen.
»Mir kommt da ein Gedanke«, sagt er. »Wenn Sie eine Novelle gebären würden?«
»Einverstanden!«
Ich versuche, möglichst begeistert auszusehen.
»So ein pikantes Histörchen, Sie verstehen?«
»Vollkommen!«
Zum Diskutieren ist es zu heiß.
»Nicht ausgesprochen pornographisch, aber frivol … ein bißchen unanständig … Was meinen Sie dazu, Serge?«
»Mit Vergnügen.«
Alles, was er nur will! Ich werde unter meinem falschen Namen schreiben. Aber zunächst ihm meinen guten Willen zeigen. Er erwartet einen Vorschlag von mir, also los!
»Ich schlage Ihnen vor, die Sache in mehreren Episoden zu bringen …«
»Ausgezeichnet!«
»Und zwar in Form von ›Bekenntnissen‹. Das ist viel aufregender. Etwa so: Bekenntnisse eines herrschaftlichen Chauffeurs.«
Ich erinnerte mich an diesen Titel, den ich vor dem Krieg in einer Zeitschrift gelesen hatte.
»Wunderbar, Serge, wunderbar! Bekenntnisse eines herrschaftlichen Chauffeurs! Sie sind ein As!«
Er schien wirklich Feuer und Flamme.
»Und bis wann die erste Lieferung?«
»In drei Tagen«, sagte ich.
»Werden Sie es mich vor allen anderen lesen lassen?« flüstert Sylviane Quimphe.
»Ich«, erklärt Marcheret bedeutungsvoll, »ich liebe besonders unanständige Geschichten. Ich rechne auf Sie, Monsieur Alexandre!«
Grève trug den zweiten Gang auf. Lag es an der Hitze, dem Kronleuchter, dessen Licht mir auf dem Kopf brannte, dem Anblick der schweren Speisen auf meinem Teller – jedenfalls wurde ich von einem verrückten Lachanfall geschüttelt, der alsbald einem Zustand völliger Ermattung wich. Ich versuchte, deinen Blick einzufangen. Ohne Erfolg. Ich wagte weder zu Murraille noch zu Marcheret hinüberzuschauen, aus Angst, sie würden das Wort an mich richten. Also starrte ich auf den Schönheitsfleck, den Sylviane Quimphe am Mundwinkel trug, und wartete darauf, daß der Albdruck vielleicht vorüberginge.
Dann holte mich Murraille in die Wirklichkeit zurück.
»Denken Sie an Ihre Novelle? Ich möchte nicht, daß Ihnen das den Appetit verdirbt!«
»Die besten Einfälle kommen beim Essen«, bemerkte Marcheret. Und du hattest nur ein kleines serviles Lächeln. Was konnte man denn auch anderes von dir erwarten? Du warst mit diesen Halunken solidarisch und hast mich, den einzigen Menschen der Welt, der dir wohlgesonnen war, vorsätzlich ignoriert.
»Probieren Sie nur dieses Soufflé«, sagte Marcheret zu mir, »es zergeht auf der Zunge! Ein wahres Wunder! Stimmt's, Chalva?« Du hast ihm beigepflichtet wie ein Speichellecker, und das schmerzte mich. Dich da mit diesem malariaverseuchten Exlegionär, diesem miesen Journalisten und dieser Nutte sitzenzulassen, das ist alles, was du verdienst. Es gibt Augenblicke, »Papa«, da wäre ich versucht, die Sache aufzugeben. Ich stütze dich doch mit beiden Armen. Was wärest du denn ohne mich? Ohne meine Treue, meine Wachsamkeit eines Bernhardiners? Wenn ich losließe, würdest du im Fallen nicht mehr Geräusch machen als ein leerer Sack. Sollen wir es mal versuchen? Sieh dich vor! Schon spüre ich, wie mich eine wohlige Trägheit überkommt. Sylviane Quimphe hat zwei Knöpfe ihrer Bluse geöffnet. Sie wendet sich zu mir und zeigt mir heimlich ihre Brüste. Warum auch nicht? Murraille löst mit einer lässigen Bewegung sein Halstuch, Marcheret stützt nachdenklich das Kinn in die Hand und läßt eine ganze Serie von Rülpsern los. Ich hatte noch nie an dir diese grauen Hängebacken bemerkt, die deinem Kopf etwas von einer Bulldogge geben. Die Unterhaltung ödet mich an. Die Stimmen von Murraille und Marcheret kommen wie von einer Schallplatte, die immer langsamer läuft. Sie breiten sich aus, entgleiten wieder, immer dumpfer wie in einem schwarzen Gewässer. Um mich herum verschwimmt alles wegen der Schweißtropfen, die mir in die Augen laufen … Das Licht wird schwächer und schwächer! …«
»Sagen Sie, Monsieur Alexandre, Sie werden doch nicht etwa schlapp machen! …«
Marcheret drückt mir ein feuchtes Tuch auf Stirn und Schläfen. Schon vorbei. Eine vorübergehende Unpäßlichkeit. Ich hatte dich gewarnt, »Papa«. Und wenn ich das nächste Mal nicht wieder zu mir käme?
»Geht's besser, Serge?« fragt Murraille.
»Wir werden vor dem Schlafen einen Spaziergang machen«, flüstert Sylviane Quimphe.
Marcheret, gebieterisch:
»Cognac und Café turc! Es gibt nichts Besseres, um Sie wieder ins Lot zu bringen! Glauben Sie mir, Monsieur Alexandre!«
Mit einem Wort, du warst der einzige, der sich nicht um meine Gesundheit gesorgt hat, und diese Feststellung vergrößerte nur noch mein Leid. Ich habe dennoch bis zum Ende des Diners ausgehalten. Marcheret bestellte einen Magenlikör und fing wieder von seiner Heirat an. Eine Frage beschäftigte ihn: Wer würde Trauzeuge für Annie sein? Er und Murraille nannten darufhin einige Namen von Leuten, die mir völlig unbekannt waren. Dann gingen sie daran, die Gästeliste aufzustellen. Über jeden einzelnen dieser Gäste ließen sie ihre Bemerkungen fallen, und ich fürchtete schon, das würde sich bis zum Morgengrauen hinziehen. Murraille machte eine müde Handbewegung.
»Bis dahin«, sagte er, »werden wir alle füsiliert sein.« Er blickte auf seine Uhr.
»Und wenn wir schlafen gingen? Was halten Sie davon, Serge?«
In der Bar überraschten wir Maud Gallas in Dédé Wildmers Gesellschaft. Beide wälzten sich auf einem Sofa herum. Er drückte sie an sich, und sie leistete zum Schein Widerstand. Offensichtlich hatten sie zuviel getrunken. Als wir vorbeigingen, wandte Wildmer den Kopf und warf mir einen merkwürdigen Blick zu. Von Sympathie zwischen uns konnte kaum die Rede sein. Ich hatte sogar einen instinktiven Widerwillen gegen diesen ehemaligen Jockey.
Ich war froh, endlich an der frischen Luft zu sein.
»Begleiten Sie uns bis zur Villa?« fragte Murraille.
Sylviane Quimphe nahm meinen Arm, was ich ihr nicht verweigern konnte. Und du, du gingst mit gekrümmtem Rücken voran, zwischen Murraille und Marcheret. Man konnte meinen, du seist von zwei Polizisten flankiert und trügest Handschellen, wegen des Lichtreflexes auf deinem Uhrenarmband. Du warst in eine Razzia geraten, und man brachte dich aufs Revier. Das waren so meine Träume. Nichts war natürlicher »in diesen Zeiten«.
»Ich erwarte also die Bekenntnisse eines herrschaftlichen Chauffeurs«, hat Murraille zu mir gesagt. »Ich rechne auf Sie, Serge!«
»Sie werden uns eine hübsche, unanständige Geschichte schreiben«, fügte Marcheret hinzu. »Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen Tips geben. Auf morgen, Monsieur Alexandre. Und dir, Chalva, wünsche ich angenehme Träume.«
Sylviane Quimphe flüsterte Murraille ein paar Worte ins Ohr. (Vielleicht täuschte ich mich, aber ich hatte das unangenehme Gefühl, daß von mir die Rede war.) Muraille stimmte mit einer fast unmerklichen Kopfbewegung zu. Er öffnete das Portal und zog Marcheret am Ärmel hinein. Dann sah ich sie die Villa betreten.
Wir blieben einen Moment lang schweigend stehen, du, sie und ich, ehe wir eine halbe Wendung in Richtung auf das »Clos-Foucré« machten. Du gingst hinter uns. Sie hatte wieder meinen Arm genommen und legte ihren Kopf an meine Schulter. Es betrübte mich, dir dieses Schauspiel zu bieten, aber ich wollte sie nicht verstimmen. In unserer Lage, »Papa«, war es besser, klein beizugeben. Auf dem Platz wünschtest du uns Gute Nacht, sehr höflich, und nahmst den Weg am Grundstück entlang und ließest mich mit dieser Nutte allein.
Sie hat mir einen kleinen Spaziergang vorgeschlagen, »um den Mondschein zu genießen«. Wir kamen ein zweites Mal an der Villa »Mektoub« vorbei. Es war noch Licht im Salon, und bei dem Gedanken, daß Marcheret ganz allein inmitten dieses kolonialen Dekors einen letzten Likör schlürfte, lief mir ein Schauer über den Rücken. Wir folgten dem Reitweg am Rande des Waldes. Sie knöpfte ihre Bluse auf. Sie wartete wohl darauf, daß ich sie ein wenig abknutschen würde. Aber das Rauschen der Bäume und das bläuliche Halbdunkel machten mich ganz benommen. Nach der Strapaze des Diners war meine Ermattung so groß, daß ich nicht imstande war, auch nur ein Wort herauszubringen. Ich machte übermenschliche Anstrengungen, um den Mund aufzutun, und kein Ton kam heraus. Glücklicherweise begann sie nun von ihrem komplizierten Gefühlsleben zu sprechen. Sie war die Geliebte von Murraille, wie ich bereits angenommen hatte, aber sie hatten alle beide sehr »freie Anschauungen«. So hatten sie zum Beispiel eine große Vorliebe für Sexpartys. Sie fragte mich, ob mich das nicht abstieße. Ich antwortete: nein, ganz gewiß nicht. Und ob ich es schon versucht hätte? Noch nicht, aber wenn die Gelegenheit sich böte, sehr gern. Sie versprach mir, daß ich das nächste Mal mit von der Partie sein würde. Murraille besaß eine Zwölf-Zimmer-Wohnung in der Avenue d'léna, wo derartige Zusammenkünfte veranstaltet wurden. Maud Gallas nahm daran teil. Und Marcheret. Und Annie, die Tochter von Murraille. Und Dédé Wildmer. Und noch andere Personen, eine große Anzahl. Es war verrückt, wie man sich zur Zeit in Paris amüsierte. Murraille hatte ihr erklärt, das wäre immer so am Vorabend von Katastrophen. Was wollte er damit sagen? Die Politik interessierte sie nicht. Auch nicht das Schicksal der Welt. Sie dachte nur daran zu genießen. Schnell und ausgiebig. Nach dieser prinzipiellen Erklärung machte sie mir Geständnisse. Auf der letzten Party der Avenue d'Iéna hatte sie einen jungen Mann getroffen. Physisch war er eine Mischung aus Max Schmeling und Henri Garrat. In puncto Moral war er völlig ohne Skrupel. Er gehörte einem jener Hilfscorps der Polizei an, von denen es seit einigen Monaten wimmelte. Er hatte die Manie, ziellos mit seinem Revolver zu schießen. Es hieß, er habe schon aus Unachtsamkeit einen Menschen getötet, mitten auf der Straße, aber sein Polizeiausweis sicherte ihm Straflosigkeit zu. Die Erlebnisse dieser kleinen Nutte erstaunten mich nicht übermäßig. Lebten wir denn nicht in einer Epoche, wo man jeden Augenblick dem Himmel danken mußte, nicht von einer verirrten Kugel getroffen zu werden? Sie war zwei Tage und zwei Nächte hintereinander mit ihm zusammengeblieben. Und sie erzählte mir pikante Einzelheiten, während ich schon nicht mehr zuhörte. Hinter dem hohen Zaun zu meiner Rechten hatte ich »deine« Villa mit ihrem minarettähnlichen Turm und ihren Spitzbogenfenstern wiedererkannt. Man sah sie von hier deutlicher als von dem Seitenweg. Ich glaubte sogar, deine Silhouette auf einem der Balkone wahrnehmen zu können. Wir waren etwa fünfzig Meter voneinander entfernt, und es hätte genügt, quer durch den verwilderten Park zu laufen, um zu dir zu gelangen. Ich habe einen Moment gezögert. Ich wollte dich rufen oder dir ein Zeichen mit der Hand geben. Aber nein. Meine Stimme würde nicht bis zu dir tragen, und die heimtückische Lähmung, die ich seit Beginn des Abends verspürte, hinderte mich, den Arm zu heben. War es wirklich der Mond? »Deine« Villa war in ein bleiches nördliches Licht getaucht. Sie wirkte wie ein über dem Erdboden schwebendes Palais aus Pappmaché, und du glichst einem fettleibigen Sultan – wie du da so am Balkongitter lehntest, dein Gesicht mit dem leeren Blick und den schlaffen Lippen dem Wald zugewandt. Ich dachte an all die Opfer, die ich gebracht hatte, um dich zu erreichen: dir die »schmerzliche Episode der Métro George-V« nicht mehr nachzutragen; mich in eine Atmosphäre zu begeben, die meine Moral und meine Gesundheit untergrub; die Gesellschaft von anrüchigen Personen zu ertragen, dich tagelang ohne Unterlaß zu belauern. Und das alles wegen dieses wertlosen Trugbildes, das ich jetzt vor mir hatte! Aber ich würde dich bis ans Ende verfolgen. Du interessiertest mich eben, »Papa«. Man ist immer begierig, seine Ursprünge kennenzulernen.
