»Der Gedanke darüber, was mich glücklich macht, verschafft mir nicht dieselbe Klarheit wie der Gedanke darüber, was mir Freude bereitet.«
KYLE MAYNARD
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KYLE MAYNARD ist Bestsellerautor, Unternehmer und MMA-Kämpfer, der für seine sportlichen Leistungen den ESPY Award erhalten hat. Außerdem gelang es ihm als erstem Menschen ohne Gliedmaßen, ohne Prothesen die Gipfel des Kilimandscharo und des Aconcagua zu besteigen. Oprah bezeichnete Kyle als »einen der inspirierendsten jungen Männer, die Ihnen jemals begegnen werden.« Arnold Schwarzenegger beschrieb ihn als »echte Kämpfernatur« und selbst Wayne Gretzky hat von Kyles »Größe« gesprochen. Kyle kam mit einer seltenen Fehlbildung auf die Welt, die dazu führte, dass seine Arme nur bis zu den Ellbogen reichen und seine Beine bis zu den Knien. Trotz dieser Einschränkung hat Kyle mit Hilfe seiner Familie als Kind gelernt, sein Leben unabhängig und ohne Prothesen zu führen. Kyle ist ein hervorragender Wrestler (der in die National Wrestling Hall of Fame aufgenommen wurde), CrossFit-Trainer, Inhaber des Fitness-Studios »No Excuses«, Rekordhalter im Gewichtheben und versierter Bergsteiger.
Welches Buch (welche Bücher) verschenkst du am liebsten? Warum? Welche ein bis drei Bücher haben dein Leben am stärksten beeinflusst?
Dune von Frank Herbert
The Stranger von Albert Camus
The Hero with a Thousand Faces von Joseph Campbell
Welcher (vermeintliche?) Misserfolg war die Voraussetzung für deinen späteren Erfolg? Hast du einen »Lieblingsmisserfolg«?
Es ist beinahe schwieriger, an eine Zeit zu denken, in der ein vermeintlicher Misserfolg nicht der Ausgangspunkt für einen späteren Erfolg war.
Ein Misserfolg, an den ich mich besonders gerne erinnere, zählt zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen. Meine Großmutter Betty hatte eine dunkelgrüne Zuckerdose, und sie bat mich immer darum, Zucker daraus zu schöpfen. Der Haken an der Sache war, dass ich immer beide Arme benutzen muss, um Dinge zu fassen, ich aber nur mit einem Arm in die Dose kam. Ich saß stundenlang da und versuchte, die Zuckerschaufel auf einem Arm balancierend nach oben zu bugsieren. Ich schaffte es immer nur bis zum Dosenrand. Nach 50 weiteren Versuchen war die Schaufel fast ganz oben, bevor sie wieder herunterfiel. Schließlich gelang es mir aber – zu meinem größten Erstaunen. Diese Erfahrung half mir nicht nur, meine Geschicklichkeit zu verbessern, sondern auch meine Willensstärke. Mein Gefühl lässt sich am besten mit einem finnischen Wort beschreiben: sisu – die mentale Stärke, es immer wieder zu versuchen, auch wenn man das Gefühl hat, die Grenzen seiner Fähigkeiten erreicht zu haben. Ich denke nicht, dass Misserfolge hin und wieder zum Leben gehören – sie gehören immer dazu. Wenn man denkt, dass es nicht mehr weitergeht, muss man wissen, dass der Spaß gerade erst anfängt.
Wenn du an einem beliebigen Ort ein riesiges Plakat mit beliebigem Inhalt aufhängen könntest, was wäre das und warum? Gibt es Zitate, an die du häufig denkst oder nach denen du lebst?
Das Zitat, das ich verwenden würde, stammt von meinem Freund Richard Machowicz, einem ehemaligen Navy SEAL: »Not Dead, Can’t Quit« (sinngemäß: Solange man am Leben ist, kann man nicht aufgeben). Manche Leute sagten, dass es schon beinahe an Kindesmisshandlung grenzte, als meine Eltern mich weiter ringen ließen, nachdem ich meine ersten 35 Kämpfe verloren hatte. Weniger als ein Jahrzehnt später sagten [dieselben Leute], dass ich körperbedingt einen unfairen Vorteil hatte. Meine Schwestern weinten, als sie Kommentare darüber lasen, dass es 20 Sekunden dauern würde, bevor mein Debüt als MMA-Kämpfer der erste live im Sportfernsehen übertragene Tod sein würde. Kleiner Hinweis am Rande – ich lebe noch. Manche Leute sagten, dass ich das Leben meines Teams auf dem Kilimandscharo und dem Aconcagua aufs Spiel setzen würde. Ich würde allerdings kein Geld darauf verwetten, dass die meisten dieser Kritiker so wie meine Freunde und ich diese Gipfel bestiegen haben. Aus diesem Grund liebe ich dieses Zitat. Es ist in den härtesten Momenten mein Mantra, auf das ich mich besinne. Richard verlor dieses Jahr seinen Kampf gegen den Krebs, aber er hat in diesem Leben mehr erlebt als die meisten Menschen in zehn Leben, und er hielt sich bis zu seinem letzten Atemzug an seine Maxime.
