»Es sind verschiedene Perspektiven nötig, um seine Persönlichkeit zu formen. Identität geht in beide Richtungen – sie entsteht von innen nach außen und von außen nach innen.«
ESTHER PEREL
gilt als wichtigste Koryphäe für Sexualität und Partnerschaft nach Dr. Ruth Westheimer. Ihre TED-Vorträge über das Geheimnis des Begehrens und das Überdenken der Untreue wurden über 17 Millionen Mal aufgerufen, und sie hat in den 34 Jahren, in denen sie ihre private therapeutische Praxis in New York City führt, praktisch alles gesehen und erprobt, was es gibt. Esther hat den internationalen Bestseller Mating in Captivity
geschrieben, der in 26 Sprachen übersetzt worden ist. Die Belgierin spricht neun Sprachen fließend (ich habe sie selbst reden hören) und äußert ihre multikulturelle Sichtweise in ihrem neuen Buch The State of Affairs: Rethinking Infidelity
. Sie richtet ihre kreative Energie zurzeit auf die Entwicklung und Gestaltung einer Interviewreihe, die bei Audible erhältlich ist und Where Should We Begin?
heißt.
Welchen Rat würdest du einem intelligenten, motivierten Studenten für den Einstieg in die »echte Welt« geben? Welchen Rat sollte er ignorieren?
Das Leben wird dir viele unerwartete Gelegenheiten bieten, und du wirst nicht immer im Voraus wissen, welche Augenblicke die wichtigen sind. Darüber hinaus wird die Qualität deiner Beziehungen die Qualität deines Lebens bestimmen. Investiere in deine Beziehungen – selbst wenn sie dir unwichtig erscheinen.
Ein Freund von mir erzählte mir neulich eine Geschichte, die genau auf diesen Punkt abzielte. Er wollte sich mit seiner Tochter ein College ansehen und sie baten um eine Führung durch ein bestimmtes Forschungszentrum, das sie nach dem Schulabschluss eventuell besuchen wollte. Der Hausverwalter zeigte ihnen die Räumlichkeiten – das Büro des Direktors, den Mediensaal und sogar die Lagerräume. Die Tochter staunte über die ausführliche Führung und rollte mit den Augen, aber ihr Vater sagte nur: »Stelle Fragen. Du weißt nie, was passieren wird.« Als sie schließlich fertig waren, gab der Hausverwalter ihnen seine Visitenkarte. Mein Freund wies seine Tochter an, sich per E-Mail zu bedanken und zwei konkrete Dinge zu benennen, die ihr bei der Führung in Erinnerung geblieben waren.
Am nächsten Tag erhielt die Tochter einen Anruf vom Präsidenten des Zentrums. Der Hausverwalter hatte ihre E-Mail an ihn weitergeleitet mit der Nachricht: »Genau solche Studenten brauchen wir.« Du kannst dir denken, was dann geschah.
Nimm dir immer Zeit, die Leistung anderer Leute zu würdigen – und nicht nur dann, wenn du einen Vorteil davon hast. Wenn du an deinem Gegenüber interessiert bist, wird auch dein Gegenüber an dir interessiert sein. Die Menschen vergelten Güte mit Güte, Respekt mit Respekt. Beziehungen – selbst kurze – eröffnen viele Gelegenheiten.
Man sollte aber Ratschläge bzw. Fragen ignorieren wie: »Wie sieht dein Fünfjahresplan aus?«
Was ist das beste oder lohnendste Investment, das du je getätigt hast (in Form von Geld, Zeit, Energie etc.)?
Ich hatte von Anfang an einen Vorteil, weil ich in Belgien aufwuchs, in dem es drei Landessprachen gibt (Niederländisch, Französisch und Deutsch). Meine Eltern waren jüdische Flüchtlinge, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus Polen eingewandert waren, und so kamen noch Polnisch, Hebräisch und Jiddisch dazu. Schon in sehr jungen Jahren verstand ich, dass Sprache ein Tor zu einer anderen Welt ist – zu einer anderen Kultur, Sensibilität, Ästhetik und einem anderen Humor. Das Gegenteil von einem Flüchtling ist ein Einheimischer, und Sprache war mein Weg, ein solcher zu werden. Je nach verwendeter Sprache werden unterschiedliche Teile in mir wach.
Ich lernte weitere Sprachen in der Schule (Englisch), auf Reisen (Spanisch), in einer Bossa-nova-Band (Portugiesisch) und per Hörbuch vor dem Einschlafen (Italienisch). Ich sah abends oft die Fernsehnachrichten in verschiedenen Sprachen. Zeitschriften waren auch hilfreich. Und Gespräche in Flugzeugen verbesserten mein Vokabular enorm. Ich spreche neun Sprachen und arbeite in mindestens sieben davon.
Die Zeit, die ich ins Sprachenlernen investierte, war für meine Karriere essenziell. Als ich in den USA eintraf, ohne Referenzen und einen beeindruckenden Abschluss, konnte ich mich nur durch meine Sprachfähigkeiten und die verschiedenen Perspektiven, die ich dadurch erlangte, von anderen Therapeuten abheben.
Ich achtete darauf, meinen Söhnen den linguistischen Imperativ zu vermitteln. Ich finde es seltsam, dass in den USA Zweisprachigkeit als Zeichen für einen niedrigeren sozialen Status gilt, und selbst im Kindergarten weigern sich viele Kinder oft, die Sprache ihrer Eltern zu verwenden. Also infizierte ich meine Kinder von klein auf mit dem Reisefieber. Wenn sie mit anderen Kindern in Europa, Israel oder Südamerika spielen wollten, mussten sie deren Sprache lernen.
Beruflich unterhalte ich mich mit Menschen, die aus aller Herren Länder stammen, über die persönlichsten Dinge. Kommunikation ist eine intime Angelegenheit, und es ist ausgeschlossen, dass ich meine Arbeit leisten könnte, wenn ich dafür einen Übersetzer bräuchte.
Was tust du, wenn dir alles zu viel wird, du nicht mehr fokussiert bist oder deine Konzentration nachlässt?
Ich suche die Nähe zu Menschen, die mir helfen, meine Konzentration, mein Selbstbewusstsein und meine innere Mitte wiederzuerlangen. Ich lebe mein Leben in einem Netzwerk aus Freunden, Familie, Kollegen, Fremden, Mentoren und Studenten. Wenn mir alles zu viel wird, verliere ich meine Orientierung und ich brauche ein menschliches GPS, das mir dabei hilft, die »Route neu zu berechnen« und wieder auf Kurs zu kommen.
In den Augenblicken, in denen man an sich zweifelt, braucht man andere, die an einen glauben. Sie richten dich auf, wenn du einmal stolperst, und fangen dich auf. Andere Menschen sehen dich anders als du dich selbst. Es sind verschiedene Perspektiven nötig, um seine Persönlichkeit zu formen. Identität geht in beide Richtungen – sie entsteht von innen nach außen und von außen nach innen.
Viele Menschen denken, dass sie zu sich selbst finden und die Welt ausblenden müssen, wenn sie sich überfordert fühlen oder ihre Mitte verlieren. Sie glauben, dass es edler und tugendhafter wäre, wenn sie die Dinge ohne fremde Hilfe klären. Bei mir funktioniert das nicht. Ich finde mich selbst und aktiviere meine größten kreativen Kräfte, wenn ich in Interaktion mit der wunderbaren Vielfalt anderer Menschen trete.