Es ist jetzt dunkler geworden. Wir haben einen Abkürzungsweg genommen, der in den Ort führt. Sie redet immer noch von Murrailles Wohnung in der Avenue d'Iéna. An Sommerabenden begab man sich auf die große Terrasse, und es war wunderbar, es unter freiem Himmel zu treiben. Ich müßte das um jeden Preis kennenlernen! Sie nähert ihr Gesicht dem meinen. Ich spüre ihren Atem an meinem Hals. Wir tasten uns durch die Bar des »Clos-Foucré«, und ich finde mich in ihrem Zimmer wieder, wie ich es schon vorausgesehen hatte. Eine Lampe mit rotem Schirm auf dem Nachttisch. Zwei Sessel und ein Sekretär. Die Wände sind mit einem gelb- und grüngestreiften Satin bespannt. Sie schaltet das Programm der T. S. F. ein, und die Stimme von André Claveau dringt von ferne und mit einem Zirpen vermischt zu mir. Sie legt sich quer über das Bett.
»Wären Sie so nett, mir meine Stiefel auszuziehen?«
Ich folge ihrer Aufforderung mit nachtwandlerischen Gesten. Sie hält mir ein Etui mit Zigaretten hin. Wir rauchen. Alle Zimmer des »Clos-Foucré« gleichen einander: Empire-Möbel und englische Stiche mit Jagdszenen. Sie spielt jetzt mit einer kleinen Pistole mit Perlmuttgriff, und ich frage mich, ob ich hier nicht das erste Kapitel der Bekenntnisse eines herrschaftlichen Chauffeurs erlebe, die ich Murraille versprochen habe. Unter dem grellen Licht der Lampe erscheint sie älter, als ich gedacht hatte. Ihr Gesicht ist vor Müdigkeit gedunsen. Ein Streifen Lippenrot über dem Kinn. Sie sagt:
»Kommen Sie näher.«
Ich setze mich auf den Rand des Bettes. Sie stützt sich mit den Ellenbogen auf, blickt mir direkt in die Augen. Es muß wohl in diesem Augenblick eine Stromstörung gegeben haben. Ein gelblicher Schleier hüllte das Zimmer ein, wie auf alten Fotografien. Ihr Gesicht wurde undeutlich, die Umrisse der Möbel verschwammen, Claveau sang leise weiter. Dann endlich habe ich die Frage gestellt, die mir von Anfang an auf den Lippen brannte. Ganz beiläufig:
»Sagen Sie mir, was wissen Sie über den Baron Deyckecaire?«
»Deyckecaire?«
Sie seufzte und drehte den Kopf zur Wand. Minuten vergingen. Sie hatte mich vergessen. Aber ich ließ nicht locker.
»Komischer Typ, dieser Deyckecaire, wie?«
Ich wartete. Keinerlei Reaktion bei ihr. Ich wiederholte, Silbe für Silbe betonend:
»Komischer Typ, dieser Deyckecaire! …«
Sie rührte sich nicht mehr. Offenbar war sie eingeschlafen, und ich würde nie eine Antwort bekommen. Ich hörte sie vor sich hin murmeln:
»Der interessiert Sie, Deyckecaire?«
Wie das Aufblinken eines Scheinwerfers in der Nacht. Ganz schwach. Dann begann sie mit schleppender Stimme wieder zu sprechen: »Was wollen Sie von ihm, diesem Versager?«
»Nichts … Kennen Sie ihn schon lange?«
»Diesen Versager?« – sie sprach das Wort »Versager« mit der Hartnäckigkeit aus, mit der Betrunkene immer dasselbe Wort wiederholen – »glauben Sie, ich gebe mich mit solchen Versagern ab?«
»Wenn ich es recht verstehe, ist er ein Freund von Murraille?« wagte ich zu fragen.
»Sein Dienstmann!«
Ich wollte sie fragen, was sie unter »Dienstmann« verstünde, aber ich zog es vor abzuwarten. Sie verlor sich in endlosen Abschweifungen, schwieg wieder, murmelte wirres Zeug. Ich kannte es schon, dieses Sich-Vortasten, dieses aufreibende Blinde-Kuh-Spiel, bei dem man, mag man die Arme noch so weit ausstrecken, doch nur ins Leere greift. Ich versuchte – nicht ohne Mühe –, sie zum Thema zurückzuführen. Nach einer weiteren Stunde war es mir immerhin gelungen, ihr einige nähere Auskünfte zu entlocken. Ja, du warst also der »Dienstmann« von Murraille. Du dientest ihm als Strohmann und als Faktotum, um für ihn zweifelhafte Geschäfte abzuwickeln. Schwarzer Markt? Hausierergeschäfte? Schließlich erklärte sie mir gähnend: »Übrigens, Jean braucht diesen Versager nicht mehr. Er wird sich seiner so schnell wie möglich entledigen!« Das war immerhin deutlich. Danach unterhielten wir uns über dieses und jenes. Sie holte eine kleine lederne Schatulle vom Schreibtisch und zeigte mir den Schmuck, den Murraille ihr geschenkt hatte. Er wählte immer massives Gold, mit kostbaren Edelsteinen besetzt, denn so konnte man es, wie er sagte, »leichter verkaufen, wenn es hart auf hart kommt«. Ich sagte ihr, ich fände diese Idee sehr richtig »in Zeiten, wie wir sie erleben«. Sie fragte mich, ob ich in Paris viel ausginge. Es gab eine Menge aufregender Darbietungen: Roger Duchesne und Billy Bourbon traten im Cabaret des Club auf. Sessue Hayakawa brachte wieder Forfaiture im Ambigue, und bei dem Tee-Apéritif im Chapiteau konnte man Michel Parme und das Orchester Skarjinsky hören. Ich mußte an dich denken, »Papa«. Du warst also nur ein Strohmann, den man liquidiert, wenn es soweit ist. Dein Verschwinden würde nicht mehr Geräusch machen als der Tod einer Mücke. Wer würde sich in zwanzig Jahren noch deiner erinnern?
Sie zog die Vorhänge zu. Ich sah nur noch ihr Gesicht und ihre roten Haare. Ich suchte mir wieder die Ereignisse des Abends ins Gedächtnis zu rufen. Das endlose Diner, die Mondscheinpromenade, Murraille und Marcheret, wie sie die Villa »Mektoub« betraten. Und deine Silhouette auf dem Grenzweg. Ja, alle diese flüchtigen Episoden gehörten der Vergangenheit an. Ich bin in der Zeit zurückgegangen, um deine Spur wiederzufinden und zu verfolgen. In welchem Jahr waren wir? In welcher Epoche? In welchem Leben? Durch welches Wunder hatte ich dich gekannt, als du noch nicht mein Vater warst? Warum habe ich solche Anstrengungen gemacht, damals, als ein Chansonnier in einem nach Moder und Leder riechenden Cabaret vor fremden Gästen eine »jüdische Geschichte« sang? Warum hatte ich so bald dein Sohn sein wollen? Sie knipste die Nachttischlampe aus. Laute Stimmen hinter der Trennwand. Maud Gallas und Dédé Wildmer. Sie beschimpften sich ausgiebig und danach folgte Seufzen und Stöhnen. Die T. S. F. hatte aufgehört zu zirpen. Nach einem Musikstück, gespielt vom Orchester Fred Adison, kam die letzte Nachrichtensendung. Und es war erschreckend, im Dunkel der Nacht diesen hysterischen Sprecher zu hören – immer denselben.
Ich mußte viel Geduld aufbringen! Marcheret pflegte mich beiseite zu nehmen und begann mir dann, Haus für Haus, die Kasbah von Casablanca zu beschreiben, wo er – wie er sagte – die schönsten Augenblicke seines Lebens verbracht hatte. Afrika vergißt man nicht! Es hinterläßt Spuren. Ein verseuchter Kontinent. Ich ließ ihn sich stundenlang über »diese Hure Afrika« verbreiten und bezeigte ihm nur höfliches Interesse. Er hatte noch ein anderes Gesprächsthema. Sein königliches Blut. Er behauptete, vom Herzog von Maine abzustammen, dem Bastardsohn Ludwigs XIV. Sein Titel »Comte d'Eu« bewies es. Jedesmal wollte er mir die Sache mit Hilfe von Schreibstift und Papier demonstrieren. Er machte sich also daran, einen Stammbaum zu errichten, und diese Arbeit dauerte bis zum Morgengrauen. Er verhedderte sich, strich Namen aus, fügte neue hinzu, und seine Schrift wurde unleserlich. Am Ende zerriß er das Blatt in kleine Stücke und warf mir einen vernichtenden Blick zu:
»Das glauben Sie wohl nicht, wie?«
An anderen Abenden kamen seine Malaria und seine bevorstehende Heirat mit Annie Murraille zur Sprache. Die Anfälle wurden seltener, aber er würde niemals geheilt werden können. Und Annie folgte ihrem eigenen Kopf. Er heiratete sie nur aus Freundschaft für Murraille. Das würde nicht mal eine Woche halten … Diese Feststellungen machten ihn bitter. Der Alkohol kam hinzu, er wurde aggressiv und redete mich mit »kleiner Rotzjunge« und »Grünschnabel« an. Dédé Wildmer war ein »Zuhälter«, Murraille ein »Lüstling« und mein Vater ein »Jude, den es schon erwischen« würde. Nach und nach beruhigte er sich, bat mich um Verzeihung. Und wie wäre es mit einem letzten Vermouth? Es gäbe kein besseres Heilmittel gegen den Kater.
