XIII
Sie hatten den Stadtrand von Shanghai erreicht, als Paul die Visitenkarte und die Papierserviette aus seiner Tasche zog und noch einmal die Nummern verglich. Sie waren identisch, erst jetzt fiel ihm auf, dass es eine singapurische Vorwahl war. Er nahm Yin-Yins Mobiltelefon und drückte zögernd die Zahlen.
»Hallo?«
»Hier ist Paul Leibovitz.«
»Wer sind Sie? Woher haben Sie meine Nummer?«
Es war eine dieser Stimmen, bei denen Paul am liebsten gleich wieder aufgelegt hätte. Schneidend. Aggressiv.
»Ich habe sie von Gao Jintao in Yiwu.«
»O.K. Was wollen Sie?«, herrschte die Stimme zurück.
»Ich brauche einen Termin bei Ihnen. So schnell wie möglich, es sei denn, ich muss dafür nach Singapur fliegen.«
Stille.
»Wo sind Sie jetzt?«
Jede Frage klang wie ein Befehl. Paul schüttelte sich. »Im Wagen. Auf dem Weg nach Shanghai.«
»Können Sie morgen früh um zehn Uhr in meinem Büro sein?«
»Ja. Wo?«
»Am Bund, Nummer 2. In dem Haus war früher der Shanghai Club.«
»Wir kommen zu zweit.«
»Kein Problem. Seien Sie pünktlich. Ich habe nicht viel Zeit.«
Paul gab Yin-Yin ihr Telefon zurück, sie steckte es weg, schaute ihm kurz in die Augen, ohne etwas zu sagen, sank zurück in ihren Sitz und blickte aus dem Fenster. Er beobachtete sie von der Seite. Eine Strähne war ihr ins Gesicht gefallen, den Rest der Haare hatte sie zu einem Knoten zusammengebunden und mit einem Stäbchen hochgesteckt. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, wie jung sie war. In ihrem Gesicht lagen, trotz ihrer Müdigkeit, noch keine Falten, weder um den Mund noch um die Augen. Ihr Körper war der einer jungen, sehr schönen Frau, die seine Tochter sein könnte. Sie sah erschöpft aus, fragil, die Melancholie in ihrem Blick rührte ihn. Paul dachte an die vergangenen sechsunddreißig Stunden, in denen sie praktisch jede Minute zusammen verbracht hatten. Ihr erschüttertes Gesicht, als sie von dem toten Kind ihrer Jugendfreundin erzählte. Ihr Lachen, als Wang, der Klassenclown behauptete, Paul sei zu alt für sie. Die zitternde Yin-Yin, die in ihrem Hotelzimmer nicht allein bleiben wollte. Er fühlte sich ihr nah, als würden sie sich schon viele Jahre kennen, und fragte sich, ob es ihr wohl ähnlich ging. Er wollte sie beschützen, hätte sie gern in den Arm genommen, doch die Angst, sie könnte diese Geste falsch verstehen, hielt ihn zurück.
»Hast du Lust, noch einen Tee bei mir zu trinken?«, fragte sie ganz plötzlich, während der Fahrer in die Changle Lu einbog. Als hätte sie seine Gedanken erraten.
»Gern.« Er war nicht sicher, ob das eine gute Idee war.
Der Wagen setzte sie an der Ecke zur Fumin Lu ab, Yin-Yin kaufte noch eine Pomelo, Bananen und eine Packung Wassermelonenkerne und führte ihn durch ein Labyrinth von Hinterhöfen und Gassen zu ihrer Wohnung. Sie lag in der oberen Etage eines zweistöckigen Hauses aus den zwanziger Jahren, war klein und, wie Paul fand, für zwei junge Frauen von erstaunlicher Unordnung. Im winzigen Flur lagen Zeitungen auf dem Fußboden verstreut, auf einem Wäscheständer hingen Socken und T-Shirts, darauf stand ein Teller mit Nudelresten.
»Entschuldige, Lu, meine Mitbewohnerin, nimmt es mit der Ordnung nicht so genau. Sie macht mich wahnsinnig«, erklärte Yin-Yin, lotste ihn in ihr Zimmer, öffnete die Fenster und verschwand in der Küche, um Tee zu bereiten.
In dem Raum war Platz für ein ungemachtes Bett, einen kleinen Schreibtisch, auf dem ein Haufen Zettel, Bücher und Modemagazine lagen, ein Regal und einen Notenständer, an dem der Geigenkasten lehnte. Unter der Decke war eine Leine gespannt, daran hing auf einem Bügel das wunderschöne Cheongsam. Auf dem einzigen Stuhl stapelten sich ein Kleid und mehrere Blusen, er hockte sich im Schneidersitz auf den Boden. Je länger Paul das Chaos betrachtete, desto besser gefiel es ihm, vor fünfundzwanzig Jahren hatte es in seinen Zimmern ähnlich ausgesehen. Er hörte Yin-Yin in der Küche hantieren. Aus einer Nachbarwohnung vernahm er das Geklapper von Mahjongsteinen, von weitem klang ein monotoner Singsang herüber, ein Altpapierhändler, der durch die Gassen zog. Ihm folgte ein Scherenschleifer, der laut um Aufmerksamkeit warb. Welch ein Kontrast zu der Ruhe, die ihn auf Lamma umgab. Wie konnte es sein, dass er sie weder jetzt noch in den vergangenen Tagen vermisst hatte?
Yin-Yin kam mit dem Tee, setzte sich Paul gegenüber aufs Bett und musterte ihn lange mit einem Blick, den er nicht zu deuten vermochte. Paul konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal mit einer Frau allein in ihrer Wohnung gewesen war, und spürte, wie ihn eine innere Unruhe beschlich. Das Gefühl, hier nicht hinzugehören und trotzdem nicht gehen zu wollen.
»Schöne Wohnung«, sagte er, um die Stille zu durchbrechen. Er, der Schweigen sonst so gut ertrug.
Sie lächelte. Ahnte sie, woher seine Unruhe rührte?
»Du bist ein seltsamer Mensch«, sagte sie.