Was ist eine deiner – gern auch absurden – Eigenheiten, auf die du nicht verzichten möchtest?
Ich denke, dass mich mit Leid und Leiden eine seltsame Hassliebe verbindet. Leiden ist der größte Lehrmeister, den ich je hatte. Das Gefühl, anders als die anderen Kinder zu sein, weil ich ohne Arme und Beine auf die Welt gekommen bin, von größeren Jungs im Football umgerannt zu werden, mir beim Ringen mehrmals Nasenbrüche zuzuziehen, auf einem Berg vor Kälte zu zittern und körperlich am Ende zu sein, mir Sorgen darüber zu machen, ob mein Fitness-Studio profitabel ist – alle diese Erfahrungen machten nicht unbedingt Spaß, aber sie gehören trotzdem zu meinen schönsten Erinnerungen. Und ich liebe Menschen, die das Leiden so lieben wie ich. Mein bester Freund Jeff Gum musste das BUD/S dreimal wiederholen und überstand die Höllenwoche trotz Magen-Darm-Grippe und Rhabdomyolyse. Bei seinem zehnjährigen Jubiläum als Navy SEAL fragte ich ihn, welches Ereignis ihm am stärksten in Erinnerung geblieben sei. Er sagte, das war, als alles schiefging und er beobachtete, wie die Ausbilder alles in ihrer Macht Stehende taten, um ihn zum Aufgeben zu bewegen.
Welchen Rat würdest du einem intelligenten, motivierten Studenten für den Einstieg in die »echte Welt« geben? Welchen Rat sollte er ignorieren?
Seit ich Joseph Campbells Zitat gelesen habe, dass man »seiner Freude folgen« soll, wurde das mein großes Ziel, an dem ich mich orientiere. Es hilft mir in den Augenblicken, wenn ich stundenlang unter der Dusche stehe und vor mich hinstarre, als wäre ich hypnotisiert. Der Gedanke darüber, was mich glücklich macht, verschafft mir nicht dieselbe Klarheit wie der Gedanke darüber, was mir Freude bereitet. Für mich ist es die Freiheit, die ich spüre, wenn ich auf einem Berggipfel stehe, oder die Brise, die mich umspielt, wenn ich auf dem Ozean auf einem Katamaran liege. Solche Momente sind das Höchste der Gefühle. Wenn Glück nur knapp über dem Status quo liegt, ist Freude das, was einen spüren lässt, dass man am Leben ist. Man muss damit rechnen, dass man Mut braucht, um seiner Freude zu folgen, und man muss damit rechnen, dass der Weg manchmal anstrengend ist. Man muss damit rechnen, Risiken einzugehen. Man muss damit rechnen, dass die eigenen Entscheidungen bei anderen auf Unverständnis stoßen. Und man muss auch damit rechnen, dass das, was einem heute Freude bereitet, morgen vielleicht uninteressant ist. Dann orientiert man sich einfach um und beginnt das Spiel von vorne.
Welche schlechten Ratschläge kursieren in deinem beruflichen Umfeld oder Fachgebiet?
Der schlechteste Rat, den ich jemals bekommen habe, war, kein höheres Honorar für einen Keynote-Vortrag zu verlangen. Mir wurde gesagt, dass ich mich damit ins Abseits stellen würde, in den Medien zu unbekannt sei, um mit anderen Referenten mitzuhalten, bla, bla, bla. Ich forderte trotzdem ein höheres Honorar – zuerst schrittweise, dann verdoppelte ich meine Gage. Jetzt habe ich doppelt so viele Anfragen, und die Leute verhandeln sogar weniger mit mir. Ich hätte das viel früher machen sollen. So bin ich freier. Während ich diesen Beitrag schreibe, verbringe ich eine Woche auf einer Jacht in Kroatien und reise den verbleibenden Sommer quer durch Europa. Zeit ist das Einzige, das wir nicht zurückbekommen. Wenn du das liest, hoffe ich, dass ich mein Honorar noch einmal verdoppelt haben werde.
Wozu kannst du heute leichter Nein sagen als vor fünf Jahren?
Mein größter Wandel vollzog sich, als ich dem Vortrag eines erfolgreichen Geschäftsführers zuhörte, der erklärte, welcher Philosophie er folgt, wenn er Mitarbeiter einstellt. Als seine Firma wuchs und er keine Zeit mehr hatte, sein Personal selbst auszuwählen, ließ er seine Angestellten die Bewerber auf einer Skala von 1 bis 10 bewerten. Die einzige Vorgabe war, dass sie keine 7 wählen durften. Dann dämmerte mir, wie viele Einladungen ich erhielt, die ich als 7 bewerten würde – Vorträge, Hochzeiten, Verabredungen auf eine Tasse Kaffee, selbst Dates. Wenn ich der Meinung war, dass etwas eine 7 war, war die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass ich mich dazu verpflichtet fühlte. Aber wenn ich mich zwischen einer 6 oder einer 8 entscheiden muss, fällt mir eine Zu- oder Absage wesentlich leichter.