»Die wichtigste Unterscheidung im Leben überhaupt ist die zwischen einer Gelegenheit, die man ergreifen sollte, und einer Versuchung, der man widerstehen sollte.«
RABBI LORD JONATHAN SACKS
ist internationaler Religionsführer, Philosoph, preisgekrönter Autor und eine angesehene moralische Autorität. Im Jahr 2016 bekam er als Anerkennung für seine »außergewöhnlichen Beiträge zur Bekräftigung der spirituellen Dimension des Lebens« den Templeton Prize. Rabbi Sacks wurde von seiner königlichen Hoheit, dem Prince of Wales, als »Licht, das auf diese Nation scheint« bezeichnet und vom früheren britischen Premierminister Tony Blair als »intellektueller Gigant«. Seit seinem Rücktritt als Oberrabbiner der United Hebrew Congregations of the Commonwealth – eine Position, die er 22 Jahre lang innehatte – war Rabbi Sacks Professor an verschiedenen akademischen Institutionen, darunter die Yeshiva University und das King’s College London. Derzeit ist er der Ingeborg and Ira Rennert Global Distinguished Professor of Judaic Thought an der New York University. Rabbi Sacks hat mehr als 30 Bücher geschrieben. Das neueste, Not in God’s Name: Confronting Religious Violence
, wurde im Jahr 2015 mit einem National Jewish Book Award in America ausgezeichnet und kam in die Top Ten der Bestsellerliste der Sunday Times
. Im Jahr 2005 wurde er von der britischen Königin geadelt und zum Peer auf Lebenszeit gemacht. Seinen Sitz im House of Lords nahm er im Oktober 2009 ein.
Welches Buch (welche Bücher) verschenkst du am liebsten? Warum? Welche ein bis drei Bücher haben dein Leben am stärksten beeinflusst?
Leadership on the Line
von Ronald A. Heifetz und Marty Linsky. Es ist das ehrlichste Buch über Führung, das ich je gelesen habe, wie sich schon am Untertitel erkennen lässt: Staying Alive Through the Dangers of Leading
. Das Buch ist zutiefst ehrlich, und ich schenke es jedem, damit er genau weiß, worauf er sich einlässt, wenn er eine Führungsposition anstrebt.
Welche Anschaffung von maximal 100 Dollar hat für dein Leben in den letzten sechs Monaten (oder in letzter Zeit) die größte positive Auswirkung gehabt?
Ohne den Hauch eines Zweifels war das der Kauf von [Bose-]Kopfhörern mit Geräuschunterdrückung. Das sind die religiösesten Objekte, denen ich je begegnet bin, denn ich definiere Glauben als die Fähigkeit, durch die Geräusche hindurch die Musik zu hören.
Welcher (vermeintliche?) Misserfolg war die Voraussetzung für deinen späteren Erfolg? Hast du einen »Lieblingsmisserfolg«?
Der Tiefpunkt meines Lebens war erreicht, als ich im Jahr 2002 – am 11. September, also dem ersten Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001 – ein Buch mit dem Titel The Dignity of Difference
veröffentlichte.
Im Januar 2002 stand ich am Ground Zero. Das Weltwirtschaftsforum war in jenem Jahr von Davos nach New York verlegt worden, und der Erzbischof von Canterbury, Imame und Gurus von überall aus der Welt standen am Ground Zero, und wir haben zusammen gebetet.
Und plötzlich wurde mir klar, dass dies die große definierende Entscheidung war, vor der die Menschheit in der nächsten Generation stehen würde: Religion als Kraft für Koexistenz, Versöhnung und gegenseitigen Respekt oder Religion als Kraft für Hass, Terror und Gewalt.
Ich beschloss, dass ich eine persönliche Antwort auf 9/11 schreiben würde, die am ersten Jahrestag veröffentlicht werden sollte. Der Titel lautete The Dignity of Difference
. Es war ein sehr starkes und sehr umstrittenes Buch. Mitglieder meiner eigenen Gemeinschaft fanden, dass ich schlicht zu weit gegangen war und dass ich mich sogar der Ketzerei schuldig gemacht hätte.
Das war Anfang 2002, und dann passierte etwas ziemlich Lustiges. Rowan Williams war gerade zum Erzbischof von Canterbury ernannt worden. In der Woche zuvor hatte er einen Druiden-Gottesdienst in Wales besucht, was von einigen in der Church of England als heidnischer Akt angesehen wurde.
Also gab es Schlagzeilen in den Zeitungen. Bei einer davon habe ich Zweifel, ob so etwas je zuvor geschrieben wurde und ob es jemals wieder geschrieben werden wird: »Erzbischof von Canterbury und Oberrabbiner der Ketzerei beschuldigt«.