»Was heißt seltsam?«
»Ungewöhnlich.«
»Ist das ein Kompliment?«, fragte er geschmeichelt zurück.
»Eher eine Feststellung.«
»Wie kommst du darauf?« Eine Spur von Enttäuschung lag in seiner Stimme.
»Ich weiß nicht. So wie du meinem Vater begegnest. Wie du unsere Sprache sprichst. Wie du uns hilfst. Wie du angezogen bist. Die meisten Ausländer, die ich kenne, laufen in Anzügen herum und sind in China, um Geschäfte zu machen. Was machst du hier? Was versprichst du dir davon, dass du dich so mit der Ursache von Mamas Krankheit beschäftigst?«
»Gute Frage, schwer zu beantworten.«
»Versuch’s.«
»Ich mag deinen Vater.«
»Das reicht nicht«, entschied sie mit einem Lächeln.
»Ich finde ihn unendlich tapfer. Wie er sich um eure Mutter kümmert. Seine Hingabe, die Ruhe, die er dabei ausstrahlt. Er hat mir nicht nur leidgetan, er hat mich beeindruckt. Ich möchte ihm helfen. Das ist alles.«
»Das glaube ich nicht. Keine Leistung ohne Gegenleistung. Das ist im Westen doch auch so, oder?«
»Bei mir nicht. Das ist das Ungewöhnliche an mir«, antwortete er und hoffte, sie würde den ironischen Unterton erkennen. Yin-Yin verstand die Anspielung nicht, schüttelte kurz den Kopf, nippte an ihrem Tee.
»Wie alt bist du eigentlich?«, fragte sie nach einer Weile.
»Ich könnte dein Vater sein.« Die Antwort alter Männer.
Sie verdrehte die Augen. »Danach habe ich nicht gefragt.«
»Dreiundfünfzig.« Er hatte seit Justins Tod jedes Gefühl für sein Alter verloren, es war ohne Bedeutung, jetzt, in diesem Zimmer, in ihrer Gegenwart, klangen dreiundfünfzig Jahre furchtbar alt.
»Spielst du ein Instrument?«
»Nein.« Als müsse er ihr etwas beweisen, fügte er hinzu: »Aber ich liebe Musik.«
»Ich weiß.« Sie schaute ihn an, bis er ihrem Blick auswich.
Das Klappern der Mahjongsteine. Der Singsang des Scherenschleifers. Vogelgezwitscher. Jeder Ort, dachte Paul, hat seine eigene Melodie. Man muss sich nur die Zeit nehmen, sie zu hören.
»Du wolltest mir noch erzählen«, sagte Yin-Yin nach einer langen Pause, »warum du früher zu den Menschen gehört hast, die nichts zu verlieren hatten.«
Die falsche Frage. Die richtige Frage. »Weil ich damals alles verloren hatte.«
Die Verwunderung in ihrem Gesicht. Sie hatte die Augen eines besorgten, bekümmerten, aber tief in seiner Seele unverletzten Menschen, in ihnen lag noch so viel jugendliche Zuversicht, dass es ihn fast körperlich schmerzte. Es sind nicht die Jahre, die uns altern lassen, dachte er, es sind die Wunden, die uns das Leben zufügt. Die Verletzungen, die Verluste. Es war ein Blick, der ihm das Gefühl gab, alt zu sein. So alt, wie selten in seinem Leben. Und gleichzeitig eine Sehnsucht in ihm weckte, ohne dass er genau wusste, wonach. Nach der unerträglichen Leichtigkeit der Jugend, die er selbst nie erlebt hatte? Dieses Lebensgefühl, bei dem das Dasein wie ein endloses Meer an Möglichkeiten funkelt, in das man nur eintauchen muss?
»Und heute?«, unterbrach Yin-Yin seine Gedanken.
»Habe ich viel zu verlieren.«
»Was?«
»Wen«, verbesserte er sie. »Wir haben immer nur Menschen zu verlieren. Alles andere ist ersetzbar oder nicht wichtig.«
»Also: Wen?«
»Christine.«
»Und wen hast du verloren?«
»Meinen Sohn.«
Sie schwiegen lange. Er fürchtete, sie würde weiterfragen, Trost spenden wollen oder, was am schlimmsten wäre, von jemandem erzählen, der auch sein Kind verloren hatte und wie furchtbar das gewesen war, und sie könne sich vorstellen, wie schlimm das für ihn … Aber Yin-Yin spürte offenbar, dass in diesem Moment jedes Wort eines zu viel wäre; sie ertrug die Stille, aus der jede Spannung gewichen war, blickte auf ihre Zehenspitzen und umklammerte die Teetasse. Einer ersten vagen Enttäuschung folgte bei Paul Erleichterung. Er dachte an Justin, und was er wohl sagen würde, könnte er seinen Vater in dieser Unordnung auf dem Fußboden hocken sehen. Er würde mich auslachen, vermutete Paul. Er dachte an Christine und empfand eine unendliche Sehnsucht nach ihr. Sie hatten zwar täglich telefoniert, jedoch immer nur kurz, und die vergangenen Tage waren so hektisch und intensiv gewesen, dass er kaum Zeit gehabt hatte, viel an sie zu denken. Jetzt fühlte er, wie sehr ihn die Recherchen angestrengt hatten und wie sehr er sich auf sie freute.
