»Es kommt vielleicht einmal eine Zeit, in der Zucker für mehr vorzeitige Todesfälle in Amerika verantwortlich sein wird als Zigaretten.«
LEWIS CANTLEY
cantleylab.weill.cornell.edu
LEWIS CANTLEY hat in der Krebsforschung gewaltige Fortschritte erzielt, die auf seine Entdeckung der Signalproteine Phosphoinositid-3-Kinasen (PI3K) zurückzuführen sind. Seine bahnbrechende Arbeit hat revolutionäre Behandlungsmethoden hervorgebracht, die mittlerweile bei Krebs, Diabetes und Autoimmunerkrankungen Anwendung finden. Er hat bislang über 400 wissenschaftliche Publikationen, über 50 Buchkapitel und zahlreiche Rezensionen verfasst. Seine Postdoktorandenforschung führte er in Harvard durch und war dort als Assistenzprofessor für Biochemie und Molekularbiologie tätig. Später erhielt er eine Professur für Physiologie an der Tufts University, kehrte aber als Professor für Zellbiologie an die Harvard Medical School zurück. Dort wurde er 2002 Leiter des neuen Instituts für Signaltransduktion und Gründungsmitglied des Lehrstuhls für Systembiologie.
Welches Buch (welche Bücher) verschenkst du am liebsten? Warum? Welche ein bis drei Bücher haben dein Leben am stärksten beeinflusst?
Ich lese alles Mögliche, aber ich lese selbst und schenke Freunden und Familienangehörigen besonders gerne die Bücher dreier zeitgenössischer Autoren: Richard Rhodes, Neal Stephenson und Philip Kerr.
The Making of the Atomic Bomb von Richard Rhodes ist ein Meisterwerk, das die Entwicklung der Atombombe chronologisch nachzeichnet und in einen historischen Kontext setzt. Während meines Studiums in Cornell befasste ich mich unter anderem mit theoretischer Physik und belegte Kurse bei Hans Bethe und anderen bekannten Forschern, deshalb hatte ich einige der Physiker, die in diesem Buch erwähnt werden, bereits persönlich kennengelernt. Und trotzdem lernte ich aus dem Buch mehr über Physik als in meinen Seminaren.
Neal Stephenson (Seite 493 ) ist ein unglaublicher Autor, dem es gelingt, fiktive Figuren zu erschaffen, die mit ihren Schrullen und Marotten ein Abbild echter Forscher und Mathematiker sind. Würde ich einen Kurs über Wissenschaftsgeschichte unterrichten, wäre der The Baroque Cycle Pflichtlektüre. Diese Romanserie schildert meisterhaft den Charakter Newtons und seiner Zeitgenossen. Die Wissenschaft wird manchmal (absichtlich) als Magie dargestellt, gelegentlich mit einer Prise Sex und Gewalt garniert, und deshalb ist das Buch viel zu spannend, um es wegzulegen.
Schließlich habe ich alles gelesen, was Philip Kerr über den fiktiven Berliner Polizisten Bernhard Gunther geschrieben hat, der sich durchs Leben schlägt, als die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht ergreifen. Diese Bücher sind eine zeitgenössische Warnung an unsere eigene Zukunft in Amerika.
Welcher (vermeintliche?) Misserfolg war die Voraussetzung für deinen späteren Erfolg? Hast du einen »Lieblingsmisserfolg«?
Ein wichtiger Misserfolg war, als ich 1985 keine Festanstellung in Harvard erhielt. Als Assistent und außerordentlicher Professor am Institut für Biochemie und Molekularbiologie forschte ich zu den Proteinen und Lipiden, die die Trennschicht zwischen dem Inneren und Äußeren der Zellen bilden, und ging der Frage nach, wie sie an der Zellregulierung beteiligt sind. Diese Themen waren damals nicht sehr modern, jeder stürzte sich auf die Genforschung und Molekularbiologie. Mein Wechsel an die Tufts Medical School und später an die Harvard Medical School ermöglichte mir die Zusammenarbeit mit den an diesen Einrichtungen tätigen Wissenschaftlern, darunter Tom Roberts und Brian Schaffhausen, die die Bedeutung der biochemischen Pfade erkannten, die an der Entstehung von Krebs beteiligt sind. Es war letztendlich die Arbeit in jenen Einrichtungen, die zur Entdeckung der PI3-Kinasen führte, eine Enzymfamilie, die eine wesentliche Rolle für das Zellwachstum spielen und sowohl an der Entstehung von Diabetes und Krebs mitwirken.