Murraille hingegen erzählte mir in allen Einzelheiten von der »Vereinigung der Pariser Presse«, einer Organisation, auf deren Gründung er sich viel zugute hielt. Er würde den Umfang von C'est la vie erweitern, 36 Seiten mit neuen Rubriken, wo die unterschiedlichsten Begabungen zu Wort kommen konnten. In Kürze würde man sein journalistisches Jubiläum feiern. Bei dieser Gelegenheit würde ein Frühstück die meisten seiner Kollegen und Freunde vereinigen: Maulaz, Alin-Laubreaux, Gerbère, Le Houleux, Lestandi … Und andere bedeutende Persönlichkeiten. Er würde sie mir alle vorstellen. Er freute sich, mir helfen zu können. Wenn ich Geld brauchte, sollte ich nicht zögern, es ihm zu sagen. Er würde mir auf meine nächsten Novellen Vorschuß geben. Mit vorrückender Stunde wich seine Zuversicht und sein gönnerhafter Ton einer immer größer werdenden Nervosität. Jeden Tag – so gestand er mir – bekam er an die hundert anonyme Briefe. Man wollte ihm an den Kragen, und er war gezwungen gewesen, sich einen Waffenschein zu besorgen. Mit einem Wort, man warf ihm vor, in einer Zeit Partei zu ergreifen, in der die meisten Leute sich »in einer abwartenden Haltung« gefielen. Er, zumindest, sagte seine Meinung. Schwarz auf weiß. Bis jetzt war er auf der richtigen Seite, aber die Situation würde sich vielleicht in nachteiligem Sinne für ihn und seine Freunde verändern. Und dann würde man ihnen nichts schenken. Inzwischen brauchte er sich von niemandem belehren zu lassen. Ich sagte ihm, das sei ganz meine Meinung. Komische Ideen gingen mir durch den Kopf: Dieser Typ mißtraute mir nicht. (Wenigstens glaubte ich das.) Und es wäre mir ein leichtes gewesen, ihn abzuknallen. Man hat nicht jeden Tag einen »Verräter« und ein »korruptes« Subjekt vor der Flinte. Das muß man ausnutzen. Ich hätte einfach gewartet, bis er sich abwandte, und ihn dann von hinten erledigt. Er lächelte.
»All das, mein Lieber, ist absolut unwichtig …«
Er liebte es, gefährlich zu leben. In seinem nächsten Leitartikel würde er sich noch mehr »hineinreiten«. Den Titel wußte er schon: »Ich bin kein Angsthase«.
Sylviane Quimphe schleppte mich jeden Nachmittag auf die Reitbahn. Auf unserem Spazierritt begegneten wir oft einem distinguierten Herrn in den Sechzigern. Ich hätte ihn nicht besonders beachtet, wenn mich nicht der verachtungsvolle Blick erschreckt hätte, den er uns zuwarf. Zweifellos fand er es skandalös, daß man in einer »so tragischen Zeit wie der unseren« zu Pferde sitzen und an sein Vergnügen denken konnte. Wir würden in Seine-et-Marne in schlechter Erinnerung bleiben … Das Betragen von Sylviane Quimphe war nicht dazu angetan, uns beliebter zu machen. Wenn wir auf der Hauptstraße zurückritten, redete sie laut, brach in Lachen aus und drückte sich auf unschickliche Weise an mich. Ich war darüber sehr unglücklich.
In meinen seltenen Stunden des Alleinseins verfaßte ich die »Feuilletons« für Murraille. Die Bekenntnisse eines herrschaftlichen Chauffeurs hatten ihn vollauf befriedigt, und er hatte drei weitere Beiträge bestellt. Blieben noch: Via Lesbos und Die Dame der Studios, die ich so sorgfältig wie möglich abfassen wollte. Das waren so die Prüfungen, denen ich mich unterwarf, immer in der Hoffnung, eine Beziehung zu dir herzustellen. Pornoschreiber, Gigolo, Vertrauter eines Alkoholikers und eines Erpressers – wozu würdest du mich noch bringen? Mußte ich noch tiefer eintauchen, um dich aus deinem Sumpf zu ziehen?
Inzwischen bin ich von der Vergeblichkeit meines Unternehmens überzeugt. Man interessiert sich für einen Mann, der seit langem verschwunden ist. Man möchte Personen befragen, die ihn gekannt haben, aber ihre Spuren haben sich mit den seinen verloren. Über sein eigentliches Leben besitzt man nur sehr vage, oft einander widersprechende Auskünfte und zwei oder drei Anhaltspunkte. Beweisstücke? Eine Briefmarke und ein falsches Kreuz der Ehrenlegion. Also bleibt man nur auf seine Phantasie angewiesen. Ich schließe die Augen. Die Bar vom »Clos-Foucré« und der Salon der Villa »Mektoub« im Kolonialstil. Nach so vielen Jahren liegt auf den Möbeln eine Staubschicht, ein modriger Geruch schnürt mir die Kehle zu. Murraille, Marcheret, Sylviane Quimphe sitzen reglos da wie Wachsfiguren, und du kauerst schlaff auf einem Hocker mit starrem Gesicht und weit geöffneten Augen.
Wirklich, was für eine verrückte Idee, all diese toten Dinge aufrühren zu wollen.
Die Hochzeit sollte am übernächsten Tag stattfinden, aber Annie ließ nichts von sich hören. Murraille bemühte sich verzweifelt, sie telefonisch zu erreichen. Sylviane Quimphe blätterte in ihrem Notizbuch und sagte ihm die Telefonnummern der Nachtlokale an, in denen diese »idiotische Person« sich womöglich aufhalten könnte. Chez Tonton, Trinité 78 42. Au Bosphore, Richelieu 9403. El Garron, Vintimille 30 54, L'Étincelle … Marcheret schwieg und stürzte ein randvolles Cognacglas nach dem anderen hinunter. Murraille bat ihn zwischen zwei Telefonverbindungen um Geduld. Man hatte ihn benachrichtigt, daß Annie gegen elf Uhr im Monte-Cristo vorbeigekommen sei. Mit etwas Glück könnte man sie bei Djiguite oder im L'Armorial erwischen. Aber Marcheret glaubte nicht daran. Nein, es hatte keinen Zweck weiterzumachen. Und du auf deinem Hocker gabst dich gelangweilt. Schließlich murmeltest du: »Versuchen wir es doch im Poisson d'Or, Odéon 90 95 …«
Marcheret hob den Kopf:
»Du, Chalva, bist nicht nach deiner Meinung gefragt …«
Du hieltest den Atem an, um nicht die Aufmerksamkeit auf dich zu lenken. Du hättest wohl in die Erde versinken mögen. Murraille, der immer mehr in Rage geriet, fuhr fort zu telefonieren: Le Doge, Opéra 9578, Chez Carrère, Balzac 5960, Les Trois Valses, Vernet 15 27, Au Grand Large …
Du wiederholtest leise:
»Vielleicht im Poisson d'Or, Odéon 9095 …«
Murraille brüllte:
»Du hältst den Mund, Chalva, verstanden?«
Er schwang das Telefon wie eine Keule, und seine Fingerknöchel wurden weiß. Marcheret leerte langsam sein Cognacglas, dann drohte er:
»Wenn er noch einen Ton von sich gibt, schneide ich ihm die Zunge heraus! … Von dir ist die Rede, Chalva …«
Ich benutzte diesen Moment, um mich auf die Veranda zu stehlen. Ich atmete tief ein. Diese Stille, die Frische der Nacht. Endlich allein. Ich betrachtete aufmerksam den Talbot von Marcheret, der hinter dem Portal geparkt war. Die Karosserie glänzte im Mondlicht. Er vergaß immer die Schlüssel auf dem Armaturenbrett. Weder er noch Murraille hätten das Geräusch des Motors gehört. In zwanzig Minuten wäre ich in Paris. Ich würde mein kleines Zimmer am Boulevard Gouvion-Saint-Cyr wiederfinden und es nicht mehr verlassen. Auf bessere Zeiten warten. Aufhören, mich in Dinge einzumischen, die mich nichts angingen, und unnötige Risiken auf mich zu nehmen. An dir war es, da herauszukommen. Jeder für sich. Aber die Aussicht, dich mit ihnen da alleinzulassen, gab mir einen schmerzhaften Stich links in der Brust. Nein, das war nicht der Moment, dich aufzugeben.
Hinter mir stieß jemand die Glastür auf und setzte sich auf einen der Verandasessel. Ich wandte mich um und erkannte in dem Halbdunkel deine Gestalt. Wahrhaftig, ich hatte nicht erwartet, daß du dich hier zu mir gesellen würdest. Mit großer Vorsicht bin ich auf dich zugegangen, wie ein Schmetterlingsjäger, der sich einem seltenen Exemplar nähert, das von einer Sekunde zur anderen wegzufliegen droht. Und dann habe ich das Schweigen gebrochen:
»Man hat Annie also gefunden?«
»Noch nicht.«
Du gabst ein ersticktes Lachen von dir. Durch die Scheibe sah ich Murraille, stehend, den Telefonhörer zwischen Wange und Schulter geklemmt. Sylviane Quimphe legte eine Platte auf. Marcheret goß sich automatisch etwas zu trinken ein.
»Komische Leute, Ihre Freunde«, habe ich bemerkt.
»Das sind nicht meine Freunde, sondern nur … Geschäftspartner.«
Du suchtest etwas, um dir eine Zigarette anzuzünden, und ich erlaubte mir, dir das Platinfeuerzeug zu reichen, das Sylviane Quimphe mir geschenkt hatte.
»Sie sind in Geschäften tätig?« fragte ich.
»Ich muß wohl.«
Wieder dieses erstickte Lachen.
»Sie arbeiten mit Murraille zusammen?«
Nach einer Weile zögernd:
»Ja.«
»Und das geht gut?«
»Mal so, mal so.«
Wir hatten die ganze Nacht vor uns, um uns auszusprechen. Die »Kontaktaufnahme«, auf die ich so lange gewartet hatte, würde sich endlich ergeben. Ich war mir dessen sicher. Aus dem Salon drang die gedämpfte Stimme eines Tango-Sängers:
A la luz del candil …
»Vielleicht sollten wir uns ein wenig die Beine vertreten?«
»Warum nicht?« hast du erwidert.
Ich habe einen letzten Blick zur Fenstertür hin geworfen. Die Scheiben waren beschlagen, und ich unterschied nur noch drei große Flecke, die sich in einem gelben Nebel verloren. Vielleicht waren sie eingeschlafen …
Dieses Lied, das ich in Bruchstücken auch noch auf der Allee hörte, ließ mich stutzen. Waren wir wirklich im Département Seine-et-Marne oder irgendwo in den Tropen? Ich öffnete den Schlag des Talbot und streichelte das Verdeck. Wir bedurften seiner nicht. Mit einem einzigen Sprung, einem einzigen Riesenschritt würden wir Paris erreichen können. Schwerelos bewegten wir uns die Hauptstraße entlang.
»Und wenn die bemerken, daß Sie sich heimlich abgesetzt haben?«
»Das macht nichts.«
Eine solche Antwort von dir, der du doch ihnen gegenüber immer so ängstlich, so servil warst, hat mich überrascht. Zum ersten Mal schienst du mir entspannt. Wir nahmen den Weg zwischen den Grundstücken. Du pfiffst vor dich hin und deutetest sogar einen Tangoschritt an, und mich überkam eine bedenkliche Euphorie. Du sagtest zu mir: »Sehen Sie sich meine Villa an«, als verstünde sich das von selbst.
Von diesem Augenblick an weiß ich, daß ich träume, und vermeide allzu abrupte Bewegungen, um mich nicht selbst zu wecken. Wir durchschreiten den verwilderten Park, betreten das Vestibül, und du drehst hinter dir zweimal den Schlüssel im Schloß herum. Du deutest auf mehrere Mäntel, die auf dem Fußboden übereinander liegen.