»Du siehst müde aus. Willst du gehen?«
»Ich glaube, ja.«
»Was heißt, du glaubst?«
Paul musste über sich selbst lachen: »Dass es besser ist, wenn ich gehe. Ich bin wirklich ein wenig erschöpft.«
»Ich hatte Angst, allein zu sein.«
»Ich weiß. Möchtest du, dass ich bleibe?«
Sie schüttelte den Kopf. »Mein Bruder wohnt in der Nähe, vielleicht gehe ich später zu ihm.«
»Wo wollen wir uns morgen früh treffen?«
»Ich hole dich um 9.30 Uhr im Hotel ab.«
Als Paul auf der Changle Lu stand, merkte er erst, wie hungrig er war. Gegenüber dem Supermarkt hatte er ein paar kleine Restaurants gesehen und ging nun im Schatten der Platanen Richtung Fumin Lu. Es war kurz vor Anbruch der Dämmerung, in den überfüllten Straßen stritten Autos, Fahrräder, Fußgänger und fliegende Händler um den Platz. Einer wollte ihm gefälschte Uhren verkaufen, ein anderer Kugelschreiber. Gürtel, raubkopierte DVDs. Eine Frau folgte ihm und zischelte fortwährend »Gucci-Prada-Wietong. Billig, billig, bester Preis« in sein Ohr, bis er sie mit einer energischen Handbewegung verscheuchte. Grelles Neonlicht beleuchtete die Obst- und Gemüsestände, die Teegeschäfte und Kioske. Es ließ die Gesichter der Verkäufer blass und kalt aussehen. Er kam an einem Massagesalon vorbei, in dem ein paar junge Frauen in pinkfarbenen Kleidern gelangweilt in einen Fernseher glotzten. Eine winkte ihm zu, er lächelte zurück. In einer Toreinfahrt hatte ein alter Mann einen Spiegel an die Mauer gehängt, einen Stuhl davor gestellt, auf einem Tischchen lagen Scheren, Kämme und Rasierer ordentlich sortiert, Zeitung lesend wartete er auf Kunden.
Paul setzte sich vor eine Nudelsuppenküche, die Klapptische und Hocker auf dem Bürgersteig ausgebreitet hatte. Es roch köstlich nach Fleischbrühe, Koriander und Knoblauch, ein junger Mann fertigte aus einem grauweißen Klumpen Teig für jede Bestellung frische Nudeln an. Mit Hingabe knetete und formte er den Ballen, zog ihn wieder und wieder in die Länge, bis er eine Hand voll Spaghetti hatte und die mit einem Sieb in heißem Wasser schwenkte. Vor seinen Füßen hockten zwei junge Frauen aus dem Restaurant nebenan, sie wuschen Fisch im Rinnstein und redeten und lachten so laut durcheinander, dass Paul nur Bruchstücke verstand.
Die Suppe schmeckte wunderbar, scharf und kräftig, nach Lamm und Gemüse, und als er es dem Koch zurief, grinste der verlegen zurück. Das verschämte Lächeln eines Menschen, für den Lob ein seltener Luxus war.
Das Leben, das Paul umgab, vertrieb auf wundersame Weise seine Müdigkeit, er verspürte große Lust, spazieren zu gehen, zahlte, stand auf und tauchte ein in diese Welt aus Gassen, Hinterhöfen und Platanenalleen, in der nasse Unterhosen, Strümpfe und Hemden auf Wäscheleinen über den Straßen hingen und auf Passanten tropften; in der es an jeder Ecke nach Essen duftete; in der er bis vor die Häuser das Rülpsen und Furzen der Satten hörte, das Gezänk der Streitenden, das Schnarchen der Ruhenden. Das Flüstern der Liebenden.
Je länger er sich treiben ließ, desto besser gefiel es ihm. Aus dem blassen, eintönigen Shanghai seiner Erinnerung, in dem alle Menschen Fahrrad fuhren und die gleichen grauen oder blauen Mao-Anzüge trugen, war eine ruhelose, gierige Stadt geworden, bevölkert von Suchenden, Rastlosen, Getriebenen. Voller nervöser Energie und voller Mut. Von Menschen, die ihr Dorf, ihre Stadt verlassen hatten, verführt von der Hoffnung, dass hier ein besseres Leben auf sie wartete. Shanghai erinnerte ihn an das New York seiner Jugend. Oder an jenes Hongkong, in das er sich in den siebziger Jahren verliebt hatte, bevor die Stadt ihr Gesicht verlor und sich in eine spiegelverglaste, wohltemperierte Klimazone verwandelte, in der es nur noch nach Abgasen roch statt nach Menschen.
»Liebeshungrig« hatte ihn Christine vor zwei Wochen genannt. Vielleicht, dachte er, hatte sie das Richtige gemeint, aber das falsche Wort gewählt. Vielleicht wäre nach den Jahren der Isolation auf Lamma »lebenshungrig« treffender gewesen.
Im Hotel rief er als Erstes Christine an. Es war ihm in den vergangenen Tagen zunehmend schwerer gefallen, ihren Ärger und ihre Irritation über die mehrfache Verzögerung seiner Rückkehr nach Hongkong zu zerstreuen. Von den Testergebnissen und seinem Verdacht hatte sie am Donnerstag nicht viel wissen wollen, gestern hatte er ihr etwas von Gesprächen mit Ärzten in Shanghai erzählt und dass es unter Umständen noch Hoffnung gäbe für Min Fang und dass ihr Bruder ihn gebeten hätte, noch einige Tage zu bleiben.
Er merkte ihr sofort an, dass etwas nicht stimmte.
»Geht es dir nicht gut?«
»Nein«, erwiderte sie matt. »Ich bin krank.«
»Was hast du?« Er bemühte sich, ruhig zu bleiben.
»Ich hab mich die ganze Nacht übergeben und fühle mich unendlich erschöpft. Seit Tagen schon.«
»Warst du beim Arzt?«
»Ja, gestern und vorhin noch einmal.«
»Davon hast du mir gar nichts erzählt«, sagte er vorwurfsvoll.
»Ich wollte dir keine Angst machen«, antwortete Christine und schwieg.
Warum sprach sie nicht weiter? »Weshalb verrätst du mir nicht, was er gesagt hat?«
»Er … er …«
Ihr Stottern machte ihn wahnsinnig. Es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen.
»Christine«, rief er. »Nun sag schon.«
»Nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest. Ich soll mich schonen. Ich bin überarbeitet. Mehr nicht.«
»Hat er dir Blut abgenommen?«
»Selbstverständlich.«
»Sind die Werte in Ordnung?«
»Ja, Paul. Alles normal.«
»Hast du irgendwo am Körper blaue Flecken?« Bei Justin hatte er sie gesehen, ihnen jedoch keine Beachtung geschenkt. Blaue Flecken bei einem Jungen. Na und? Vorboten des Todes waren es gewesen.
