»Es ging alles so wahnsinnig schnell – wie im Film. Mir schoss durch den Kopf, dass ich eigentlich schon immer Schriftstellerin werden wollte. Also fing ich noch am selben Abend an zu schreiben.«
SUSAN CAIN
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SUSAN CAIN ist Mitgründerin von Quiet Revolution und Autorin der Bestseller Quiet Power: The Secret Strengths of Introverted Kids und Quiet: The Power of Introverts in a World That Can’t Stop Talking , die in 40 Sprachen übersetzt wurden und über vier Jahre lang auf der Bestsellerliste der New York Times zu finden waren. Quiet wurde von der Zeitschrift Fast Company zum besten Buch des Jahres gekürt, und Susan unter die »Most Creative People in Business« gewählt. Susan ist Mitgründerin des Quiet Schools Network und des Quiet Leadership Institute. Sie schreibt für The New York Times, The Atlantic, The Wall Street Journal und andere Publikationen. Ihr TED Talk wurde über 17 Millionen Mal aufgerufen. Bill Gates bezeichnet ihn als einen seiner absoluten Favoriten.
Welcher (vermeintliche?) Misserfolg war die Voraussetzung für deinen späteren Erfolg? Hast du einen »Lieblingsmisserfolg«?
Vor langer Zeit war ich Wirtschaftsanwältin. Zu diesem Beruf hatte ich bestenfalls eine zwiespältige Einstellung, und jeder hätte dir sagen können, dass es für mich der falsche war. Dennoch: Ich wandte dafür eine Menge Zeit auf (genauer gesagt drei Jahre Jurastudium, ein Jahr Referendariat bei einem Bundesrichter und sechseinhalb Jahre bei einem Wall-Street-Unternehmen) und hatte viele enge Beziehungen zu Anwaltskollegen, die mir sehr wichtig waren. Ich sollte in Kürze in meiner Kanzlei Partnerin werden, als der Senior Partner in mein Büro kam und mir eröffnete, dass ich nicht wie geplant aufrücken würde. Bis heute weiß ich nicht, ob er mir sagen wollte, dass ich überhaupt keine Aussicht auf eine Partnerschaft mehr hatte oder dass ich später noch zum Zug kommen könnte. Ich weiß nur noch, dass ich peinlicherweise vor seinen Augen in Tränen ausbrach – und dann um Urlaub bat. Den trat ich noch am gleichen Nachmittag an, setzte mich auf mein Rad und drehte Runden im New Yorker Central Park. Ich hatte keine Ahnung, was ich nun anfangen sollte. Vielleicht würde ich wegfahren. Vielleicht auch nur eine Zeitlang die Wand anstarren.
Stattdessen – und das ging alles so wahnsinnig schnell, wie im Film – schoss mir durch den Kopf, dass ich eigentlich schon immer Schriftstellerin werden wollte. Also fing ich noch am selben Abend an zu schreiben. Am nächsten Tag meldete ich mich an der NYU zu einem Kurs in kreativem Schreiben für Sachbücher an. In der Woche darauf saß ich in der ersten Unterrichtsstunde und merkte sofort, dass ich endlich das Richtige für mich gefunden hatte. Damals rechnete ich nicht damit, je vom Schreiben leben zu können, doch mir war klar, dass sich für mich von nun an alles ums Schreiben drehen würde und dass ich künftig freiberuflich arbeiten wollte, um viel Zeit dafür zu haben.
Hätte ich »Erfolg« gehabt und wäre planmäßig Partnerin geworden, würde ich vielleicht immer noch unglücklich 16 Stunden am Tag Unternehmenstransaktionen aushandeln. Nicht dass ich vorher nie darüber nachgedacht hätte, was ich außer Jura sonst noch beruflich machen könnte, doch erst als ich die Zeit und die Gelegenheit hatte, über ein Leben außerhalb der hermetischen Kanzleikultur nachzudenken, konnte ich herausfinden, was ich wirklich machen wollte.
Was ist das beste oder lohnendste Investment, das du je getätigt hast (in Form von Geld, Zeit, Energie etc.)?
Die sieben Jahre, die ich in Quiet gesteckt habe. Es war mir egal, wie lange es dauerte, und obwohl ich mir natürlich wünschte, dass das Buch gut ankommen würde, war es für mich so oder so gut investierte Zeit – weil ich mir absolut sicher war, dass Schreiben ganz allgemein und dieses Buch im Besonderen für mich genau das Richtige waren.
Nach zwei Jahren legte ich eine erste Fassung vor, die meine Redakteurin (zu Recht) als Schrott bezeichnete. Sie formulierte es natürlich etwas freundlicher: »Nehmen Sie sich so viel Zeit wie nötig, fangen Sie noch einmal von vorne an und machen Sie es richtig.« Ich verließ ihr Büro mit einem Hochgefühl – weil ich ganz ihrer Meinung war. Ich wusste, dass ich noch Jahre brauchen würde, es richtig hinzukriegen (immerhin hatte ich vor Quiet ja noch nie etwas veröffentlicht – ich lernte quasi von der Pieke auf, wie man ein Buch schrieb), und ich freute mich, dass sie mir die Zeit ließ. Die meisten Verlage drängen mit halbgaren Büchern auf den Markt. Hätte sie das getan, gäbe es Quiet Revolution nicht.