Nun, wenn man ein Verteidiger des Glaubens ist, dann hat man gelinde gesagt damit zu kämpfen, wenn einem vorgeworfen wird, ein Häretiker zu sein. Es gab Rufe nach meinem Rücktritt. Ich hatte das Gefühl, dass viele meiner Rabbiner-Kollegen das Buch nicht verstanden und es sehr kritisch sahen.
Mir war zu diesem Zeitpunkt schlicht unklar, wie ich aus dieser Situation herauskommen konnte.
Ich konnte kein Szenario erkennen, das mir erlaubt hätte, mein Ansehen und meinen Ruf wiederherzustellen, meine Glaubwürdigkeit als jüdische Führungspersönlichkeit, und das hat mich in absolute Verzweiflung gestürzt. Wenn kein Licht am Ende des Tunnels zu sehen ist, sieht man nichts als den Tunnel. An diesem Punkt hatte ich das Gefühl, es gebe keinen Weg mehr nach vorn. Das Wichtigste, was ich tun konnte, war wahrscheinlich zurückzutreten.
Doch dann hörte ich eine Stimme. Ich will nicht sagen, dass Gott zu mir sprach, aber auf jeden Fall war es eine Stimme, die zu mir sagte: »Wenn du zurücktrittst, überlässt du deinen Gegnern den Sieg. Du hast dann zugelassen, dass du in der ersten Schlacht von etwas geschlagen wirst, das du als die wichtigste Herausforderung für die kommende Generation ansiehst.«
Das konnte ich nicht.
Trotz der Tatsache, dass ich fast unerträgliche persönliche Schmerzen verspürte, konnte ich nicht zurücktreten. Ich konnte nicht einfach meinen Feinden, meinen Gegnern, den Gegnern von religiöser Toleranz und Versöhnung, diesen Sieg überlassen.
An diesem Punkt wurde mir schlagartig klar, dass es gar nicht um mich ging. Es ging darum, Menschen nicht im Stich zu lassen, die auf mich vertrauten, und nicht die Ideale zu verraten, die mich dazu gebracht hatten, erst meine Aufgabe zu übernehmen und dann das Buch zu schreiben.
Das also war der Wendepunkt, und letztlich war nicht nur für mich wichtig, dass ich diese Phase überstand und stärker aus ihr herauskam, als ich hineingegangen war. Es war auch wichtig für all die anderen Rabbis, denn auch sie konnten sehen, dass man einen kontroversen Standpunkt vertreten und weithin dafür kritisiert werden kann, das aber überstehen und anschließend immer noch mit Sir Elton John »I’m Still Standing« singen kann.
Es gab eine Wende um 180 Grad, eine kopernikanische Wende, in der Art und Weise, wie ich das verstand, was ich tat. Nichts daran war persönlich, um mich ging es nicht. Es ging
darum, wofür man steht, und um die Menschen, die einem am Herzen liegen. Von diesem Moment an wurde ich auf gewisse Weise unverwundbar, denn ich setzte mich nicht mehr selbst aufs Spiel.
Wenn du an einem beliebigen Ort ein riesiges Plakat mit beliebigem Inhalt aufhängen könntest, was wäre das und warum?
Ich würde drei Worte nehmen: »Leben. Geben. Vergeben.« Das sind mit weitem Abstand die wichtigsten Dinge im Leben.
Was ist das beste oder lohnendste Investment, das du je getätigt hast (in Form von Geld, Zeit, Energie etc.)?
Das ist lange her, 1979, vor 38 Jahren. Damals kauften meine Frau Elaine und ich ein Haus mit einem Spielzimmer am Ende des Gartens, aus dem ich ein Arbeitszimmer machen konnte. Bis dahin hatte ich große Mühe mit dem Schreiben meiner Doktorarbeit und meines ersten Buches, und ich kam absolut nicht weiter. Ich träumte immer davon, an einen Rückzugsort in den Bergen zu gehen oder in eine kleine Hütte auf dem Land, und plötzlich wurde es mir klar: »Hier ist ein Haus mit einem Platz am Ende des Gartens, und vielleicht werde ich dort Ruhe und Isolation finden.« Es funktionierte wie ein Traum, und in genau diesem Zimmer schrieb ich meine Doktorarbeit und meine ersten fünf Bücher. Das hat mein Leben vollkommen verändert. Das Haus war teuer, aber jeden Penny wert.
Was ist eine deiner – gern auch absurden – Eigenheiten, auf die du nicht verzichten möchtest?