»Nein.«
»Nasenbluten?«
»Nein. Bitte, bitte, mach dir keine Sorgen. Es wird Zeit, dass du wiederkommst«, sagte sie ohne Vorwurf in der Stimme.
»Ich weiß. Montagmorgen. Mit der ersten Maschine.«
»Sicher?«
»Versprochen.«
»Ich brauche dich.«
»Ich dich auch.«
Ein Rest Argwohn blieb.
Yin-Yin holte ihn im Hotel ab, sie hatte ihm zwei kleine Geschenke mitgebracht, eine Dose besten grünen Tee und ihre Einspielung von Schuberts Streichquintett. Sie war ausgeschlafen, guter Stimmung und freute sich offensichtlich, ihn zu sehen.
Sie überquerten den Suzhou Creek und liefen den Bund hinunter, am anderen Ende lag das Büro von Chen.
Nach zwanzig Minuten standen sie vor der Hausnummer 2, einem weißen neoklassizistischen Gebäude aus den ersten Jahren des vergangenen Jahrhunderts, das früher zu den vornehmsten Adressen Shanghais gehört hatte. Ein dezentes Messingschild neben dem Eingang. Sie stiegen die Treppen in den dritten Stock hoch, Rechtsanwalt Chen öffnete ihnen selbst die Tür. Er war so groß wie Paul, aber kräftiger, eine imposante Erscheinung, die Paul eher an der Wall Street vermutet hätte als in China. Chen sah aus, als würde er viele Stunden im Fitness-Studio verbringen, trug einen eleganten dunklen Anzug, weißes Hemd, schwarze Schuhe und eine randlose Brille.
Er führte sie durch einen langen Flur an einer Zimmerflucht vorbei; es war Sonntag und außer ihnen befand sich niemand in der Kanzlei. Von seinem Büro aus hatten sie einen beeindruckenden Blick über den Fluss, die Einrichtung erinnerte Paul an die eines britischen Advokaten, den er in Hongkong einmal aufgesucht hatte: dunkler, schwerer Mahagonischreibtisch, Ledersessel, eine Sitzecke mit zwei englischen Ledersofas. Sie setzten sich, ohne dass er ihnen etwas anbot.
»So, so, Gao schickt Sie. Wie geht es ihm?«
Yin-Yin schwieg. Sie hatten vereinbart, dass Paul die Geschichte erzählen und das Gespräch zunächst führen sollte, aber auch er tat sich mit einer Antwort schwer. Wenn man ihm gegenübersaß, wirkte Chen weniger aggressiv, seine Stimme hatte ihren herrischen Ton verloren, trotzdem konnte Paul ihn schlecht einschätzen. Er vermutete, dass Chen keine Fragen stellte, ohne sich etwas dabei zu denken, sie mit ihnen möglicherweise testen oder in eine Falle locken wollte; jede Erwiderung musste wohl überlegt sein.
»Soweit wir das beurteilen konnten, ganz gut«, antwortete Paul ausweichend.
»Läuft er noch barfuß durch sein Büro?«
»Ja.«
»Woher kennen Sie ihn?«
»Ein guter Freund hat ihn uns empfohlen.«
»Und er hat Sie zu mir geschickt, weil …«, Chen wartete darauf, dass Paul den Satz beendete.
»… weil er glaubt, dass nur Sie uns helfen können. Zumindest hat er das gesagt.«
»Das muss ja ein interessanter Fall sein. Worum geht es denn?«
Paul hatte kaum die Wörter »Sanlitun« und »Quecksilber« ausgesprochen, als ihm Chen abrupt ins Wort fiel. »Was halten Sie von einem Spaziergang auf dem Bund?«, sagte er und erhob sich im selben Moment. »Lassen Sie Ihre Sachen und Mobiltelefone ruhig hier. Wir kommen später zurück ins Büro.«
Sie fuhren, ohne ein Wort zu wechseln, mit dem Fahrstuhl hinunter, überquerten den Bund und gingen am Wasser langsam Richtung Peace Hotel. Auf der Uferpromenade mischten sie sich zwischen Reisegruppen, die von ihren Leitern mit kleinen Fähnchen herumdirigiert wurden, und Eltern, die ihren Kindern mit stolzen Gesichtern die Skyline Pudongs zeigten. Besucher vom Land, die an ihren Schuhen und der grauen Kleidung zu erkennen waren, posierten für Erinnerungsfotos mit den Hochhäusern im Hintergrund, dazwischen liefen junge Männer herum, die Plastikspielsachen, kandierte Früchte und Lotterielose feilboten. Einen besser geeigneten Ort für vertrauliche Gespräche gab es kaum.
Ein paar Schuten zogen gemächlich flussaufwärts, das Tuten einer Schiffsirene ließ Yin-Yin zusammenfahren.
»Jetzt erzählen Sie mir noch einmal in Ruhe, was passiert ist«, bat Chen nach einer Weile. Nachdem Paul seinen Bericht beendet hatte, steuerte der Anwalt eine gerade frei gewordene Bank an, und sie setzten sich.
»Und Gao hat allen Ernstes behauptet, ich könne Ihnen helfen?«
»Ja, das hat er«, sagte Yin-Yin entschieden. Paul entnahm ihrer Stimme, dass sie sich nicht mit einer Es-tut-mir-leiddass-ich-nichts-für-Sie-tun-kann-Antwort zufrieden geben wollte.
Chen seufzte. »Ich bin Wirtschaftsanwalt. Ich berate Firmen bei Übernahmen und Immobiliengeschäften. Ich habe im Strafrecht angefangen, aber das ist lange her. Was ich jetzt mache ist, ich gebe es gern zu, weitaus lukrativer.«
»Warum hat Gao Sie uns dann empfohlen?«, fragte Yin-Yin misstrauisch.