»Ziehen Sie einen an, man friert hier.«
Das stimmt. Ich klappere bereits mit den Zähnen. Dieses Haus ist dir noch nicht sehr vertraut, denn du hast einige Mühe, den Lichtschalter zu finden. Ein Kanapee, Lehn- und Armsessel mit Schonbezügen. An der Hängelampe fehlen mehrere Glühlampen. Auf einer Kommode zwischen den beiden Fenstern ein Strauß aus getrockneten Blumen. Ich vermute, daß du gewöhnlich dieses Zimmer nicht benutzt, aber daß du mir an diesem Abend die Ehre des Salons geben wolltest. Wir bleiben unbeweglich, der eine genauso verlegen wie der andere. Schließlich sagst du:
»Setzen Sie sich, ich werde etwas Tee machen.«
Ich nehme auf einem der Lehnsessel Platz. Das Unangenehme an diesen Sesseln mit Schonbezügen ist, daß man sich ständig an die Lehnen klammern muß, wenn man nicht herunterrutschen will. Vor mir drei Gravuren mit ländlichen Szenen in der Manier des 18. Jahrhunderts. Die Einzelheiten kann ich wegen des verstaubten Glases nur schlecht erkennen. Ich warte, und dann auf einmal erinnert mich dieser verblichene Dekor an das Wartezimmer eines Zahnarztes in der Rue de Penthièvre, bei dem ich Zuflucht gesucht hatte, um einer Paßkontrolle zu entgehen. Die Möbel waren mit Schonbezügen bedeckt wie diese hier. Vom Fenster aus sah ich, wie die Polizei die Straße absperrte, ein wenig weiter hatten sie die Grüne Minna geparkt. Weder der Zahnarzt noch die alte Dame, die mir die Tür geöffnet hatte, gaben irgendein Lebenszeichen. Gegen elf Uhr habe ich mich dann auf Zehenspitzen entfernt und auf die verlassene Straße geschlichen.
Und jetzt sitzen wir einander gegenüber, und du servierst mir eine Tasse Tee.
»Es ist Earl Grey«, flüsterst du.
Wir geben komische Figuren ab in diesen dicken Mänteln. Der meine ist eine Art von Kaftan aus Kamelhaar und viel zu groß. Am Aufschlag deines Mantels bemerke ich die Rosette der Ehrenlegion. Er muß dem Eigentümer des Hauses gehört haben.
»Vielleicht nehmen Sie ein paar Biskuits? Ich glaube, es sind noch welche da.«
Du öffnest eine der Schubladen der Kommode.
»Hier, probieren Sie das …«
Es sind die Crèmewaffeln, die man »Ploum-Plouvier« nennt. Du warst ganz verrückt auf dieses gräßliche Backwerk; wir kauften es regelmäßig bei einem Bäcker in der Rue Vivienne. Im Grunde hat sich nichts geändert. Erinnere dich nur. Es kam vor, daß wir lange Abende zusammen an ebenso tristen Orten wie diesem hier verbrachten. Der »Living room« in Nr. 64 Avenue Félix-Faure mit seinen Kirschbaummöbeln …
»Noch etwas Tee?«
»Gern.«
»Entschuldigen Sie, aber ich habe keine Zitrone. Noch einen Ploum?«
Es ist ein Jammer, daß wir, tief in unseren gewaltigen Mänteln verborgen, nur oberflächliche Konversation machen. Dabei hätten wir uns so viel zu sagen! Was hast du denn gemacht, »Papa«, in diesen letzten zehn Jahren? Für mich, das weißt du, ist das Leben nicht leicht gewesen. Ich habe eine Zeitlang sogar Widmungen gefälscht. Bis zu dem Tag, an dem der Kunde, dem ich einen Liebesbrief von Abel Bonnard an Henry Bordeaux anbot, den Betrug erkannte und mich vor Gericht bringen wollte. Natürlich zog ich es vor zu verschwinden. Ein Posten als Studienaufseher in einem Gymnasium im Département Sarthe. Alles grau in grau. Hoffnungslose Kollegen. Klassen von widerspenstigen, höhnischen Jungen. Am Abend die Runde durch die Bistros mit dem Turnlehrer, der mich zum Hébertismus bekehren wollte und mir von der Olympiade in Berlin erzählte …
Und du? Hast du weiter deine Pakete an Sammler in Frankreich und in Übersee geschickt? Ich habe dir mehrmals aus meinem Provinznest schreiben wollen. Aber an welche Adresse?
Wir wirken wie zwei Einbrecher. Ich stelle mir die Überraschung der Eigentümer vor, wenn sie uns hier in ihrem Salon Tee trinken sähen. Ich frage dich:
»Haben Sie das Haus gekauft?«
»Es stand … leer.« – du blickst mich schräg an – »Die Eigentümer haben es vorgezogen wegzugehen wegen … der Ereignisse.« Das habe ich mir schon gedacht. Sie warten womöglich in der Schweiz oder in Portugal bessere Tage ab, und wenn sie wiederkommen, werden wir nicht mehr da sein, um sie zu empfangen. Alles wird wieder sein wie immer. Werden sie etwas von unserem Gastspiel bemerken? Nicht einmal das. Wir sind so diskret wie Ratten. Höchstens ein paar Brotkrümel, eine vergessene Tasse … Du öffnest das Likörschränkchen, etwas ängstlich, als fürchtest du, ertappt zu werden.
»Ein Gläschen ›Williams Birne‹?«
Warum nicht. Nutzen wir es aus. Dieser Abend, dieses Haus gehören uns. Ich blicke starr auf deine Rosette, aber ich brauche dich nicht zu beneiden: am Revers meines Mantels prangt auch ein schmales rotgoldenes Band, zweifellos irgendein militärischer Verdienstorden. Reden wir von angenehmeren Dingen, willst du? Von dem Garten, der gelichtet werden muß. Und von dieser Bronze, die sich im Lampenlicht so schön ausnimmt. Du beutest deinen Wald aus, und ich, dein Sohn, bin aktiver Offizier. Ich verbringe soeben meinen kurzen Urlaub in unserem schönen geliebten Haus. Ich finde die vertrauten Gerüche wieder. Mein Zimmer hat sich nicht verändert. In der Tiefe des Wandschranks die Bleisoldaten und der Mecano-Baukasten. Mama und Geneviève gehen zu Bett. Wir bleiben im Salon, Männer unter sich. Ich liebe diese Augenblicke. Wir trinken Pfirsichlikör in kleinen Schlucken. Dann werden wir uns, beide mit der gleichen Bewegung, unsere Pfeifen stopfen. Wir sind einander ähnlich, Papa. Zwei bretonische Dickschädel, wie du immer sagtest. Die Vorhänge sind zugezogen, das Feuer prasselt angenehm. Wir wollen wie zwei alte Kumpane plaudern.
»Kennen Sie Murraille und Marcheret schon lange?«
»Seit vorigem Jahr.«
»Und Sie verstehen sich gut mit ihnen?«
Du tatest so, als würdest du nicht begreifen. Du hast gehüstelt. Ich habe nicht locker gelassen.
»Nach meiner Meinung muß man sich mit diesen Leuten sehr vorsehen.«
Du bliebst gleichgültig, mit zusammengekniffenen Augen. Vielleicht hieltst du mich für einen Provokateur. Ich bin dicht an dich herangerückt.
»Entschuldigen Sie, wenn ich mich da in Sachen einmische, die mich nichts angehen. Aber ich habe den Eindruck, daß die Ihnen übel gesinnt sind.«
»Ich auch«, hast du erwidert. Ich glaube, daß du plötzlich Vertrauen faßtest. Erkanntest du mich wieder? Du fülltest unsere Gläser.
»Eigentlich könnten wir anstoßen«, habe ich gesagt.
»Gern!«
»Auf Ihr Wohl, Herr Baron!«
»Auf das Ihre, Monsieur … Alexandre! Wir machen schwierige Zeiten durch, Monsieur Alexandre.«
Du hast diesen Satz zwei- oder dreimal wiederholt, wie eine Art Vorrede, und dann begannst du mir deine Lage auseinanderzusetzen. Ich hörte dich nur schwach, als sprächest du zu mir durchs Telefon. Eine dünne Stimme, halb erstickt durch die Entfernung und die Jahre. Von Zeit zu Zeit schnappte ich ein paar Brocken auf: »Wegfahren …«, »Die Grenze überschreiten …«, »Gold und Devisen …«, und das genügte mir, um deine Geschichte zu rekonstruieren. Murraille, der deine Begabung als Makler kannte, hatte dich an die Spitze einer angeblichen »Französischen Handelsgesellschaft« gestellt, deren Aufgabe es war, alle möglichen Produkte zu lagern und später zu erhöhtem Preis abzusetzen. Sich selbst billigte er drei Viertel des Gewinns zu. Anfangs ging alles gut, und du warst stolz auf dein großes Büro in der Rue Lord-Byron, aber seit einiger Zeit brauchte Murraille deine Dienste nicht mehr und empfand dich als lästig. Nichts leichter in jenen Tagen, als sich eines Individuums deiner Sorte zu entledigen. Staatenlos, ohne sozialen Status noch festen Wohnsitz, das waren lauter schwere Handicaps. Es genügte, die eifrigen Männer von den Spezialeinheiten der Polizei zu verständigen … Du hattest keinerlei Zuflucht … Bis auf den Portier eines Nachtlokals, einen gewissen »Titiko«. Er war bereit, dich mit einem seiner »Verbindungsmänner« bekannt zu machen, der dich über die belgische Grenze schaffen würde. Die Begegnung sollte in drei Tagen stattfinden. Du würdest als gesamtes Reisegeld 1 500 Dollar mitnehmen, einen rosa Diamanten und kleine Goldplättchen in Form von Visitenkarten, die leicht zu verbergen sind.
Ich habe den Eindruck, einen schlechten Abenteuerroman zu schreiben, aber ich erfinde nichts. Nein, darum geht es nicht, erfinden … Gewiß gibt es Beweise, eine Person, die dich einst gekannt hat und die alle diese Dinge bezeugen kann. Das ist nicht so wichtig. Ich bin bei dir, und ich werde bis zum Ende des Buches bei dir bleiben. Du warfst ängstliche Blicke zur Eingangstür hin.
»Seien Sie unbesorgt«, habe ich gesagt. »Sie werden nicht kommen.«
Du beruhigst dich allmählich. Ich wiederhole dir, daß ich bis zum Ende dieses Buches bei dir bleiben werde, dem letzten Buch über mein anderes Leben. Glaube nicht, daß ich es zum Vergnügen schreibe, aber ich hatte keine andere Möglichkeit.
»Kurios, Monsieur Alexandre, daß wir zusammen hier in diesem Salon sind.«
Die Pendeluhr hat zwölfmal geschlagen. Ein massives Stück auf dem Kamin mit einem Rehbock in Bronze auf jeder Seite des Zifferblattes.
»Der Eigentümer liebte offenbar solche Uhren. Im ersten Stock gibt es sogar eine, die das Glockenspiel von Westminter imitiert.«
Und du bist in schallendes Gelächter ausgebrochen. Ich kannte schon diese Heiterkeitsanfälle. Als wir noch am Square Villaret-de-Joyeuse wohnten und alles schlecht für uns stand, hörte ich dich in der Nacht hinter der Trennwand meines Zimmers lachen. Oder du kehrtest mit einem Paket verstaubter Akten unter dem Arm nach Hause zurück. Du ließest sie fallen und erklärtest mir mit ersterbender Stimme: »Die werden niemals an der Börse notiert werden.« Du bliebst unbeweglich in der Betrachtung deines Reichtums, der auf dem Fußboden verstreut war. Und dann packte es dich plötzlich. Ein Lachen, das sich immer mehr ausdehnte, das deine Schultern schüttelte. Du konntest nicht mehr aufhören.
»Und Sie, Monsieur Alexandre, was machen Sie denn so im Leben?«
Was sollte ich dir antworten? Mein Leben? Ebenso unstet wie das deine, »Papa«. Achtzehn Monate im Département Sarthe als Studienaufseher, wie ich dir schon sagte. Studienaufseher in Rennes, Limoges und Clairmont-Ferrand. Ich suchte mir immer kirchliche Institute aus. Dort ist man besser geschützt. Diese solide Lebensweise bringt mir den Seelenfrieden. Einer meiner Kollegen, ein passionierter Pfadfinder, hat gerade ein Jugendlager im Wald von Seillon eingerichtet. Er sucht Unterführer und gewinnt mich dafür. Und so sehe ich mich auf einmal in marineblauen Golfhosen und gelben Ledergamaschen. Wir stehen früh um sechs auf. Wir teilen unsere Tage zwischen sportlicher Ertüchtigung und handwerklichen Arbeiten. Chorsingen am Abend und lauter rührende Folklore: Montcalm, Bayard, Lamoricière, »Adieu, schöne Françoise«, Hobelbank und Schnitzmesser.