Was ist das beste oder lohnendste Investment, das du je getätigt hast (in Form von Geld, Zeit, Energie etc.)?
Meine beste Investition waren die acht Jahre Studium der Chemie und Biochemie. Während ich aktuell nach einer Heilung für Krebs forsche, stammt mein Wissen über die Entwicklung der verschiedenen Krebsformen und ihre Bekämpfung durch Medikamente von meinem Verständnis der Regeln, wie sie durch die Chemie und Biochemie vorgegeben werden. Diese Einsicht hat nicht nur zu bahnbrechenden Entdeckungen in meinem eigenen Labor geführt, sondern mir auch erlaubt, Firmen wie Agios und Petra zu gründen, die Medikamente für neuartige Krebstherapien entwickeln.
Was ist eine deiner – gern auch absurden – Eigenheiten, auf die du nicht verzichten möchtest?
Ich entspanne mich, indem ich auf meinem iPad Solitaire spiele. Ich versuche, Strategien zu finden, um den Regeln der Wahrscheinlichkeit ein Schnippchen zu schlagen, und das hilft mir, mich zu konzentrieren und an nichts anderes zu denken.
Noch verschrobener ist vielleicht meine [berufliche] Marotte, die Funktion von Proteinen aus ihrer linearen Aminosäurensequenz lesen zu wollen. Ein Protein ist ein Strang aus Aminosäuren mit ungefähr derselben Menge an Informationen, wie sie in etwa 500 Buchstaben enthalten ist, die üblicherweise einen Absatz in einem Buch ausmachen. Es gibt keinen Grund dafür, warum wir nicht in der Lage sein sollten, uns selbst beizubringen, diese Informationen in einem Protein zu »lesen« – so wie wir Absätze auf Englisch, Französisch oder Chinesisch lesen. Das Problem ist, die Regeln festzulegen. Mein Labor konzentriert sich darauf, das Protein in kurze Stränge von fünf oder zehn Aminosäuren aufzuteilen, die als »Motive« bezeichnet werden, die durch die Evolution konserviert worden und oft in multiplen Proteinen enthalten sind. Oft sind diese Motive ein Weg, den Proteine nutzen, um mit anderen Proteinen zu kommunizieren. Sobald wir die Funktion des Motivs kennen, können wir prognostizieren, wie das Protein mit anderen Proteinen in unserem Körper kommuniziert. Wenn mir jemand etwas über das Protein erzählt, das er/sie in Bezug auf eine Krankheit spannend findet, werfe ich sofort einen Blick auf die Sequenz und suche nach Motiven, die vielleicht eine Erklärung dafür liefern, wie das Protein mit der Krankheit in Zusammenhang steht. Dieser Ansatz ist für viele Entdeckungen verantwortlich, die in meinem Labor gemacht wurden.
Welche Überzeugungen, Verhaltensweisen oder Gewohnheiten, die du dir in den letzten fünf Jahren angeeignet hast, haben dein Leben am meisten verbessert?
Dadurch, dass ich von Cambridge nach New York City gezogen bin, brauche ich kein Auto mehr. Ich gehe zehn Minuten zu Fuß zur Arbeit, ungeachtet der Wetter- oder Verkehrslage. Ich muss keinen Schnee schaufeln, Eis von der Frontscheibe kratzen oder nach einem Parkplatz suchen. Das ist sagenhaft. So spare ich mindestens eine Stunde am Tag, und Gehen ist bekanntlich gesund.
Welchen Rat würdest du einem intelligenten, motivierten Studenten für den Einstieg in die »echte Welt« geben? Welchen Rat sollte er ignorieren?