»Weil wir gut befreundet sind. Wir haben zusammen studiert. Hatten die beiden besten Abschlüsse unseres Jahrgangs in der ganzen Provinz Zhejiang. Wir arbeiteten danach für ein paar Jahre in derselben Kanzlei, hauptsächlich Zivilund Strafrecht. Eines Tages standen zwei Bauern in meinem Büro. Ein Parteikader hatte ihnen widerrechtlich Land weggenommen, ohne sie entsprechend zu entschädigen. Das passiert täglich.«
»Und?«
»Ich habe sie weggeschickt. Kurz drauf bekam ich das Angebot aus Shanghai von einer Kanzlei für Wirtschaftsrecht.«
»Hatte nicht Gao einen ähnlichen Fall?«, wunderte sich Yin-Yin.
»Ja, aber Jahre später. Ich weiß bis heute nicht, ob es Zufall war, oder ob uns jemand testen wollte. Gao hat ihn angenommen. Die Folgen, die es für ihn hatte, haben Sie gesehen.«
»Er wirkte nicht niedergeschlagen«, sagte Paul.
»Da haben Sie Recht. Gao ist mit sich im Reinen. Der einzige Mensch, den ich kenne, von dem ich das behaupten würde. Dafür bewundere ich ihn. Manchmal leiste ich ihm kleine Freundschaftsdienste.«
»In welcher Art?«
»Ich berate ihn bei komplizierten Geschichten. Setze hin und wieder Schriftstücke für ihn auf oder lasse einen meiner Mitarbeiter in seiner Angelegenheit recherchieren. Er hat ja sonst niemanden. Wirtschaftsrecht, wissen Sie, ist einträglich, aber auf die Dauer recht langweilig. Man hat doch immer zwei Seelen in seiner Brust. Mindestens. Oder nicht?«, erklärte er mit einem kurzen Lächeln. »Ich fürchte jedoch, Ihre Geschichte ist auch für mich eine Nummer zu groß. Sollten wir ein Gericht finden, das diese Klage annimmt, geht es in diesem Fall nicht mehr darum, Sanlitun zu schützen. Es geht darum, die Regierung zu schützen. Die der Provinz und am Ende auch die in Beijing«, sagte Chen.
»Warum?«, fragte Yin-Yin argwöhnisch.
»Für einen solchen Umweltskandal, oder soll ich es lieber Verbrechen nennen, das wäre treffender, trägt nicht Sanlitun allein die Verantwortung. Beteiligt sind auch die Offiziellen in der Stadtverwaltung von Yiwu. Die Parteikader der Provinz Zhejiang, bis hinauf in die Hauptstadt. Es geht um die Zensur der Medien. Es geht um die Unabhängigkeit unserer Umweltschutzbehörden und unserer Gerichte. Es geht um die Bestechlichkeit der Beamten und Parteifunktionäre. Es geht um die Stellung der Kommunistischen Partei. Sie können auch sagen: Es geht um alles.«
Ein Junge wollte ihnen Plastikblumen verkaufen, Chen verscheuchte ihn mit einer harschen Handbewegung.
»Ich glaube, es ist etwas viel, was Sie sich vornehmen. Wenn Sie meinen Rat hören wollen: Lassen Sie die Sache auf sich beruhen.«
»Ich hatte von einem Mann wie Ihnen einen originelleren Vorschlag erwartet«, erwiderte Yin-Yin enttäuscht. »Meine Mutter war bis vor wenigen Wochen eine gesunde Frau. Jetzt liegt sie zu Hause im Bett und kann sich nicht mehr bewegen. Sie stöhnt und röchelt. Sie grunzt wie ein Schwein. Sie ist blind. Sie ist taub. Sie scheißt und pisst ins Bett wie ein Baby, und Sie sagen, ich soll die Geschichte vergessen?«
»Ihre Mutter wird davon nicht wieder gesund.«
»Das habe ich jetzt oft genug gehört«, platzte es voller Wut aus ihr heraus. »Was ist mit den toten und verkrüppelten Kindern?«
Chen verstummte für eine Weile. Dann antwortete er, jedes seiner Worte mit Bedacht wählend: »Auch die werden nicht wieder lebendig und nicht wieder gesund. Es tut mir leid.«
»Und was ist mit denen, die erst noch geboren werden? Wollen Sie ganz in Ruhe in Ihrem Büro sitzen, Verträge ausarbeiten, Firmen beraten, in dem Wissen, dass nur ein paar hundert Kilometer entfernt sich gesunde Embryos in missgebildete verwandeln, nur weil Sie nichts tun? Könnten Sie das?«
Paul glaubte, nicht richtig zu hören. War das Yin-Yins Ernst, oder wollte sie Chen provozieren? Was hatte sie dazu gebracht, ihre Meinung ins Gegenteil zu verkehren?
»Junge Frau«, erwiderte der Anwalt, »Ihr Idealismus überrascht mich, und meine Antwort wird Ihnen gar nicht gefallen: Ja, das könnte ich. Wenn ich Ihnen, unter bestimmten Umständen, trotzdem meine Hilfe gewähre, dann nicht, weil ich ein schlechtes Gewissen hätte oder aus moralischen Motiven; es hat andere Gründe, die ich Ihnen nicht erklären werde.«
Zwei Männer zwängten sich zu ihnen auf die Bank, Chen stand auf. »Lassen Sie uns noch ein bisschen weitergehen.«
Sie schlenderten zur Spitze der Promenade. »Ich biete Ihnen Folgendes an: Ihr Vater kann sich vor Gericht selbst vertreten oder eine Petition einreichen. Dazu hat jeder Chinese das Recht. Ich wäre bereit, eine Klageschrift oder eine Petition zu verfassen und ihn im Laufe des Verfahrens zu beraten, ehrenhalber und natürlich anonym. Vielleicht hat er Glück, und Sanlitun lässt sich, um Öffentlichkeit zu vermeiden, zu Beginn des Prozesses auf eine Entschädigung ein. Oder …« Chen machte eine lange Pause, als wolle er sichergehen, dass sie bei jedem Wort genau hinhörten. »Oder Sie versuchen es über die Medien, auch da könnte ich Sie beraten.«
»Keine Chance.« Yin-Yin schüttelte enttäuscht den Kopf. »Herr Leibovitz hat Ihnen doch von meinem Freund bei People’s Daily erzählt. Er darf nicht einmal recherchieren.«
»Ich meine auch nicht die staatlichen Zeitungen oder das Fernsehen. Ich spreche vom Internet. Schreiben Sie alles auf. Fotografieren Sie Ihre Mutter, ohne dass man sie identifizieren kann. Gehen Sie in ein Internet-Café und stellen Sie die Geschichte und die Fotos anonym ins Netz. Dort warten 350 Millionen potenzielle Leser auf Sie. Empörte Leser, die in dem einen oder anderen Fall ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Wütende Leser, aus denen Verbündete werden könnten.«
Paul sah, wie Yin-Yin zusammenzuckte und den Anwalt mit großen Augen anstarrte.
