»Eine Ablenkung, die ich zu meiden gelernt habe, ist, Medien zu konsumieren, die mir nur sagen, was ich ohnehin schon weiß und gut finde.«
JULIA GALEF
ist Autorin und Vortragsrednerin, die sich auf die Frage fokussiert: »Wie lässt sich das menschliche Urteilsvermögen verbessern, vor allem bei komplexen Entscheidungen mit hohem Einsatz?« Julia ist Mitgründerin des Center for Applied Rationality, einer gemeinnützigen Organisation, die Workshops zur Verbesserung von logischem Denken und Entscheidungsprozessen anbietet. Seit 2010 ist sie Host des Podcasts Rationally Speaking
, der alle zwei Wochen gesendet wird und sich um Gespräche mit Naturwissenschaftlern, Sozialwissenschaftlern und Philosophen dreht. Derzeit schreibt Julia Galef ein Buch über die Verbesserung des Urteilsvermögens durch Umformung unbewusster Motive. Ihr TED Talk »Why You Think You’re Right – Even If You’re Wrong« wurde über drei Millionen Mal aufgerufen.
Welche Überzeugungen, Verhaltensweisen oder Gewohnheiten, die du dir in den letzten fünf Jahren angeeignet hast, haben dein Leben am meisten verbessert?
Wenn etwas schiefläuft, gehe ich nicht mehr automatisch davon aus, dass ich etwas falsch gemacht habe. Stattdessen frage ich mich: »Welche Strategie verfolge ich, die dieses miserable Ergebnis hervorgebracht hat? Erwarte ich mir von dieser Strategie unter dem Strich immer noch das beste Ergebnis, auch wenn hin und wieder mal nichts dabei herauskommt?« Wenn ja, dann weiter so!
Diese Gewohnheit ist so wichtig, weil selbst die besten Strategien eine gewisse Fehlerquote aufweisen. Deshalb sollte man nicht davon abgehen (oder sich selbst zerfleischen), wenn es zu einer der unvermeidlichen Pannen kommt.
Nehmen wir an, du bist grundsätzlich gern 1 Stunde 20 Minuten vor Abflug am Flughafen. Eines Tages kostet dich ein Unfall auf der Autobahn so viel Zeit, dass du um ein Haar deinen Flug verpasst. Solltest du deshalb künftig mehr Zeit einplanen? Nicht unbedingt. Die Strategie, zwei Stunden vor Abflug am Flughafen zu sein, hätte dir in diesem speziellen Fall weitergeholfen, doch auch sie hätte ihren Preis – nämlich eine Menge Wartezeit an Flughäfen. 1 Stunde 20 Minuten könnte auch dann die beste Strategie sein, wenn du ab und zu – zum Beispiel heute – einen Flug verpasst.
Ebenso neige ich dazu, mich verrückt zu machen wegen jedes Fehlers, den ich in einem Blogbeitrag, bei einer Sitzung oder in einem Vortrag gemacht habe. Mir drängt sich dann immer der Satz auf: »Tja, hätte ich mich mal besser vorbereitet.« Manchmal stimmt das. In anderen Fällen sollte das Fazit lauten: »Nein, in Wirklichkeit lohnt es sich nicht, vor jedem Gespräch so viel Zeit aufzuwenden, um solche Fehler zu vermeiden.«
Ein anderes Beispiel: Kürzlich bin ich im Winter mit dem New-Jersey-Transit-Zug gefahren. Als ich aus dem Fenster schaute, sah ich ein Feuer auf den Schienen. Sonst schien sich keiner darum zu scheren, also dachte ich: »Vermutlich kein Grund zur Sorge.« Ich war aber nicht sicher, deshalb lief ich los, um einen Zugbegleiter zu suchen. Ich sagte ihm, was los war. Es stellte sich heraus, dass wirklich kein Grund zur Sorge bestand. Offenbar setzen die Eisenbahngesellschaften im Winter Feuer ein, um die Schienen zu enteisen. Mein erster Impuls war, mir dumm vorzukommen, weil ich mir ohne Grund Sorgen gemacht hatte. Doch als ich darüber nachdachte, wurde mir klar: »Nein, eigentlich finde ich, dass ich auch weiterhin Gefahren auf den Grund gehen sollte, die schlimme Folgen haben könnten, wenn mein Verdacht zutrifft. Auch wenn er sich in den meisten Fällen als unbegründet erweisen sollte.«
Welche schlechten Ratschläge kursieren in deinem beruflichen Umfeld oder Fachgebiet?
Ich glaube, die meisten Ratschläge sind schlecht, weil sie zu pauschal sind. »Geh mehr Risiken ein.« »Sei nicht so streng mit dir.« »Arbeite härter.« Das Problem ist, dass manche Menschen mehr Risiken eingehen sollten, andere aber weniger. Manche Menschen müssen nachsichtiger mit sich umgehen, andere üben sich zu sehr in Nachsicht. Manche Menschen sollten härter arbeiten, andere stehen schon kurz vor dem Burnout. Und so weiter.