Es gibt da eine total lächerliche Sache, die ich aber wirklich lebensverändernd finde: Wenn es in unserem Leben eine kleine Pause gibt oder wir eine Verjüngung brauchen, rufe ich Elaine an und wir sitzen oder stehen und holen einen Moment aus unserer Vergangenheit zurück, indem wir ein Musikvideo auf YouTube anschauen. Das ist wirklich außergewöhnlich. Wenn Proust YouTube gehabt hätte, hätte er À la recherche du temps perdu
gar nicht schreiben müssen, denn dank YouTube geht nichts aus unserer Vergangenheit mehr verloren. Wir können es jederzeit wieder abrufen. Das ist unser Back to the Future
, unser kleines Stück persönliche Zeitreise, zurück zu einer Zeit und einem Ort aus unserem früheren Leben voller Emotionen. Es funktioniert zauberhaft einfach und kostet fast keine Zeit.
Kannst du ein Beispiel dafür nennen, wie ein vergangener Moment und ein bestimmtes YouTube-Video zusammenpassen?
Nur ein Beispiel: Im Sommer 1968 sind mir zwei sehr wichtige Dinge passiert. Erstens reiste ich in die USA, wo ich einige lebensverändernde Begegnungen mit einigen der größten Rabbiner unserer Zeit hatte. Und zweitens lernte ich, als ich zurückkam, Elaine kennen, die damals am Krankenhaus in Cambridge eine Ausbildung machte. Ich studierte in Cambridge an der Universität, und schon bald waren wir verlobt und dann verheiratet.
Damals lief im Kino ein Film, den Elaine und ich uns ansahen, The Graduate
mit Dustin Hoffman. Die Frau, in die er sich darin verliebte, hieß auch Elaine, und die Filmmusik war von Simon and Garfunkel. 1968 haben die beiden einen sehr bewegenden Song namens »America« veröffentlicht, der von jungen Männern und ihren Freundinnen und dem Zählen von Autos am New Jersey Turnpike handelte.
Immer wenn ich noch einmal die Zeit erleben möchte, in der Elaine und ich uns kennengelernt haben, als sich in meinem Leben neue Horizonte eröffneten und die größte Romanze unseres Lebens wahr wurde, gehe ich also einfach auf YouTube und höre und sehe mir dort an, wie Simon and Garfunkel »America« singen.
Welche Überzeugungen, Verhaltensweisen oder Gewohnheiten, die du dir in den letzten fünf Jahren angeeignet hast, haben dein Leben am meisten verbessert?
Vor dreieinhalb Jahren habe ich die Position als Oberrabbiner aufgegeben. Ich wollte etwas versuchen, was aus allen möglichen Gründen keiner meiner Vorgänger geschafft hatte, nämlich eine neue Karriere beginnen, eine andere Herausforderung. Mir wurde klar, dass auf einen Job, der so öffentlich und privilegiert war wie meiner, fast mit Sicherheit Entzugserscheinungen und die Gefahr von Depressionen folgen würden.
Also entschied ich bewusst, mich so sehr mit Terminen zu überladen, dass ich gar keine Zeit haben würde, depressiv zu werden. Das war auf magische Weise effektiv. Ich kann es jedem empfehlen.
Wozu kannst du heute leichter Nein sagen als vor fünf Jahren? Welche neuen Erkenntnisse und/oder Ansätze haben dir dabei geholfen?
Ganz einfach: Mein Team. Meine Frau und die zwei Menschen, die mein Büro verwalten, denn ich weiß, dass meine größte Schwäche darin liegt, dass ich nicht Nein sagen kann. Also delegiere ich das einfach weg von mir. Die Menschen, die diese Aufgabe übernehmen, sind viel besser im Neinsagen als ich. Ich kann auch das jedem empfehlen.
Welche schlechten Ratschläge kursieren in deinem beruflichen Umfeld oder Fachgebiet?
In meinem Tätigkeitsbereich, also Religion und öffentlicher Diskurs, ist das häufigste Problem wahrscheinlich Angst und als Folge davon eine Verteidigungshaltung. Das ist genau die falsche Art und Weise, die Zukunft anzugehen. Wende dich ihr voller Hoffnung zu, in dem Wissen, dass du jeder Herausforderung, die kommen mag, gewachsen bist, und verkünde eine Botschaft, die das genaue Gegenteil von Angst und Verteidigung ist.
Was tust du, wenn dir alles zu viel wird, du nicht mehr fokussiert bist oder deine Konzentration nachlässt?
Was habe ich in das Navigationssystem meines Lebens eingegeben [wo also will ich in zehn oder 20 Jahren sein]? Was ist mein letztliches Ziel? Darauf muss man sich jedes Mal besinnen, wenn man sich überfordert fühlt. Sich an das Ziel zu erinnern, wird dir dabei helfen. Die wichtigste Unterscheidung im Leben überhaupt ist die zwischen einer Gelegenheit, die man ergreifen sollte, und einer Versuchung, der man widerstehen sollte.