»Ein befreundeter Kollege aus der Provinz Heilongjiang hat mir kürzlich von einem interessanten Fall berichtet. In einer Kleinstadt hatte sich eine Fabrik geweigert, geleistete Überstunden zu bezahlen. Mehrere Dutzend Arbeiter protestierten dagegen, unter ihnen zwei junge Männer, die Brüder Hu. Der Werkschutz kam und fing an, ohne Warnung auf sie einzuprügeln, den jüngeren Bruder misshandelten sie auf offener Straße so schlimm, dass er noch in der Nacht starb. Obwohl es Dutzende von Augenzeugen gab, weigerten sich Polizei und Behörden zu ermitteln und behaupteten, es sei ein Unfall gewesen. Der Fabrikbesitzer ist ein einflussreicher Mann in dem Ort. Normalerweise wäre die Geschichte damit zu Ende. In diesem Fall hatte ein Passant die Szene mit seinem Mobiltelefon als Video aufgenommen. Der Film tauchte zwei Wochen später im Internet auf.«
Chen hielt kurz die Luft an, bevor er weitersprach. Paul beobachtete, wie Yin-Yin den Worten des Anwalts mit größter Konzentration folgte.
»Ich kann nicht sagen«, fuhr er fort, »ob die Zensoren ihn übersehen hatten, ob er sich zu schnell verbreitete, oder ob ein politisches Kalkül dahintersteckte. Jedenfalls wurden die Stadt und das Unternehmen mit wütenden E-Mails aus dem ganzen Land überhäuft. In Blogs und Chat Rooms wuchs die Empörung mit jedem Tag. Nach einer Woche hatte sie solche Ausmaße erreicht, dass die Behörden reagieren mussten. Der Leiter des Werkschutzes und einige seiner Männer wurden festgenommen, ebenso mehrere Beamte in der Stadtverwaltung, die ihn gedeckt hatten. Die Schläger konnten identifiziert werden und wurden wegen Totschlags zu hohen Haftstrafen verurteilt. Die Firma zahlte der Familie Hu eine Entschädigung von, ich glaube, hunderttausend Renminbi. Das ist die Macht des Internets. Wir haben keine Vorstellung davon, wie es unser Land verändern wird.«
Paul und Yin-Yin schwiegen nachdenklich.
»Dort sehe ich, um ehrlich zu sein, Ihre beste Chance.« Chen schaute auf die Uhr. »Ich muss dringend zurück ins Büro. Denken Sie über meine Vorschläge nach, und geben Sie mir Bescheid.«
Sie holten ihre Sachen aus der Kanzlei, Yin-Yin musste zu einer Probe, und sie verabredeten sich für den Abend in einer Bar in der Nähe des Konservatoriums.
Paul schlenderte am Huangpu entlang Richtung Hotel. Dabei betrachtete er in Ruhe die berühmten Fassaden des Bunds, eine obskure und gleichwohl beeindruckende Mischung aus europäischen Baustilen, Neobarock, Neogotik, Neoklassik, Neorenaissance, ergänzt durch Beaux-Arts und Art déco; damit hatte der Westen damals seine Macht demonstriert und sich ein Denkmal gesetzt. Früher war die über einen Kilometer lange Häuserzeile die bekannteste Sehenswürdigkeit der Stadt gewesen. Ihm fiel auf, dass die heutigen Touristen dem Bund den Rücken zukehrten. Sie standen auf der Promenade und blickten fast ausnahmslos auf das andere Flussufer, auf Shanghais Wahrzeichen des 21. Jahrhunderts: die in den Himmel wachsenden Hochhäuser Pudongs. Die wenigen Besucher, die den Bund bestaunten, waren Ausländer.
Sie trafen sich in der Face Bar im Garten des Ruijin Hotels, einem parkähnlichen Grundstück mit diversen Villen, das ein britischer Zeitungsbaron in den zwanziger Jahren für sich und seine Familie angelegt hatte.
Yin-Yin saß bereits auf der Terrasse unter einem Baum, dessen mächtige, mit leuchtenden Lampions behängte Äste sich wie ein Schirm über sie spannten. Sie bestellten zwei Gläser Weißwein.
»Mein Bruder kommt später dazu, ist das in Ordnung?«
Paul nickte: »Hast du ihm schon etwas erzählt?«
Sie deutete ein Kopfschütteln an.
»Wolltest du Chen eigentlich provozieren heute Morgen?«
Sie sah ihn verwundert an: »Womit?«
»Dass er verantwortlich sein könnte für den Tod von Kindern, wenn er nichts tut. So ähnlich habe ich argumentiert, und ihr habt mir …«
»Das ist lange her«, unterbrach sie ihn.
»Drei Tage«, widersprach er.