Die nützlichsten Ratschläge sind meiner Ansicht nach folglich solche, die das Urteilsvermögen allgemein verbessern – deine Fähigkeit, die eigene Situation (selbst wenn die Wahrheit wenig schmeichelhaft oder angenehm ist), die möglichen Optionen und die damit verbundenen Kompromisse korrekt wahrzunehmen. Gutes Urteilsvermögen hat, wer bewerten kann, ob ein Rat für die eigene Situation geeignet ist oder nicht. Sonst kann man gar nicht zwischen einem guten und einem schlechten Rat unterscheiden.
Die Bücher Superforecasting
(von Philip E. Tetlock und Dan Gardner) und How to Measure Anything
(von Douglas W. Hubbard) liefern gute Tipps, wie man die eigene Fähigkeit verbessert, richtige Prognosen zu stellen. Und Decisive
(von Chip Heath und Dan Heath) erklärt die vier größten Fehler bei der Urteilsbildung (Entscheidungen zu eng zu konzipieren oder sich dabei von flüchtigen Gefühlen leiten zu lassen) und verrät, wie man sie meiden kann.
Wozu kannst du heute leichter Nein sagen als vor fünf Jahren?
Eine Ablenkung, die ich zu meiden gelernt habe, ist, Medien zu konsumieren, die mir nur sagen, was ich ohnehin schon weiß und gut finde (etwa politisch). Das kann süchtig machen, weil man sich so schön bestätigt fühlt – als ob man mit einem Freund spricht. Man lernt aber nichts daraus, und ich glaube, wer diesem Impuls über längere Zeit nachgibt, kann andere Ansichten nicht mehr so gut tolerieren. Ich löste mich von dieser Sucht im Grunde dadurch, dass ich mir klarmachte, wie viel Zeit ich darauf verschwendete, nichts Neues zu erfahren.
Was tust du, wenn dir alles zu viel wird, du nicht mehr fokussiert bist oder deine Konzentration nachlässt?
Manchmal muss ich mich zwischen zwei Optionen entscheiden, und ich weiß, dass viel auf dem Spiel steht, kann aber beim besten Willen nicht sagen, welcher Weg der bessere ist. Also grüble ich und schwanke zwischen den beiden Optionen hin und her, ohne neue Informationen zu gewinnen.
Glücklicherweise erinnere ich mich irgendwann an folgenden Grundsatz: Ungewissheit über den Erwartungswert fließt in den Erwartungswert ein. Wenn ich also weiß, dass eine der beiden Optionen A oder B ganz toll ist, die andere dagegen eine Katastrophe, aber nicht, welche, dann haben beide denselben Erwartungswert.
Das eröffnet eine ganz neue Perspektive. Wenn du denkst, das eine ist toll, das andere furchtbar, aber nicht weißt, was ist was, dann lähmt das. Befreiend wirkt, wenn du denkst: »Beide Optionen haben denselben Erwartungswert.«
(Das setzt natürlich voraus, dass es dir nicht möglich ist, ohne größeren Aufwand weitere Informationen über A und B einzuholen, um die Ungewissheit in der Frage, was die bessere Lösung ist, zu verringern. Das solltest du natürlich, wenn es geht. Dieser Rat bezieht sich auf Situationen, in denen du alle zumutbaren Möglichkeiten ausgeschöpft hast, dich besser zu informieren, und nicht mehr weiterweißt.)
Nehmen wir an, du quälst dich mit der Entscheidung zwischen zwei Stellen, die dir angeboten wurden, und fühlst dich überfordert, weil du nicht ohne Weiteres sagen kannst, welche Entscheidung die bessere ist. Stelle A ist prestigeträchtiger und besser bezahlt, doch Stelle B bietet eine vorteilhaftere Kultur und mehr Freiheit bei der Auswahl deiner Projekte.
In diesem Fall solltest du dir die Frage stellen: »Kann ich mir irgendwie zusätzliche Informationen verschaffen, die mir bei der Entscheidung helfen?« Vielleicht kannst du mit Mitarbeitern der betreffenden Unternehmen sprechen und herausfinden, wie es ihnen dort gefällt. Oder feststellen, was ehemalige Mitarbeiter von A und B nach ihrem Ausscheiden getan haben.
Vielleicht hast du das alles ja schon gemacht, und die Antworten haben dir die Entscheidung nicht erleichtert. In diesem Fall – wenn keine weiteren Informationen verfügbar sind, die klarmachen, was für dich »das Richtige« ist – solltest du dich entspannen und dich einfach für eine Option entscheiden, ohne dir Gedanken zu machen. Ich weiß, dass das oft leichter gesagt als getan ist, aber wenn man nicht weiß, welche Entscheidung die bessere ist, dann sind eigentlich beide gleich gut.