Ich bin drei Jahre dageblieben. Ein sicheres Versteck und sehr geeignet, um sich in Vergessenheit zu bringen. Doch ach! Meine schlechten Instinkte gewannen wieder die Oberhand. Ich floh aus dieser Oase und fand mich am Ostbahnhof wieder, ohne auch nur Zeit gehabt zu haben, mich meiner Baskenmütze und meiner Abzeichen zu entledigen.
Ich durchstreife Paris auf der Suche nach einer geregelten Arbeit, einer Sache, der ich mich vollauf widmen könnte. Vergebliche Suche. Der Nebel hebt sich nicht, der Boden gleitet mir unter den Füßen weg. Immer häufiger leide ich an Gleichgewichtsstörungen. In meinen Alpträumen krieche ich unaufhörlich auf dem Boden herum, um mein verlorenes Rückgrat wiederzufinden. Die Dachkammer am Boulevard Magenta, die ich bewohne, diente dem Maler Domergue zu der Zeit, als er noch nicht zu Ruhm gekommen war, als Atelier. Ich bemühe mich, darin ein gutes Omen zu sehen.
An meine Tätigkeiten zu jener Zeit erinnere ich mich nur noch vage. Ich glaube, ich war einmal »Assistent« bei einem gewissen Dr. S., der seine Patienten unter den Drogensüchtigen suchte, denen er gegen Bezahlung in Gold Rezepte ausschrieb. Ich mußte ihm als Zutreiber dienen. Mir scheint auch, daß ich eine Zeitlang als »Sekretär« bei einer englischen Dichterin arbeitete, die eine fanatische Anhängerin von Dante Gabriel Rossetti war. Unwichtige Einzelheiten.
Ich erinnere mich nur noch an meine Streifzüge durch Paris und an dieses Gravitationszentrum, diesen Magneten, gegen den ich immer wieder stieß: die Polizeipräfektur. Ich konnte mich noch so weit entfernen, meine Schritte führten mich binnen weniger Stunden wieder dorthin. Eines Abends, als ich noch mutloser war als sonst, muß ich wohl die Wächter an dem großen Portal, Boulevard du Palais, um Erlaubnis gefragt haben, eintreten zu dürfen. Ich begriff nicht die Anziehungskraft, welche die Polizei auf mich ausübte. Zuerst dachte ich, es sei so etwas Ähnliches wie das Schwindelgefühl, das einen überkommt, wenn man sich über ein Brückengeländer beugt, aber es war noch etwas anderes dabei. Für verirrte junge Leute meiner Art hat die Polizei etwas Solides und Beeindruckendes. Ich träumte davon dazuzugehören. Ich vertraute mich Sieffer, an, einem Inspektor der Sittenpolizei, den ich zufällig einmal getroffen hatte. Er hörte mich verstohlen lächelnd, aber väterlich und fürsorglich an und war bereit, mich in seinen Dienst zu nehmen. Während mehrerer Monate habe ich als Freiwilliger Observationen durchgeführt. Ich mußte den verschiedensten Personen folgen und feststellen, wie sie ihre Zeit verbrachten. Wie viele aufregende Geheimnisse habe ich nicht im Laufe dieser Streifzüge entdeckt … Jener Notar von der Plaine Monceau, den man an der Place Pigalle mit blonder Perücke und Seidenkleid überraschen konnte. Ich sah, wie ganz unbedeutende Menschen sich von einem Augenblick zum anderen in Spukgestalten oder tragische Helden verwandelten. Schließlich glaubte ich, verrückt zu werden. Ich identifizierte mich mit all diesen Unbekannten. Ich selbst war es, dem ich unablässig nachspürte. Ich war der Greis im Regenmantel oder die Frau im beigen Kostüm. Ich sprach mit Sieffer darüber.
»Zwecklos weiterzumachen. Sie sind ein Amateur, mein Kleiner.«
Er begleitete mich bis an die Tür seines Büros.
»Seien Sie unbesorgt. Wir werden uns wiedersehen.«
Dann fügte er in gedämpftem Ton hinzu:
»Früher oder später trifft man sich doch wieder in der Arrestzelle …«
Ich faßte eine ehrliche Zuneigung zu diesem Mann und hatte volles Vertrauen zu ihm. Als ich ihm meine seelische Verfassung erklärte, umfaßte er mich mit einem traurigen, liebevollen Blick. Was ist aus ihm geworden? Vielleicht könnte er uns jetzt von Nutzen sein? Dieses Intermezzo bei der Polizei hat mir nicht gerade neuen Mut gegeben. Ich wagte nicht mehr, mein Zimmer am Boulevard Magenta zu verlassen. Eine Drohung schwebte über mir. Ich mußte an dich denken. Ich ahnte, daß du irgendwie in Gefahr warst. Jede Nacht zwischen drei und vier Uhr früh glaubte ich Hilferufe von dir zu hören. Nach und nach hat sich in meinem Kopf die Idee festgesetzt, mich auf die Suche nach dir zu machen.
Du hattest bei mir nicht gerade eine vorteilhafte Erinnerung hinterlassen, aber nach zehn Jahren verlieren die Dinge an Bedeutung, und ich trug dir die »schmerzliche Episode der Métro George-V« nicht nach. Wir werden dieses Thema noch einmal anschneiden, aber dann zum letzten Mal. Eins von beiden: Entweder ich verdächtige dich zu Unrecht. In diesem Fall nimm bitte meine Entschuldigung an und schreibe diesen Irrtum meiner geistigen Verwirrung zu. Oder, wenn du mich wirklich unter die Métro stoßen wolltest, billige ich dir mildernde Umstände zu. Nein, dein Fall hat überhaupt nichts Außergewöhnliches. Daß ein Vater versucht, seinen Sohn umzubringen oder sich seiner zu entledigen, erscheint mir höchst bezeichnend für die große Umkehrung aller Werte, die wir erleben. Noch vor kurzem konnte man das entgegengesetzte Phänomen beobachten: die Söhne töteten ihre Väter, um sich ihre Muskelkraft zu beweisen. Aber gegen wen sollen wir jetzt unsere Schläge führen? Verwaist, wie wir sind, sind wir dazu verdammt, auf der Suche nach den Vätern einem Phantom nachzujagen. Unmöglich, es zu erreichen. Es entschlüpft einem immer wieder. Das ist ermüdend, mein Lieber. Soll ich dir von den Anstrengungen meiner Phantasie erzählen? Heute abend sitzt du mir nun endlich gegenüber, mit deinen hervortretenden Augen. Du hast das Gehabe eines Schiebers, der so ziemlich am Ende ist, und dein Titel eines »Barons« ändert daran kaum etwas. Ich nehme an, du hast ihn in der Hoffnung gewählt, daß er dir mehr Gewicht und Ansehen verschaffen könnte. Diese Komödie ist zwischen uns nicht nötig. Ich kenne dich allzu lange. Erinnere dich, Baron, an unsere Sonntagsspaziergänge. Vom Zentrum von Paris ließ eine geheimnisvolle Strömung uns bis zu den äußeren Boulevards schweifen. Dort lädt die Stadt ihre Abfälle und ihr Treibgut ab. Soult, Masséna, Davout, Kellermann. Wieso hat man diesen zweifelhaften Örtlichkeiten die Namen von Siegern gegeben? Aber eben dort fühlten wir uns zu Hause.
Nichts hat sich verändert. Nach zehn Jahren bist du noch ganz derselbe, spähst zum Eingang des Salons wie eine aufgescheuchte Ratte. Und ich klammere mich wegen des ständig verrutschenden Überzugs an die Lehne des Sofas. Wir können uns noch so bemühen, wir werden niemals die Ruhe, die schöne Beständigkeit der Dinge kennenlernen. Wir werden bis zum Ende auf Treibsand marschieren. Du schwitzt vor Angst. Fasse dich, mein Alter. Ich bin an deiner Seite, ich halte dich im Dunkeln bei der Hand. Was auch immer geschieht, ich werde dein Los teilen. Sehen wir uns inzwischen hier ein wenig um. Durch die Tür zur Linken kommen wir in ein kleines Zimmer. Lederne Klubsessel, wie ich sie liebe. Ein Schreibtisch aus dunklem Holz. Hast du die Schubfächer durchwühlt? Wir drängen uns in die Intimität der Eigentümer und haben allmählich das Gefühl, zur Familie zu gehören; gibt es in den oberen Stockwerken noch mehr Schubfächer, Kommoden, Winkel, die wir erforschen könnten? Uns bleibt noch eine Frist von ein paar Stunden. Dieses Zimmer ist angenehmer als der Salon. Ein Duft von Tweed und holländischem Tabak. Auf den Regalen wohlgeordnete Bücher: die gesamten Werke von Anatole France und die Bände der Zeitschrift »Masque«, kenntlich an ihren gelben Einbänden. Setz dich hinter den Schreibtisch. Halte dich gerade. Es ist nicht verboten, sich auszumalen, wie unser Leben in einer solchen Umgebung verlaufen würde. Ganze Tage zum Lesen oder zum Plaudern. Ein deutscher Schäferhund würde Wache halten und etwaige Besucher einschüchtern. Am Abend würden wir mit meiner Verlobten Karten spielen.
Das Telefon klingelt. Du springst auf mit verstörtem Gesicht. Ich muß zugeben, daß dieses Klingeln mitten in der Nacht nicht vertrauenerweckend ist. Man versichert sich deiner Anwesenheit, um dich beim Morgengrauen zu verhaften. Man legt den Hörer auf, ehe du noch Zeit hast zu antworten. Sieffer bediente sich oft derartiger Mittel. Wir rennen die Treppe hinauf, straucheln, fallen übereinander, erheben uns wieder. Wir müssen eine ganze Zimmerflucht durchqueren, und du weißt nicht, wo die Lichtschalter sind. Ich stoße gegen Möbel, du tastest dich zu dem Telefonapparat. Es ist Marcheret. Er und Murraille fragen sich, warum wir so plötzlich verschwunden sind.
Seine Stimme klingt sonderbar in dieser Dunkelheit. Sie haben Annie gefunden, im Grand Ermitage moscovite in der Rue Caumartin. Sie war betrunken, hat aber versprochen, sich morgen Punkt drei Uhr vor dem Standesamt einzufinden.
Als sie die Eheringe tauschten, nahm sie den ihren und warf ihn Marcheret ins Gesicht. Der Bürgermeister tat, als sähe er nichts. Guy versuchte die Situation zu retten, indem er in Lachen ausbrach.
Eilige und improvisierte Trauung. Vielleicht fände man in der Tagespresse jener Zeit ein paar kurze Berichte. Ich erinnere mich, daß Annie Murraille einen Pelzmantel trug und daß diese Aufmachung, mitten im August, das Unbehagen noch vermehrte. Auf dem Rückweg haben sie kein Wort gewechselt. Sie ging am Arm ihres Trauzeugen, Lucien Remy, eines »Varietékünstlers« (das jedenfalls habe ich der Heiratsurkunde entnehmen können), und du, Trauzeuge von Marcheret, figuriertest darin mit dem folgenden Wortlaut: »Baron Chalva Henri Deyckecaire, Industrieller«.
Murraille ging von seinem Schwiegersohn zu seiner Tochter hinüber und scherzte, um die Atmosphäre zu entspannen. Ohne Erfolg. Schließlich wurde er dessen müde und sagte kein Wort mehr. Wir beide bildeten den Schluß dieser seltsamen Prozession.
Im »Clos-Foucré« war ein Lunch vorgesehen. Gegen fünf Uhr versammelten sich mehrere intime Freunde, die eigens aus Paris gekommen waren, um die Tische mit den Champagnerkelchen. Grève hatte das Buffet mitten im Garten errichtet.