»Sag ich doch«, erwiderte sie mit einem Lächeln. »In Shanghai ist das lang.«
»Was hat sich in dieser Zeit verändert?«
»Viel«, antwortete Yin-Yin, und aus ihrem Gesicht war jedes Lachen verschwunden. »Etwas in mir. Ich habe darüber heute Nachmittag lange nachgedacht. Es ist ein Gefühl, das ich nicht in Worte fassen kann.«
»Trauer?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Wut?«
»Auch.«
»Verpflichtung?«
»Nein, so würde ich es nicht nennen.«
»Wie denn?«
»Keine Ahnung, ich habe nur Bilder vor Augen: Meine Mama in ihrem Bett. Meine Freundin Feng. Ihr wunderbares Kichern, wenn wir uns vor meinem Bruder im Schuppen versteckten und er uns nicht fand. Die Tränen, die ihr dabei über die roten Wangen liefen. Wie sie meine vom Regen vollgesogene Schultasche trug, weil meine Arme und Schultern vom Violineüben so müde waren und wehtaten. Die kleine grüne Katze aus Jade, die sie mir als Talisman schenkte, als ich zum Studium nach Shanghai zog und die ich schon kurz darauf verlor. Ich sehe sie im Krankenhaus mit ihrem toten Kind im Arm. Ich glaube, manchmal sind es die kleinen Gefühle, die uns helfen, die großen zu verstehen. Weißt du, was ich meine?«
»Ich glaube, ja.«
»Wie würdest du es nennen?«
»Liebe«, antwortete er, ohne lange darüber nachgedacht zu haben.
»Wie kommst du denn darauf?«
»Ein besseres Wort fällt mir nicht ein.«
Yin-Yin schaute ihn verständnislos an. Sie wollte widersprechen, er sah es an ihrer Mimik, daran, wie sich ihr Oberkörper aufbäumte, im letzten Moment hielt sie jedoch inne und lehnte sich nachdenklich in ihrem Stuhl zurück.
Der Kellner brachte den Wein, Erdnüsse und ein Schälchen Oliven; sie stießen an, ohne etwas zu sagen.
»Kommt dein Freund auch, wie hieß er noch?«, fragte Paul nach dem zweiten Schluck.
»Weidenfeller. Johann Sebastian. Nein, er kann nicht.«
»Hast du mit ihm schon gesprochen?«
»Nur kurz. Er hat überhaupt nicht verstanden, dass wir uns mit Wang und Gao in Yiwu getroffen haben. Als ich ihm sagte, dass wir heute Abend essen gehen, wurde er richtig sauer.«
»Warum?«
Yin-Yin zuckte mit den Schultern. »Manchmal frage ich mich wirklich, ob ich mich nur wegen seines Vornamens in ihn verliebt habe.«
»Johann Sebastian? Findest du den so außergewöhnlich schön?«, wunderte sich Paul.
»Nein. Aber ich liebe Bach.«
Paul lächelte.
»Ich weiß nicht einmal, welches Verhältnis er zu seinen Eltern hat.«
»Warum interessiert dich das?«
»Das ist doch das Wichtigste«, erwiderte sie erstaunt. »Wenn ich weiß, wie er seine Eltern behandelt, weiß ich auch, wie er mich eines Tages behandeln wird.«
»Unter dem Gesichtspunkt würdest du mich nie heiraten«, entgegnete Paul amüsiert.
»Steht das zur Debatte?«, fragte sie ernst.
Wie oft hatte er das erlebt? Chinesen verstanden seinen Humor nicht, sie wussten nie genau, wann er einen Witz machte und wann nicht. »Nein«, antwortete er mit einem Räuspern. »Das war ein Scherz.«
Paul nahm sein Glas und stieß noch einmal mit ihr an. Sie nippte nur.
»Was hältst du von Chens Idee mit dem Internet?«, fragte sie fast flüsternd, obgleich niemand in Hörweite saß.
«Viel. Ich glaube, nach allem, was wir erfahren haben, ist es die beste Chance, etwas zu erreichen, ohne ein großes Risiko einzugehen. Ich bin mir nicht sicher, ob dein Vater in der Lage ist, sich selbst vor Gericht zu vertreten.«
Yin-Yin kaute nachdenklich auf einer Olive. Ihr Handy klingelte, als sie abnahm, meldete sich niemand. »Ich habe schon wieder vergessen, den Akku herauszunehmen«, sagte sie erschrocken. »Ich glaube, ich fange allmählich an, unter Verfolgungswahn zu leiden.«
»Ach was, auch Paranoiker haben Feinde«, erwiderte Paul mit einem Schmunzeln.
»Sollte mich das jetzt beruhigen?«
»Nein, gleich noch ein zweiter schlechter Scherz, entschuldige.«
Sie sahen Xiao Hu durch den Garten auf sie zukommen. Er war am Telefon, begrüßte sie mit einem Nicken, entfernte sich wieder.
»Seit er die Rechtsabteilung leitet, hat er wahnsinnig viel zu tun«, sagte Yin-Yin, als müsse sie sich für ihren Bruder entschuldigen. »Er macht sich Hoffnung auf eine Beförderung in die Zentrale nach Beijing.«
Kurz darauf stand er mit einem Lächeln an ihrem Tisch. Er trug einen grauen Anzug und ein weißes Hemd und sah aus, als komme er direkt aus dem Büro. Aber er wirkte freundlicher und entspannter als bei ihrem letzten Treffen.
Yin-Yin fasste zusammen, was sie in den vergangenen Tagen erlebt und gehört hatten, und veränderte dabei mehrfach geschickt den Ton ihrer Erzählung. Mal klang sie empört und wütend, dann warb sie mit sanfter Stimme um Verständnis, bat um seine Hilfe.
Paul hatte in den vergangenen dreißig Jahren gelernt, das Mienenspiel von Chinesen zu lesen; er verstand nicht, warum gelegentliche Besucher behaupteten, darin könnte man keine Regungen erkennen. Traurige Menschen sahen traurig aus. Fröhliche fröhlich, Einsame einsam. Der Ausdruck der Gefühle in ihrer Mimik war nur etwas zurückhaltender, dezenter, subtiler. Wie so vieles in diesem Land. Über Xiao Hus Gesicht flogen immer wieder Schatten, er blinzelte nervös, seine Lippen verengten sich zu zwei Strichen, er rutschte immer tiefer in seinen Stuhl. Yin-Yin bemerkte es in ihrer Aufregung nicht; als sie ihren Bericht beendet hatte, schaute sie ihn erwartungsvoll und nicht ohne Stolz in den Augen an. Der Blick der kleinen Schwester.
»Ihr seid verrückt«, war Xiao Hus erster Kommentar. Paul konnte nicht heraushören, ob es vorwurfsvoll, zweifelnd oder bewundernd gemeint war. Vielleicht von allem etwas.