Mein Rat ist, einen Beruf zu wählen, der dir leicht von der Hand geht und der es dir erlaubt, deiner Kreativität freien Lauf zu lassen. Wenn dir eine Tätigkeit leichtfällt, anderen aber nicht, musst du nicht zu hart arbeiten, um erfolgreich zu sein, und du wirst immer noch genügend Freizeit haben, um dein Leben zu genießen. Du wirst auch in der Lage sein, hin und wieder ein paar Überstunden zu machen, um die Konkurrenz hinter dir zu lassen, falls das nötig sein sollte. Wenn du allerdings die ganze Zeit Überstunden machen musst, nur um wettbewerbsfähig zu bleiben, wirst du ausbrennen und dein Leben nicht genießen können.
Du solltest keinen Beruf ergreifen, nur weil er während deiner Studienzeit beliebt oder lukrativ ist. Technologien und Infrastrukturen ändern sich in rasender Geschwindigkeit. Niemand kann vorhersagen, welcher Job in vier Jahren der beste sein wird. Wenn du dir nicht sicher bist, welche Talente du hast, dann solltest du dir ein breites Allgemeinwissen zulegen, mit dem du dir deine Optionen offenhältst. Die beste Fähigkeit ist, sich sowohl schriftlich als auch mündlich gut artikulieren zu können. Die beiden Collegekurse, die für meine Laufbahn vielleicht am wichtigsten waren, waren Seminare über Literaturtheorie und Logik (ein fortgeschrittener Kurs in Mathematik). Ich lernte in diesen Kursen, aus einem Bündel von Fakten die korrekte Schlussfolgerung zu ziehen und diese Schlussfolgerung einem breiten Publikum zu vermitteln.
Wenn du an einem beliebigen Ort ein riesiges Plakat mit beliebigem Inhalt aufhängen könntest, was wäre das und warum?
Meine Botschaft wäre: »Zucker ist giftig.« Zucker und andere natürliche oder künstliche Süßstoffe gehören zu den stärksten Suchtmitteln in unserer Umgebung. Wenn sie in einer Menge konsumiert werden, die den Stoffwechselumsatz im Muskel oder Gehirn überschreitet, wandelt sich Zucker in Fett, und das führt wiederum zu Insulinresistenz, Fettleibigkeit und einem höheren Risiko für viele andere Erkrankungen, darunter Krebs. Der Konsum von Fett und Protein kann ein Gefühl der Sättigung hervorrufen, aber der Konsum von Zucker löst binnen einer Stunde einen größeren Appetit auf mehr Zucker aus. Wir haben diese Sucht entwickelt, weil in der nicht allzu fernen Vergangenheit am Ende des Sommers, als die Früchte reif waren, die Aneignung von Winterspeck entscheidend war, um bis zur nächsten Ernte zu überleben. Aber heute ist Zucker ständig verfügbar und eines der billigsten Nahrungsmittel, die es gibt. Deshalb werden wir immer dicker. Es kommt vielleicht einmal eine Zeit, in der Zucker für mehr vorzeitige Tode in Amerika verantwortlich sein wird als Zigaretten. Ich habe in den letzten zehn Jahren ausführlich über dieses Thema geschrieben und Vorträge gehalten, weil sich in dieser kurzen Zeit unser Verständnis für die biochemisch bedingte Giftigkeit von Zucker, vor allem in Bezug auf Krebs, deutlich verbessert hat.
Welche schlechten Ratschläge kursieren in deinem beruflichen Umfeld oder Fachgebiet?
Die schlechteste Empfehlung ist, die eigenen Ideen und Daten für sich zu behalten, bis man in einer Fachzeitschrift einen Artikel veröffentlicht hat, in dem man diese Ergebnisse beschreibt. Immer wenn ich eine verrückte Idee habe oder auf ein unerwartetes Ergebnis stoße, rede ich mit meinen Kollegen darüber, um zu sehen, ob sie ähnliche Erfahrungen haben oder denken, dass meine Ideen verrückt sind. Das ist das, was an der Wissenschaft so Spaß macht. Mehrere Wissenschaftler mit unterschiedlichen Erfahrungen und Fachwissen können gemeinsam viel schneller auf die richtige Antwort kommen als ein einzelner Wissenschaftler für sich.
Was tust du, wenn dir alles zu viel wird, du nicht mehr fokussiert bist oder deine Konzentration nachlässt?
Ich spiele Solitaire, weil ich damit gut abschalten und besser einschlafen kann. Nach sechs Stunden wache ich oft spontan auf und alles scheint einfach und möglich zu sein.