Wir beide hielten uns etwas abseits. Ich beobachtete nur. So viele Jahre sind vergangen, aber die Gesichter, die Gesten, die Stimmen bleiben meinem Gedächtnis eingeprägt. Da war Georges Lestandi, der jede Woche über die erste Seite von Murrailles Zeitschrift seine boshaften »Notizen« und seine Denunziationen verstreute. Feist, mit lauter Stimme und einem ganz leichten Akzent von Bordeaux. Dann Robert Delvale, Direktor des Theaters de l'Avenue, ein jugendlicher Sechziger mit silbergrauem Haar, der sich schmeichelte, »Bürger« von Montmartre zu sein, dessen Folklore er besonders pflegte. François Gerbère, ein weiterer Mitarbeiter von Murraille, Spezialist für flammende Leitartikel, gehörte zu jener Kategorie von hypernervösen, lispelnden Burschen, die sich entweder als leidenschaftliche Kommunisten gebärden oder sich in faschistischen Stoßtrupps hervortun. Beim Abgang von der École Normale Supérieure hatte ihn der politische Virus ergriffen. Im übrigen war er dem – sehr provinziellen – Geist der Rue d'Ulm treu geblieben, und man wunderte sich, daß dieser Zögling von 38 Jahren sich so wild gebärden konnte.
Lucien Remy, der Trauzeuge der Braut. Ein gutaussehender kleiner Ganove mit blendendweißen Zähnen und pomadeglänzendem Haar. Man hörte ihn manchmal in Radio-Paris singen. Er bewegte sich auf der Grenze zwischen Unterwelt und Music-Hall. Schließlich kam Monique Joyce dazu. 26 Jahre alt, blond, mit gespielter Unschuldsmiene. Sie hatte ihr Debut am Theater, ohne dort groß in Erinnerung zu bleiben. Murraille besaß eine Schwäche für sie, und oft konnte man ihr Foto auf der Titelseite von C'est la vie sehen. Es gab auch Reportagen über sie. Eine davon stellte sie uns als »die eleganteste Pariserin der Côte d'Azur« vor. Sylviane Quimphe, Maud Gallas und Wildmer waren, natürlich, mit von der Partie.
Im Kreis all dieser Leute fand Annie Murraille ihre gute Laune wieder. Sie küßte Marcheret und bat ihn um Verzeihung, und er steckte ihr mit feierlicher Geste seinen Trauring an den Finger. Alle klatschten Beifall. Die Champagnergläser klirrten. Zurufe wurden ausgetauscht, Gruppen bildeten sich. Lestandi, Delval und Gerbère beglückwünschten den Ehemann. Murraille unterhielt sich in einem Winkel mit Monique Joyce. Lucien Remy hatte, nach den Blicken von Sylviane Quimphe zu urteilen, viel Erfolg bei den Frauen. Aber er lächelte ausschließlich Annie Murraille zu, die sich auf zudringliche Art an ihn lehnte. Vermutlich waren sie intim befreundet. Maud Gallas und der apoplektische Wildmer, in der Rolle der Gastgeber, reichten Getränke und Petits Fours herum. Ich bewahre noch in einer kleinen Mappe alle Fotos von dieser Zeremonie und habe sie unzählige Male betrachtet, bis meine Augen sich von Ermüdung oder Tränen verschleierten.
Uns beide hatte man ganz vergessen. Wir blieben still im Hintergrund, ohne daß irgend jemand uns die geringste Aufmerksamkeit schenkte. Ich dachte schon, wir wären nur irrtümlich in diese sonderbare Gartenparty geraten. Du schienst darin ebenso verloren wie ich. Wir hätten uns so schnell wie möglich davonmachen sollen, und ich begreife immer noch nicht, welch wahnwitzige Regung da plötzlich über mich kam. Ich ließ dich stehen und ging mit mechanischen Schritten auf die anderen zu.
Jemand puffte mich in den Rücken. Es war Murraille. Er zog mich mit sich, und ich fand mich Gerbère und Lestandi gegenüber. Murraille stellte mich als einen »jungen, talentierten Journalisten« vor, »den er soeben engagiert habe«. Darauf beglückwünschte mich Lestandi in halb gönnerhaftem, halb ironischem Ton mit einem »entzückt, mein lieber Kollege«.
»Und was schreiben Sie denn Schönes?« fragte mich Gerbère.
»Novellen.«
»Ausgezeichnet, Novellen«, bemerkte Lestandi, »man macht sich dabei die Hände nicht schmutzig. Neutrales Gebiet. Wie denken Sie darüber, François?«
Murraille hatte sich verdrückt. Das hätte ich auch gern getan. »Ganz unter uns«, sagte Gerbère, »glauben Sie, wir leben in einer Zeit, in der man noch Novellen schreiben kann? Ich jedenfalls habe nicht die geringste Phantasie.«
»Aber reichlich viel Bosheit!« rief Lestandi.
»Weil ich nicht hinterm Mond bin. Ich stoße meine Warnrufe aus, das ist alles.«
»Und die sind fürchterlich genug, mein guter François. Sage mir, was du für deinen nächsten Leitartikel ausbrütest.«
Gerbère nahm seine dicke Hornbrille ab. Er rieb die Gläser sehr langsam mit einem Taschentuch sauber. Er war seiner Wirkung sicher.
»Ein köstlicher Einfall. Es heißt: Jüdischer Tennis. Ich erkläre die Regeln des Spiels, dreispaltig.«
»Und was ist das, dein ›jüdischer Tennis‹?« erkundigte sich Lestandi lachend.
Darauf hat es uns Gerbère in allen Einzelheiten erläutert. Soviel ich verstanden habe, spielte man es zu zweit während eines Spaziergangs oder auf der Terrasse eines Cafés. Der erste, der einen Juden entdeckte, mußte es laut verkünden. 15 für ihn. Wenn dann der andere auch einen ausfindig machte, stand es 15 beide. Und so weiter. Sieger war derjenige, welcher die meisten Juden entdeckt hatte. Man zählte die Punkte wie beim Tennis. Nichts sei besser, so Gerbère, um die Reflexe der Franzosen zu trainieren.
»Stellen Sie sich vor«, fügte er versonnen hinzu, »ich brauche nicht mal ihre Köpfe zu sehen. Ich erkenne sie schon von hinten! Ehrenwort!«
Sie tauschten noch weitere Betrachtungen aus. Was ihn, Lestandi, besonders aufbrachte, war: daß diese »Untermenschen« immer noch ihr schönes Leben an der Côte d'Azur führen und in den »Cintras« von Cannes, Nizza oder Marseille ihre Apéritifs schlürfen konnten. Er bereitete eine Serie von »Enthüllungen« darüber vor. Er würde Namen nennen. Man mußte die zuständigen Behörden warnen. Ich wandte den Kopf ab. Du hattest dich nicht vom Fleck gerührt. Ich wollte dir freundschaftlich zuwinken. Aber sie hätten es bemerken und mich fragen können, wer denn dieser dicke Herr dort hinten im Garten sei.
»Ich komme eben aus Nizza«, sagte Lestandi. »Kein einziges menschliches Gesicht. Nichts als lauter Blochs und Hirschfelds. Es ist zum Kotzen …«
»Eigentlich genügt es, ihre Zimmernummern vom Hotel Ruhl weiterzugeben«, schlug Gerbère vor. »Das würde der Polizei die Arbeit erleichtern.«
Sie wurden lebhafter. Sie erhitzten sich. Und ich hörte ihnen bescheiden zu. Ich muß sagen, daß sie mich anödeten. Zwei ganz gewöhnliche Männer mittlerer Größe, wie es deren zu Millionen auf den Straßen gibt. Lestandi trug Hosenträger. Ein anderer als ich hätte sie zweifellos zum Schweigen gebracht. Aber ich bin feige.
Wir tranken mehrere Gläser Champagner. Lestandi erzählte jetzt von einem gewissen Blaustein, einem Filmproduzenten, »ein widerlicher Jude mit rötlich violettem Teint«, den er auf der Promenade des Anglais wiedererkannt hatte. Der, soviel war sicher, würde ihm nicht entgehen. Der Tag neigte sich. Die ganze Gesellschaft zog vom Garten in die Bar des Hotels um. Du hast dich ihnen angeschlossen und dich dann an meine Seite gesetzt … Dann, als wäre jeder von uns plötzlich elektrisiert worden, belebte sich die Stimmung. Eine hektische Ausgelassenheit. Auf Verlangen von Marcheret imitierte Delvale für uns Aristide Bruant. Aber Montmartre war nicht das einzige, was ihn inspirierte. Er war in den Boulevard-Theatern zur Schule gegangen und überhäufte uns nun mit Kalauern und faulen Witzen. Ich sehe noch seinen Spaniel-Kopf, sein feines Schnurrbärtchen. Er war so begierig, sein Publikum zum Lachen zu bringen, daß mir übel wurde. Wenn er eine Pointe abgeschossen hatte, zuckte er die Achseln und machte eine Miene, als messe er dem überhaupt keine Bedeutung bei. Dieser alte gepuderte Schmierenkomödiant erinnerte in manchen Augenblicken an Sacha Guitry Junior.
Lucien Remy trug uns dann ein kitschiges Chanson vor, das in jenem Jahr sehr populär war: Je n'en connais pas la fin. Annie Murraille und Sylviane Quimphe verschlangen ihn mit den Augen. Und auch ich sah ihn mir aufmerksam an. Seine untere Gesichtshälfte erschreckte mich besonders. Man konnte aus ihr eine nicht alltägliche Verderbtheit ablesen. Ich ahnte, daß er noch viel gefährlicher sei als die anderen. Man muß vor diesen pomadisierten Typen, die häufig in solchen »unsicheren Zeiten« auftauchen, auf der Hut sein. Danach produzierte sich auch Lestandi mit einer Nummer in der Tradition dessen, was man damals »Chansonniers« nannte. Es gab nichts Trostloseres für meinen Geschmack, aber Lestandi war stolz, uns vorzuführen, daß er das Repertoire von La Lune Rousse und von Deux Anes auswendig kannte. Jeder hat seine kleinen Eitelkeiten, seine Bravourstückchen.
Danach stieg Dédé Wildmer auf einen Stuhl und brachte einen Toast auf die Neuvermählten aus. Annie Murraille lehnte ihre Wange an Lucien Remys Schulter, und Marcheret schien das nicht zu stören. Sylviane Quimphe versuchte ihrerseits mit allen Mitteln, die Aufmerksamkeit des »charmanten Sängers« auf sich zu ziehen, Maud Gallas ebenfalls. An der Bar unterhielt sich Delvale mit Monique Joyce. Er wurde immer zudringlicher und nannte sie »mein Kleines«. Sie nahm seine Avancen mit gurrendem Lächeln hin und schüttelte ihre Mähne, als probte sie eine Rolle vor einer unsichtbaren Kamera. Murraille, Gerbère und Lestandi setzten ihre alkoholisch beschwingte Unterhaltung fort. Es war die Rede davon, ein Meeting in der Salle Wagram zu organisieren, bei dem die wichtigsten Mitarbeiter von C'est la vie das Wort ergreifen sollten. Murraille schlug sein Lieblingsthema vor: »Wir sind keine Angsthasen«, aber Lestandi berichtigte scherzend: »Wir sind nicht verjudet«.
Der Nachmittag war gewittrig, und der Donner rollte in dumpfen Wellen in der Ferne. Heute sind diese Leute verschwunden, oder man hat sie erschossen. Vermutlich interessieren sie keinen Menschen mehr. Aber ist es meine Schuld, wenn ich der Gefangene meiner Erinnerungen bin?
Als dann Marcheret auf uns zukam und dir den Inhalt eines Sektglases ins Gesicht goß, glaubte ich schon, meine Beherrschung zu verlieren. Du zucktest leicht zusammen. In barschem Ton sagte er dann zu dir:
»Das frischt die Gedanken auf, nicht wahr, Chalva?«
Er blieb mit gekreuzten Armen vor uns stehen.
