»Wenn zwei extreme Meinungen aufeinandertreffen, liegt die Wahrheit meist irgendwo in der Mitte. Ohne Kontakt zur anderen Seite wird man automatisch in Richtung der Extreme und weg von der Wahrheit getrieben.«
ANNIE DUKE
war zwei Jahrzehnte lang eine der besten Poker-Spielerinnen der Welt. Im Jahr 2004 setzte sie sich unter 234 Teilnehmern durch und gewann ihr erstes Armband in der World Series of Poker (WSOP). Im selben Jahr triumphierte sie auch beim mit 2 Millionen Dollar für den Sieger dotierten Tournament of Champions der WSOP nur für eingeladene Spieler. Bevor sie professionelle Poker-Spielerin wurde, bekam Duke für ein Studium der kognitiven Psychologie an der University of Pennsylvania ein Stipendium der National Science Foundation. In ihrem Blog Annie’s Analysis
schreibt sie regelmäßig über die Wissenschaft der intelligenten Entscheidungsfindung, und ihr Poker-Wissen hat sie in einer Reihe von Bestsellerbüchern weitergegeben, darunter Decide to Play Great Poker
und The Middle Zone: Mastering the Most Difficult Hands in Hold’em Poker
(beide geschrieben zusammen mit John Vorhaus). Ihr neuestes Buch, Thinking in Bets: Making Smarter Decisions When You Don’t Have All the Facts
, beschäftigt sich mit Strategien für gute Entscheidungen.
Welchen Rat würdest du einem intelligenten, motivierten Studenten für den Einstieg in die »echte Welt« geben?
Erstens: Suche nach abweichenden Meinungen. Versuche immer, Leute zu finden, die anderer Meinung sind, die ehrlich und produktiv den Advocatus Diaboli spielen können. Verlange von dir selbst, Menschen genau zuzuhören, die andere Ideen und Meinungen haben als du. Halte dich so gut wie möglich von politischen Blasen und Echokammern fern. Habe ein gutes Gefühl dabei, wirklich zuzuhören, wenn jemand eine andere Meinung hat als du. Versuche, jeden Tag deine Meinung über eine Sache zu ändern.
Tatsache ist: Wenn zwei extreme Meinungen aufeinandertreffen, liegt die Wahrheit meist irgendwo in der Mitte. Ohne Kontakt zur anderen Seite wird man automatisch in Richtung der Extreme und weg von der Wahrheit getrieben. Hab keine Angst davor, dich zu irren. Denn sich zu irren, ist nur eine Chance, mehr über die Wahrheit herauszufinden.
Zweitens: Bleib flexibel und offen für Gelegenheiten, die sich bieten. Die meisten erfolgreichen Menschen, die ich kenne, wussten direkt nach der Universität noch nicht genau, was sie machen wollten, und im Lauf ihrer Karrieren hat sich ihr Schwerpunkt verschoben. Sei offen für das, was die Welt dir bringt. Hab keine Angst vor einem Job- oder Karrierewechsel, egal wie viel Zeit du vorher in etwas investiert hast. Es ist nicht nötig, über alles Bescheid zu wissen. Und wenn man doch das Gefühl hat, über alles Bescheid zu wissen, kann man steckenbleiben und seine Offenheit für Veränderungen verlieren.
Wozu kannst du heute leichter Nein sagen als vor fünf Jahren?
Ich bin allgemein besser darin geworden, zu fast allem Nein zu sagen, vor allem aber bei Verpflichtungen, für die ich verreisen müsste. Die Strategie, die ich mir dafür überlegt habe, ist: Ich stelle mir vor, es wäre der Tag, an dem ich abreisen muss, und überlege, ob ich mich an diesem Tag glücklich oder traurig fühle. Dann stelle ich mir vor, es sei der Tag danach und ich sei wieder zu Hause, und frage mich, ob sich die Reise gelohnt hat. Bin ich froh, dass ich Ja gesagt und getan habe, was ich getan habe? Durch diese Art von »Zeitreise« kann ich mir besser die Nachteile der Sachen vorstellen, die ich nicht mag (weg von zu Hause sein, den Aufwand für das Reisen), und sie gegen die Vorteile von dem, über das ich nachdenke, abwägen (eine Keynote halten, die bei einem Publikum gut ankommen wird, an einer wohltätigen Veranstaltung teilnehmen und mich sehr über das eingesammelte Geld freuen).
Das Gleiche funktioniert, indem ich an ähnliche Angebote denke, die ich angenommen oder abgelehnt habe. Bin ich froh, dass ich das Angebot angenommen habe, oder froh, dass ich es abgelehnt habe? Das ist eine tolle Technik für das Nachdenken über alle möglichen Entscheidungen, ob kleine wie über eine Einladung zum Essen oder große wie über den Umzug in eine andere Stadt. Ein bisschen bewusstes Zeitreisen hilft dabei, den richtigen Blick zu bekommen.
Welcher (vermeintliche?) Misserfolg war die Voraussetzung für deinen späteren Erfolg? Hast du einen »Lieblingsmisserfolg«?
Im Poker gibt es viele Misserfolge, weil man viele Runden verliert. Man kann beim Poker auf zweierlei Weise Misserfolg haben. Erstens kann man ihn einfach als negatives Ergebnis definieren, wenn man zum Beispiel ein schlechtes Blatt hat. Aber eine der Lektionen, die man dabei lernt, ist, dass das eine unproduktive Definition ist, denn man kann beim Poker auch gewinnen, obwohl man sehr schlechte Entscheidungen trifft, und trotz sehr guter Entscheidungen verlieren. Man kann also bei einem mathematisch gesehen gewinnträchtigen Blatt sein gesamtes Geld setzen und trotzdem verlieren, weil der Rest der Karten, die man bekommt, nicht die richtigen sind.
Wenn man Misserfolg einfach als Verlieren definiert, wird man glauben, dass es dabei nur um das Ergebnis geht. Man versucht dann vielleicht, die eigene Spielweise anzupassen, um nicht zu verlieren, obwohl die Entscheidungen vorher sehr gut waren (oder man wiederholt schlechte Strategien, nur weil man einmal damit gewonnen hat). Das wäre das Gleiche wie zu glauben, es sei klug, rote Ampeln zu überfahren, nur weil das ein paarmal geklappt hat. Oder zu beschließen, nie mehr bei Grün zu fahren, weil man dabei einmal einen Unfall hatte.
Beim Pokern habe ich gelernt, dass ich Misserfolg vom Ergebnis trennen muss. Dass ich verliere, heißt nicht, dass ich versagt habe, und dass ich gewinne, heißt nicht, dass ich gut war – nicht wenn man Erfolg und Misserfolg danach definiert, ob man gute Entscheidungen trifft, die langfristig zum Sieg führen. Wichtig sind die Entscheidungen, die ich zwischendurch getroffen habe, und jede falsche Entscheidung ist eine Chance dafür, zu lernen und meine Strategie für die Zukunft anzupassen. Wenn man das tut, wird Verlieren zu einer weniger emotionalen Erfahrung und stärker zu einer Gelegenheit, zu erkunden und zu lernen.