»Was habt ihr als nächstes vor?«
Paul sah in Yin-Yins Gesicht, dass sie die Frage ihres Bruders als Anerkennung und Ermunterung deutete. »Wir müssen mit Papa reden«, antwortete sie schnell. »Ich glaube, es ist das Beste, wir folgen Chens Rat, und ich schreibe etwas und stelle es ins Internet.«
»Das tust du unter keinen Umständen«, sagte er und richtete sich wieder auf.
Sie zuckte zusammen. Kleine Schwester, großer Bruder.
»Warum nicht?«
»Weil sie dich kriegen.«
»Aber ich wollte … ich meine … ohne Namen … und …«
»Weißt du, wie viele Beamte über das Internet wachen? Zehntausende! Sie sind überall: Auf Webseiten. In Foren. In Blogs. Chat Rooms. E-Mail-Postkästen. Es gibt dort keine Anonymität.«
»Aber Chen hat gesagt …«, Yin-Yin war den Tränen nah.
»Chen hat keine Ahnung. Die Geschichte, die er euch erzählt hat, mag sich so zugetragen haben. Was ist mit den anderen, die nicht gut ausgegangen sind? Wo Blogger ins Arbeitslager, in die Psychiatrie oder in den Knast gekommen sind? Sie kriegen jeden.«
»Wer ist ›sie‹?«
»Die Partei.« Er beugte sich über den Tisch und wiederholte flüsternd: »Die Partei, deren Mitglied ich bin.«
Seine Schwester sank in sich zusammen und verstummte.
Ein leichter Wind war aufgekommen, der die Lampions über ihnen sanft hin und her wiegte. Ein Blatt segelte herab und landete auf den Oliven. Paul erkannte, dass Yin-Yin nicht mehr die Kraft besaß, mit ihrem Bruder zu streiten. Was mochte in Xiao Hu vorgehen? Er hatte die kühle Distanz, mit der er vor ein paar Tagen beim Thailänder reagiert hatte, abgelegt, die Geschichte war auch zu seiner geworden, im flackernden Schein der Laternen sah Paul, dass sich auf seinem Hals rote Flecken gebildet hatten.
»Was schlagen Sie stattdessen vor?«, fragte Paul vorsichtig. Er wollte Xiao Hu jetzt nicht provozieren.
»Dass ich mich darum kümmere.«
»Sie?«
»Ja.«
»Wie?«
»Ich habe gute Kontakte zu einigen Parteikollegen in Hangzhou. Dort bin ich in der kommenden Woche zu einer internen Schulung und werde mich umhören. Nach allem, was ihr erzählt, vermute ich, dass die Behörden längst Bescheid wissen und etwas unternommen haben. Das posaunen sie bei uns ja nicht gleich durch die Medien. Nach allem, was ich nun weiß, möchte ich nicht mehr ausschließen, dass Sanlitun über eine kleine Entschädigung mit sich reden lässt.«
Paul bemerkte den Zweifel in Yin-Yins Augen.
»Versprich mir, dass du nichts unternimmst«, forderte Xiao Hu seine Schwester streng auf. »Du würdest nichts erreichen und alle in Gefahr bringen: dich, Papa, Mama. Wenn ich aus Huangzhou zurück bin, sehen wir weiter. Und kein Wort darüber zu Papa, verstanden?«
Yin-Yin nickte. Sie sagte, dass die Tage sie sehr angestrengt hätten, dass sie müde sei und gern nach Hause und ins Bett gehen würde. Xiao Hu schien das sehr gelegen, er zahlte, und sie gingen gemeinsam zur Ruijin Lu, um Taxis zu suchen. Ihr Bruder nahm auf ihr Drängen den ersten Wagen.
»Ich geh zu Fuß«, sagte Yin-Yin, als er fort war.
»Soll ich dich nach Hause bringen?«, bot Paul an.
»Nein, es ist nicht weit.«
»Was wirst du machen?«
»Erst mal ausschlafen.«
»Und dann?«
Yin-Yin zuckte kurz mit den Schultern.
Paul holte Bleistift und Papier aus seinem Rucksack und schrieb ihr seine E-Mail-Adresse und die Hongkonger Telefonnummer auf. »Schreib mir oder ruf an, wenn du Hilfe brauchst. Oder jemanden zum Reden. Notfalls komme ich noch einmal für ein paar Tage.«
»Danke.« Sie zog ihn zu sich heran und umarmte ihn.
Er spürte ihren Körper in seinen Armen und erschrak, wie dünn und zerbrechlich er sich anfühlte.
»Danke«, wiederholte sie.
Bevor Paul »wofür« fragen konnte, ließ sie ihn los, verabschiedete sich mit einem Lächeln, drehte sich um und ging die Straße hinunter, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Im Hotel fiel Paul todmüde aufs Bett; schon im Taxi hatte er gemerkt, dass der letzte Rest Energie aus seinem Körper wich wie Wasser aus einer Wanne, aus der jemand den Stöpsel gezogen hatte. Er fühlte nichts als Erschöpfung und ein tiefes Glück darüber, dass er morgen zurück nach Hongkong fliegen würde. Die Sehnsucht nach Christine, sie wuchs mit jedem Atemzug. Als hätte er dieses Gefühl in den vergangenen Tagen unterdrückt, nahm es nun mit umso größerer Macht von ihm Besitz.
Paul robbte über die breite Matratze zum Telefon, er konnte es kaum erwarten, ihre Stimme zu hören.
Sie klang schläfrig, aber wieder etwas besser bei Kräften. »Beeil dich«, flüsterte sie. »Sag dem Piloten Bescheid. Er soll so schnell fliegen, wie er nur kann. Ich muss dir was erzählen.«
»Dann sag es doch. Ich höre.«
»Nicht am Telefon.«
»Was ist es?«, fragte er neugierig. »Nun komm schon.«
»Eine Überraschung.«
»Was für eine?«
»Eine große.«
»Wie groß?«
»Groß. Riesengroß. Größer als du und ich zusammen. Größer geht nicht.«