»Das ist viel besser als Wasser«, schnarrte Wildmer. »Das prickelt!«
Du suchtest nach einem Taschentuch, um dich abzutrocknen. Delvale und Lucien Remy ließen ein paar spöttische Bemerkungen fallen, die bei den Damen Heiterkeit erregten. Lestandi und Gerbère blickte dich komisch an, und ich begriff, daß ihnen an jenem Abend deine Nase nicht paßte.
»Eine Überraschungsdusche, Chalva, wie?« erklärte Marcheret und tätschelte dir dabei den Nacken, als kraulte er einen Hund.
Du verzogst das Gesicht zu einem armseligen Lächeln.
»Ja, eine gute Dusche …« murmeltest du.
Das Traurigste dabei war, daß du aussahst, als wolltest du dich entschuldigen.
Sie nahmen ihre Gespräche wieder auf. Sie tranken. Sie lachten. Durch welchen Zufall hörte ich in dem allgemeinen Stimmengewirr folgenden Satz von Lestandi heraus: »Entschuldigen Sie mich, aber ich werde einen kleinen Spaziergang machen?« Noch ehe er die Bar verließ, war ich schon vor dem Hotel. Und dort trafen wir uns wieder. Als er mir seine Absicht anvertraute, sich ein wenig die Beine zu vertreten, fragte ich ihn so unbefangen wie möglich, ob ich ihn begleiten dürfe.
Wir gingen den Reitweg entlang. Und dann drangen wir in das Unterholz vor. Ein Buchenhain, über den die Sonne an diesem späten Nachmittag das wehmütige Licht der Gemälde eines Claude Lorrain breitete. Er sagte, daß wir gut daran täten, etwas Luft zu schnappen. Er liebe den Wald von Fontainebleau ganz besonders. Wir redeten über dies und das. Über die tiefe Stille ringsum und die Schönheit der Bäume.
»Hochwald! … Diese Bäume sind an die hundertzwanzig Jahre alt.« – Er lachte. »Ich wette mit Ihnen, daß ich dieses Alter nicht erreichen werde …«
Er machte mich auf ein Eichhörnchen aufmerksam, das etwa zwanzig Meter vor uns die Allee überquerte. Meine Hände waren feucht. Ich sagte ihm, ich läse mit Vergnügen seine vierzehntägigen »Echos« in C'est la vie. Und daß er meiner Meinung nach da einen schönen und mutigen Vorstoß zur Säuberung des öffentlichen Lebens unternähme. Er erwiderte, das sei kein besonderes Verdienst von ihm. Er liebe eben die Juden nicht, das sei alles. Und die Zeitschrift von Murraille erlaube ihm, sich ohne Umschweife zu dieser Frage zu äußern. Das sei der Unterschied zu der lahmen Presse der Vorkriegszeit. Zugegeben, Murraille neigte zu Geschäftemacherei und laxer Moral, aber die Zeitschrift war in den Händen einer Mannschaft von »Idealisten«. Leute wie Alin-Laubreaux, Zeitschel, Sayzille, Darquier und er selbst. Und vor allem Gerbère, der begabteste von ihnen. Lauter Kampfgefährten.
»Und Sie? Interessieren Sie sich für Politik?«
Ich bejahte und sagte, da müsse man endlich »gründlich« aufräumen.
»Mit dem Gummiknüppel dreinschlagen, wollen Sie wohl sagen!«
Und um mir ein Beispiel zu geben, fing er wieder von diesem Blaustein an, diesem Schandfleck der Promenade des Anglais. Und jetzt war dieser Blaustein wieder nach Paris gekommen und hatte sich in einer Wohnung verschanzt, deren Adresse ihm, Lestandi, bekannt war. Es bedürfte nur eines »Echos« in C'est la vie, und schon würden ein paar kräftige Schlägertypen dort an der Tür klingeln. Er selbst beglückwünschte sich schon im voraus zu dieser guten Tat.
Die Dämmerung sank herab. Ich beschloß, kurzen Prozeß zu machen. Ich warf einen letzten Blick auf Lestandi. Er hatte einen Bauch. Offenbar ein Genießer. Ich stellte ihn mir vor, wie er vor einem erlesenen provençalischen Gericht saß. Und ich dachte auch an Gerbère, an sein affektiertes Gelispel eines École-Normale-Zöglings und an seinen fetten Hintern. Nein, sie waren beide keine Blitzkrieger, und ich brauchte mich nicht einschüchtern zu lassen.
Wir gingen quer durch das immer dichter werdende Gebüsch. »Warum eigentlich diesem Blaustein nachstellen?« sagte ich. »Juden, die trifft man doch überall …«
Er begriff nicht und warf mir einen fragenden Blick zu.
»Dieser Herr, der vorhin ein Glas Champagner mitten ins Gesicht bekam … Sie erinnern sich?«
Er brach in Gelächter aus.
»Natürlich … Wir fanden, Gerbère und ich, er sähe nach schmutzigen Geschäften aus.«
»Ein Jude! Ich wundere mich, daß Sie das nicht gleich gesehen haben!«
»Aber was will denn der unter uns?«
»Das möchte ich auch wissen …«
»Wir werden diesen Gauner auffordern, uns seine Papiere zu zeigen!«
»Unnötig!«
»Sie kennen ihn?«
»Er ist mein Vater.«
Ich drückte ihm die Kehle zu, und meine Daumen schmerzten. Ich dachte an dich, um mir Mut zu machen. Er hat sich dann nicht mehr gewehrt. Im Grunde war es idiotisch, diesen aufgeblasenen Kerl umgebracht zu haben.
Ich fand sie an der Bar des Hotels wieder. Beim Eintreffen stieß ich auf Gerbère.
»Haben Sie Lestandi nicht gesehen?«
»Aber nein«, erwiderte ich zerstreut.
»Wo mag er hingegangen sein?«
Er sah mich eindringlich an und versperrte mir den Weg.
»Er wird schon wiederkommen«, sagte ich mit einer Falsettstimme, deren Peinlichkeit ich durch ein Räuspern zu korrigieren suchte. »Er muß wohl einen Spaziergang in den Wald gemacht haben.«
»Glauben Sie?«
Die anderen waren um die Bar versammelt, und du saßest auf dem Sofa in der Nähe das Kamins. Wegen des Dämmerlichts konnte ich dich nur schlecht erkennen. Es brannte nur eine einzige Lampe auf der anderen Seite des Raumes.
»Was halten Sie eigentlich von Lestandi?«
»Ich halte sehr viel von ihm«, habe ich erwidert.
Er drängte sich an mich. Ich konnte der klebrigen Berührung nicht mehr ausweichen.
»Ich habe eine große Zuneigung zu Lestandi. Er ist ein Charakter, eine Seele von einem ›Kaziken‹, wie wir auf der École Normale sagten.«
Ich pflichtete ihm durch mehrmaliges Kopfnicken bei.
»Er ist noch unausgeglichen, aber das stört mich nicht! Jetzt brauchen wir Kämpfernaturen!«
Seine Rede überstürzte sich.
»Man hat allzulange die Kunst der Nuancen und der Haarspalterei gepflegt! Was wir jetzt brauchen, sind junge Barbaren, die die Gartenbeete zertrampeln!«
Er bebte am ganzen Körper.
»Jetzt ist die Zeit der Mörder gekommen! Ich heiße sie willkommen!«
Diese letzten Worte klangen herausfordernd und zornig.
Jetzt ruhte sein Blick auf mir. Ich spürte, daß er mir etwas sagen wollte, sich aber nicht traute. Schließlich:
»Es ist verrückt, wie sehr Sie Albert Préjean gleichen …« Etwas Schmachtendes kam in seinen Ton. – »Hat man Ihnen niemals gesagt, daß Sie Ähnlichkeit mit Albert Préjean haben?«
Seine Stimme ging in leises, fast unhörbares Flüstern über.
»Sie erinnern mich auch an meinen besten Freund auf der École Normale, einen wunderbaren Jungen. Er ist im Jahre 1936 gefallen, bei den Franco-Truppen.«
Ich hatte Mühe, ihn noch wiederzuerkennen. Er wurde zusehends schlaffer. Sein Kopf würde gewiß noch auf meiner Schulter landen.
»Ich würde Sie gern in Paris wiedersehen. Das ist doch möglich, nicht wahr? Sagen Sie …«
Er hüllte mich mit feuchten Blicken ein.
»Ich muß abreisen, um noch meine Farce zu schreiben … Sie wissen ja … dieses ›Jüdische Tennis‹ … Sie werden Lestandi sagen, daß ich nicht länger auf ihn warten konnte …«
Ich habe ihn bis zu seinem Wagen begleitet. Er hängte sich an meinen Arm und redete wirr auf mich ein. Ich war noch unter dem Eindruck dieser plötzlichen Metamorphose, die aus ihm in wenigen Sekunden ein altes Weib gemacht hatte.
Ich half ihm, sich ans Steuer zu setzen. Er kurbelte die Scheibe herunter:
»Sie werden zu mir zum Essen kommen, Rue Rataud …« Er hielt mir sein flehendes, aufgedunsenes Gesicht entgegen.
»Sie werden es nicht vergessen, wie, mein Junge … Ich fühle mich so einsam …«
Dann fuhr er mit quietschenden Reifen ab.
Du saßest immer noch auf demselben Fleck. Eine schwarze Masse, die sich kaum von der Lehne des Fauteuils abhob. Die mangelhafte Beleuchtung konnte einen sehr leicht irreführen. Handelte es sich denn überhaupt um ein menschliches Wesen oder um einen Stapel von Überziehern? Die anderen ignorierten deine Anwesenheit. Um ihre Aufmerksamkeit nicht auf dich zu lenken, zog ich es vor, an dir vorbeizugehen und mich zu ihnen zu gesellen.
Maud Gallas erklärte, daß sie Wildmer stockbetrunken habe zu Bett bringen müssen. Das kam mindestens dreimal die Woche vor. Dieser Mann ruinierte seine Gesundheit. Lucien Remy hatte ihn noch zu der Zeit gekannt, als er alle großen Preise gewann. Eines Tages in Auteuil hatten die Fans von den Stehplätzen sich auf ihn gestürzt, um ihn im Triumph umherzutragen. Man nannte ihn den »Kentauren«. Zu jener Zeit trank er nur Wasser.
»Alle diese Burschen werden zu Neurasthenikern in dem Moment, da sie aus dem Wettbewerb ausscheiden«, bemerkte Marcheret.
Und er führte als Beispiel ehemalige Sportler wie Villaplane, Toto Grassin, Lou Brouillard an …
Murraille zuckte die Achseln:
»Auch wir, mach dir das klar, werden sehr bald aus dem Wettbewerb sein. Mit dem Artikel 75 und einem Dutzend Gewehrkugeln im Bauch.«
Sie hatten in der Tat die letzte Sendung vom Radio-Journal gehört, und die Nachrichten waren »noch alarmierender als sonst«.
»Wenn ich es recht verstehe«, sagte Delvale, »müssen wir die Sätze vorbereiten, die wir vor dem Erschießungskommando sagen wollen …«
Etwa eine Viertelstunde lang haben sie sich mit diesem Spiel vergnügt. Delvale meinte, daß ein »Es lebe das katholische Frankreich!« die beste Wirkung erzielen würde. Marcheret nahm sich vor zu rufen: »Ruiniert mir nicht die Visage! Zielt aufs Herz! Und zielt genau, denn es sitzt am richtigen Fleck!« Remy würde Le petit Souper aux Chandelles singen und, wenn er noch die Zeit dazu hätte, Lorsque tout est fini … Murraille würde sich weigern, sich die Augen verbinden zu lassen, und erklären, er wolle »dieser Komödie bis zum Ende beiwohnen«.