Was ist eine deiner – gern auch absurden – Eigenheiten, auf die du nicht verzichten möchtest?
Ich mag gern traurige Musik in Moll. Ich finde sie erhebend, transzendent und gar nicht deprimierend. Das kommt vermutlich daher, dass solche Musik eigentlich von der Zerbrechlichkeit und damit der Kostbarkeit des Lebens und der Liebe handelt.
Mein Schutzpatron ist Leonard Cohen. Hör dir doch mal »Dance Me to the End of Love« oder »Famous Blue Raincoat« oder etwas anderes an, was er geschrieben hat – oder natürlich »Hallelujah«, seinen bekanntesten Song. Der ist aber wirklich nur die Spitze des Leonard-Eisbergs! Sehr schön ist auch »Hinach Yafah (You Are Beautiful)« von Idan Raichel – ein toller Song über die Sehnsucht nach dem geliebten Menschen – oder auch über die Sehnsucht ganz allgemein.
Mein Lieblingswort ist saudade , ein portugiesischer Begriff, der den Kern der brasilianischen und portugiesischen Kultur und Musik umschreibt. Saudade bedeutet so viel wie süßes Sehnen nach etwas oder jemandem, das oder den man liebt, aber wohl für immer verloren hat. Oder probier es mal mit der Musik von Madredeus oder Cesária Évora. Das ist (irgendwie) auch das Thema meines nächsten Buches!
Welchen Rat würdest du einem intelligenten, motivierten Studenten für den Einstieg in die »echte Welt« geben? Welchen Rat sollte er ignorieren?
Du wirst so viele Geschichten von Menschen hören, die alles aufs Spiel setzten, um ein bestimmtes – meist kreatives – Ziel zu erreichen. Ich glaube nicht, dass man kreative Bestleistungen erbringen kann, wenn man total gestresst ist, weil man vor dem Konkurs steht oder vor anderen persönlichen Katastrophen. Ganz im Gegenteil: Man sollte sich sein Leben so angenehm und schön wie möglich gestalten – und so, dass trotzdem Raum bleibt für kreative Tätigkeiten.
Ich habe mich oft gefragt, ob all die Jahre an der Wall Street verschwendete Zeit waren, wenn ich doch von Anfang an eigentlich dafür geschaffen war, die menschliche Psyche zu ergründen und darüber zu schreiben, wie das Leben wirklich ist. Die Antwort: Nein, es war keine Zeitverschwendung – und zwar aus mehreren Gründen. Erstens lernte ich dadurch viel über das sogenannte »wirkliche Leben«, was mir sonst immer verschlossen geblieben wäre. Zweitens ist ein Platz in der ersten Reihe bei einer Verhandlung an der Wall Street ein sehr guter Ausgangspunkt, um die gelegentliche Lächerlichkeit von Menschen zu studieren. Vor allem aber verdankte ich dieser Zeit ein Finanzpolster, das ich brauchte, als ich schließlich bereit war, kreativ tätig zu werden. Das Polster war nicht sehr dick, denn ich hatte nie viel gespart, aber es machte einen gewaltigen Unterschied. Auch als ich begonnen hatte zu schreiben, verbrachte ich noch viel Zeit damit, mir eine bescheidene freiberufliche Existenz aufzubauen (indem ich anderen Verhandlungskompetenz vermittelte). Damit wollte ich so lange wie nötig meinen Lebensunterhalt absichern. Als Schriftstellerin setzte ich mir zum Ziel, noch vor meinem 75. Lebensjahr etwas zu veröffentlichen. Schreiben sollte mir ein ständiger Quell der Freude sein, ohne jeden finanziellen Druck oder Leistungsdruck ganz allgemein.
Damit meine ich natürlich nicht, dass der clevere, engagierte Student erst zehn Jahre in der Finanzbranche arbeiten soll, bevor er sich kreativ betätigt! Aber er sollte sich genau überlegen, wie er zurechtkommt. Dann kann er sich in der Zeit, die er seinen kreativen Projekten widmet – ob 30 Minuten oder 10 Stunden am Tag –, ganz auf Fokus, Flow und die sporadischen Glücksmomente konzentrieren.
Was tust du, wenn dir alles zu viel wird, du nicht mehr fokussiert bist oder deine Konzentration nachlässt? Welche Fragen stellst du dir?
Ich liebe Espresso. Ich könnte den ganzen Tag Espresso trinken. Ich gestatte mir aber nur einen Latte am Tag, und den spare ich mir für meine kreative Zeit auf – zum Teil, weil er meinen Kopf wie durch Zauberei auf Hochtouren bringt, aber auch, weil ich mir dadurch – Pawlow lässt grüßen – antrainiert habe, das Schreiben mit Kaffeegenuss zu assoziieren.