»Ich bedaure«, schloß er, »an Annies Hochzeitstag von solchen Albernheiten zu reden …«
Und Marcheret gab zur Entspannung der Atmosphäre seinen üblichen Scherz zum besten, nämlich, daß »die Brüste von Maud Gallas die aufregendsten von Seine-et-Marne« seien. Und schon knöpfte er ihr die Bluse auf. Sie blieb an die Bar gelehnt stehen und leistete ihm keinerlei Widerstand.
»Seht euch nur diese Wunder an!«
Er tätschelte sie, ließ sie aus dem Büstenhalter vorquellen. »Du brauchst sie um nichts zu beneiden«, murmelte Delvale zu Monique Joyce. »Um nichts, mein Kind, absolut nichts!«
Er bemühte sich ebenfalls, eine Hand in ihren Ausschnitt gleiten zu lassen, aber sie hinderte ihn daran, wobei sie nervös auflachte. Erregt hatte Annie Murraille unmerklich ihr Kleid gehoben, was Lucien Remy erlaubte, ihre Schenkel zu streicheln. Sylviane Quimphe stieß mich heimlich mit dem Fuß an. Murraille füllte immer wieder unsere Gläser und stellte mit müder Stimme fest, daß wir für künftige Todeskandidaten erstaunliche Haltung bewiesen. »Nein, habt ihr diese Brüste gesehen!« wiederholte Marcheret.
Er machte eine Bewegung, um Maud Gallas hinter der Bar zu erreichen, und warf dabei die Lampe um. Ausrufe. Seufzer. Man profitierte von der plötzlichen Dunkelheit. Schließlich schlug irgend jemand vor – Murraille, wenn ich mich recht erinnere –, daß es jetzt auf den Zimmern angenehmer wäre.
Ich fand einen Lichtschalter. Das Licht der Wandleuchter blendete mich. Es war niemand mehr da außer dir und mir. Die Holztäfelung, die Clubsessel und die auf der Bar verstreuten Gläser gaben mir ein Gefühl von Trostlosigkeit. Radio T. S. F. machte gedämpft weiter.
Bei mir bist du schön …
Und du warst eingeschlafen.
Cela signifie …
Den Kopf geneigt, den Mund offen.
Vous êtes pour moi …
Zwischen deinen Fingern die erloschene Zigarre.
Toute la vie …
Ich tippte dir leicht auf die Schulter.
»Und wenn wir uns davonmachten?«
Der Talbot parkte vor dem Portal der Villa »Mektoub«, und Marcheret hatte wie gewöhnlich die Schlüssel auf dem Armaturenbrett liegen lassen. Ich erreichte die Route Nationale. Die Nadel des Tachometers zeigte 130. Du machtest die Augen zu, wegen der Geschwindigkeit. Du hattest immer Angst im Auto, und um dich aufzumuntern, bot ich dir meine Schachtel mit Bonbons an. Wir durchfuhren lauter verlassene Ortschaften. Chailly-en-Bière, Perthes, Saint-Sauveur. Du bist auf dem Sitz neben mir zusammengesackt. Ich hätte dir Mut machen wollen, aber hinter Ponthierry erschien mir unsere Situation sehr bedenklich. Wir hatten keinerlei Papiere, weder du noch ich, und wir fuhren mit einem gestohlenen Wagen.
Corbeil, Ris-Orangis, L'Haÿ-les-Roses. Endlich die abgedunkelten Laternen der Porte d'Italie.
Bis dahin hatten wir kein Wort gewechselt. Dann drehtest du dich zu mir um und sagtest, wir könnten »Titiko« anrufen, den Mann, der sich erboten hatte, dich über die belgische Grenze zu bringen. Er hatte dir für den Notfall seine Nummer gegeben. »Sehen Sie sich vor, dieser Typ ist ein Spitzel«, erklärte ich mit unbeteiligter Stimme.
Du hast nicht gehört. Ich habe den Satz noch einmal wiederholt, ohne Erfolg.
Wir hielten am Boulevard Joudrin in der Nähe eines Cafés. Ich sah, wie die Dame am Buffet dir eine Telefonmünze reichte. Ein paar Gäste saßen noch um die Tische auf der Terrasse. Ganz in der Nähe die Métro-Station und der Park. Dieses Viertel von Montsouris hat mich an die Abende erinnert, die wir in der Maison de Rendez-vous, Avenue Reille, verbrachten. Ob es die Chefin, eine Ägypterin, noch gab? Ob sie sich noch an uns erinnerte? Duftete sie immer noch nach demselben Parfüm? Als du zurückkamst, lächeltest du befriedigt: »Titiko« hielt sein Versprechen und erwartete uns um 22.30 Uhr pünktlich in der Halle des Hotels Tuileries-Wagram, Rue des Pyramides. Unmöglich, den Lauf der Dinge noch zu ändern.
Haben Sie bemerkt, Baron, wie still Paris heute nacht ist? Wir gleiten menschenleere Avenuen entlang. Die Bäume zittern leise, und ihr Blattwerk bildet eine schützende Glocke über uns. Von Zeit zu Zeit ein erleuchtetes Fenster in der Fassade eines Hauses. Die Leute sind ausgegangen und haben vergessen, das Licht auszuschalten. Später einmal werde ich durch diese Stadt gehen, und sie wird mir ebenso tot erscheinen wie heute. Ich werde mich in dem Labyrinth der Straßen verlieren, immer auf der Suche nach deinem Schatten. Bis ich mich endlich mit ihm vereinige. Place du Châtelet. Du erklärst mir, daß die Dollars und der rosa Diamant im Futter deiner Weste eingenäht sind. Kein Gepäck, hat »Titiko« dir empfohlen. Das erleichtert den Übergang über die Grenze. Wir lassen den Talbot an der Ecke Rue de Rivoli und Rue d'Alger stehen. Wir sind eine halbe Stunde zu früh da, und ich schlage dir einen Spaziergang in den Tuilerien vor. Wir umwandern das große Bassin, als wir von ferne Applaus hören. Man gab ein Schauspiel im Freilichttheater. Ein Kostümstück. Von Marivaux, glaube ich. Die Schauspieler verbeugten sich, in bläuliches Licht getaucht. Wir mischten uns unter die Gruppen, die auf das Restaurant zusteuerten. Girlanden hingen zwischen den Bäumen. Auf dem Klavier gleich bei der Theke spielte ein älterer Herr traumwandlerisch Pedro. Du hast einen Café bestellt und dir eine Zigarre angezündet. Wir blieben schweigsam, alle beide. In Sommernächten wie dieser hier hatten wir oft zusammen auf der Terrasse eines Cafés gesessen. Wir pflegten die Leute um uns zu betrachten, die Autos, die auf dem Boulevard vorbeifuhren, und ich erinnere mich nicht eines einzigen Wortes, das wir je gewechselt hätten, außer an dem Tag, an dem du mich unter die Métro stießt … Ein Vater und ein Sohn haben einander offenbar nicht viel zu sagen.
Der Klavierspieler ging zu Manoir de mes rêves über. Du tastetest ständig nach dem Futter deiner Weste. Die Stunde hatte geschlagen.
Ich sehe dich noch in der Halle des Hotels Tuileries-Wagram auf einem Sofa mit Schottenmuster sitzen. Der Nachtportier liest in einem Magazin. Du blickst auf deine Armbanduhr. Eine Hotelhalle ganz ähnlich all den anderen, in denen du dich mit mir verabredetest. Astoria, Majestic, Terminus. Erinnern Sie sich, Baron? Sie machten den Eindruck eines Durchreisenden, der auf ein Schiff oder einen Zug wartet, die niemals kommen werden.
Du hast sie nicht näherkommen hören. Sie sind zu viert. Der Größte, der einen Gabardinemantel trägt, fragt dich nach deinen Papieren.
»Man wollte sich also nach Belgien einschleichen, ohne uns zu benachrichtigen?«
Er reißt das Futter deiner Weste auf, zählt umständlich die Banknoten, steckt sie in die Tasche. Der rosa Diamant ist auf den Teppich gerollt. Er bückt sich, um ihn aufzuheben.
»Wo hast du das gestohlen?«
Er ohrfeigt dich.
Du stehst da in Hemdsärmeln. Leichenfahl. Du bist um dreißig Jahre gealtert.
Ich halte mich im Hintergrund der Hotelhalle in der Nähe des Fahrstuhls, man hat mich noch nicht bemerkt. Ich könnte auf den Knopf drücken, hinauffahren. Abwarten. Aber ich gehe auf sie zu und nähere mich dem Typ im Gabardinemantel.
»Er ist mein Vater.«
Er betrachtet uns beide achselzuckend. Er ohrfeigt auch mich, gleichgültig, als handele es sich um eine bloße Formalität, und sagt dann zu den anderen gewandt:
»Ihr schafft mir dieses Gesindel fort.«
Wir stolpern in die Drehtür.
Die Grüne Minna steht ein wenig weiter oben, Rue de Rivoli. Da sitzen wir wieder auf dem Holzbänkchen, Seite an Seite. Es ist so dunkel, daß ich den Weg, den wir nehmen, nicht erkennen kann. Rue des Saussaies? Drancy? Die Villa Triste? Wie auch immer, ich werde mit dir gehen, bis ans Ende.
In den Kurven stoßen wir gegeneinander, aber ich kann dich kaum erkennen. Wer bist du? Und wenn ich dir auch Tage und Tage gefolgt bin – ich weiß nichts von dir. Eine Gestalt, die man im fahlen Licht der Deckenlampe nur ahnen kann.
Vorhin, als wir in den Polizeiwagen stiegen, haben sie uns ein wenig geschlagen. Deshalb sehen unsere Köpfe wohl ein bißchen komisch aus. Wie diese beiden Clowns, damals, im Zirkus Médrano.
Ganz gewiß einer der hübschesten Orte im Département Seineet-Marne und in bester Lage: am Rande des Waldes von Fontainebleau. Im vorigen Jahrhundert war er das Refugium einer Gruppe von Malern. Heute wird er von Touristen besucht, und einige Pariser besitzen dort Landhäuser.
Am Ende der Hauptstraße steht die »Auberge du Clos-Foucré« mit ihrer anglonormannischen Fassade. Gutbürgerlich, schlicht und rustikal. Erlesene Stammkundschaft. Gegen Mitternacht ist man zuweilen allein mit dem Barman, der die Flaschen einordnet und die Aschenbecher leert. Er heißt Grève und versieht diesen Dienst seit dreißig Jahren. Ein etwas wortkarger Mann, der jedoch, wenn man ihm sympathisch ist und ihm einen Mirabellenschnaps spendiert, durchaus bereit ist, sich an manches zu erinnern. Ja, er hat die Leute, deren Namen ich ihm nenne, gekannt. Aber wieso komme ich, noch so jung, dazu, ihm gegenüber diese Leute zu erwähnen? »Ach, was mich angeht …« Er leert die Aschenbecher in einen viereckigen Karton. Ja, diese kleine Gruppe war oft hier zu Gast, das ist lange her. Maud Gallas, Sylviane Quimphe … Er fragt sich, was wohl aus ihnen geworden ist. Mit dieser Art von Frauen weiß man nie. Er hat sogar ein Foto aufbewahrt. Da, der große Schlanke, das ist Murraille. Herausgeber einer Zeitschrift. Erschossen. Der andere, dahinter, der die Brust herausstreckt und eine Orchidee in der Hand hält: Guy de Marcheret, der sich mit Herr Graf anreden ließ. Ehemaliger Fremdenlegionär. Vielleicht ist er zurück in die Kolonien gegangen. Richtig, die gibt es ja nicht mehr … Der Dickste, der immer in dem Fauteuil vor ihnen saß, ist eines schönen Tages verschwunden. Ein »Baron« von So-und-so …
Er hat sie zu Dutzenden erlebt – genau wie diese Leute da haben sie träumerisch an der Bar gehockt und dann waren sie plötzlich verschwunden. Unmöglich, sich an all die Gesichter zu erinnern. Aber … wenn ich das Foto haben will, schenkt er es mir gerne. Doch ich sei noch jung, sagt er, und ich täte besser, an die Zukunft zu denken.