»Das mag ein seltsamer Rat sein von jemandem, der im Hauptfach Elektrotechnik studiert und über mathematische Modelle der Computersicherheit promoviert hat, aber ich rate allen Collegestudenten, die mir über den Weg laufen, den Rest ihrer Zeit auf dem College darauf zu verwenden, sich den Kopf mit allen geisteswissenschaftlichen Fächern vollzustopfen, die ihre Schule anbietet.«
ANN MIURA-KO
ist Partnerin bei der auf Micro-Cap-Investitionen in Start-ups spezialisierten Wagniskapitalgesellschaft Floodgate. Sie wurde von Forbes
als »einflussreichste Frau in der Start-up-Sphäre« bezeichnet und ist Dozentin für Unternehmertum in Stanford. Als Kind eines Raketenforschers der NASA wurde Ann in Palo Alto geboren und wuchs schon als Teenager mit Technologie-Start-ups auf. Bevor sie Floodgate gründete, arbeitete sie bei Charles River Ventures und McKinsey and Company. Ann investierte unter anderem in Lyft, Ayasdi, Xamarin, Refinery29, Chloe and Isabel, Maker Media, Wanelo, TaskRabbit und Modcloth.
Welcher (vermeintliche?) Misserfolg war die Voraussetzung für deinen späteren Erfolg? Hast du einen »Lieblingsmisserfolg«?
Als Zwölfjährige stand ich neben meinem Bruder auf der Bühne, der selbstbewusst auf mich zeigte und ansagte: »Das ist Ann Miura. Sie spielt ein Chopin-Nocturne in cis-Moll.« Ich stand stumm neben ihm, ging zum Klavier und begann zu spielen. Auf dem Klavier konnte ich ohne Probleme vor vielen Menschen spielen, aber [mein Bruder musste die Ansage für mich machen, denn] ich hatte Panik davor, öffentlich zu sprechen. Erschwerend kam hinzu, dass ich zu Hause Japanisch sprach. Ich hatte zwar viel Vertrauen in meine Fähigkeiten in anderen Fächern, aber Englisch war nie meine starke Seite gewesen. Auf der Highschool beschloss ich, diese Schwächen energisch anzugehen und meldete mich für das Rede- und Debattierteam an. Diesem Projekt widmete ich fast meine gesamte unterrichtsfreie Zeit. Zwei Jahre später, nach meinem zweiten Highschool-Jahr, meinten meine Eltern, das sei wohl nichts gewesen. Während andere Mitglieder des Teams Trophäen und Auszeichnungen sammelten, war meine Erfolgsbilanz mau. Ich hatte nicht viel vorzuweisen für die ganze Zeit, die ich geopfert hatte. Meine Eltern befürchteten zu Recht, ich könnte alles auf eine – und obendrein ziemlich miese – Karte gesetzt haben, und schlugen vor, ich solle mich im nächsten Jahr lieber auf etwas anderes konzentrieren. »Wie wäre es denn mit Fechten?«, fragte meine Mutter in offensichtlicher Unkenntnis meiner absoluten Unsportlichkeit. »Wie ich höre, haben gute Fechter Aufnahmechancen in erstklassigen Colleges!«
Meine Eltern handelten in bester Absicht, hatten aber nicht auf der Rechnung, wie viel Spaß mir das Debattieren machte. Ich liebte den Wettbewerb. Ich legte mir gern Argumente zurecht. Ich genoss die Vorbereitungen. Ich mochte eigentlich alles daran, und meine schlechte Erfolgsbilanz tat meiner Leidenschaft noch keinen Abbruch. Ich bat mir einen Sommer Zeit aus, um mir einen neuen Ansatz zu überlegen. Meine Mutter bezeichnete mich als stur, doch ich verbrachte den ganzen Sommer zwischen meinem zweiten und dritten Highschool-Jahr in der örtlichen Bibliothek und befasste mich mit potenziellen Themen für die Debatten im nächsten Jahr. Ich verdoppelte und verdreifachte meinen bisherigen Einsatz, indem ich philosophische
Bücher, soziologische Texte und Artikel aus Fachblättern las – so ungefähr alles, was ich in die Finger bekommen konnte. Ich versprach meinen Eltern, ich würde das Debattieren aufgeben, wenn ich in den ersten beiden Wettbewerben keinen Spitzenplatz erreichen konnte.
Dieser Sommer war für mich ein richtiges Geschenk. Ich lernte mehr über mich und darüber, wie ich Erfolg haben konnte, als aus allen meinen bisherigen Erfahrungen mit klassischeren Erfolgsmaßstäben. Erstens: Es ist nicht schwer, sich einer Sache ganz und gar zu verschreiben, die einem wirklich großen Spaß macht. Und durch echten Einsatz und harte Arbeit kann man die Konkurrenz durch bessere Vorbereitung aus dem Feld schlagen. Bei der ersten Debattierrunde im Herbst meines dritten Highschool-Jahrs hatte ich schon gewonnen, bevor mein Kontrahent auch nur ein Wort gesagt hatte, so viel besser vorbereitet und durchgeplant war mein Auftritt. Auf jedes seiner Argumente hatte ich gleich mehrere Antworten parat. Keines davon überraschte mich. Zweitens lernte ich daraus, dass ich meine Fähigkeiten besser einschätzen kann als jeder andere. Es fällt den Menschen schwer, Schneid, Entschlossenheit, harte Arbeit und menschliches Potenzial zu bewerten. Wer die Gelegenheit bekommt, kann das alles an sich selbst klarer sehen als jeder andere. Wir müssen nur auf die innere Stimme lauschen und ihr zuhören. In meinem dritten Highschool-Jahr belegte ich schließlich den zweiten Platz in ganz Kalifornien, und im Abschlussjahr gewann ich das landesweite Tournament of Champions. Das hätte selbst ich mir in jenem Sommer nach dem zweiten Highschool-Jahr nicht vorstellen können.
Was ist eine deiner – gern auch absurden – Eigenheiten, auf die du nicht verzichten möchtest?
Ich habe ein absolutes Faible für Büromaterial. Meine Verwandtschaft mütterlicherseits hat einen kleinen Laden für Bürobedarf in Kanazawa in Japan, und dort half ich im Sommer als Kind oft aus. Es machte mir Spaß, die neuesten, tollsten Stifte und Füller zu vergleichen. Ich wusste, welches Federmäppchen die meisten Extras hatte – etwa einen eingebauten Spitzer, passende Lineale und Scheren oder Geheimfächer für Süßigkeiten oder Geld. Ich liebte den Geruch eines neuen Notizbuchs, dessen Seiten noch aneinanderklebten. Mir gefiel, dass die Menschen in Japan Stempel anstelle von Unterschriften verwendeten und in den Laden kamen, um sich einen neuen Stempel zu bestellen, wenn sie den alten verloren hatten. Meine immer noch vorhandene Obsession für die besten Stifte (Muji 0,38 mm Gelstifte und Pilot Juice Up 0,4 mm Gelstifte) und Notizbücher (Leuchtturm1917 Medium Hardcover) ist ein Widerhall jener heißen Sommertage, die ich im Schreibwarenladen meines Onkels verbrachte. Es ist mir nur ein bisschen peinlich, wie gern ich mit einem mir zur Verfügung stehenden unerschöpflichen Reservoir an Tinten- und Farbstiften Notizen auf Papier mache.
Welchen Rat würdest du einem intelligenten, motivierten Studenten für den Einstieg in die »echte Welt« geben?
Studenten im letzten Collegejahr rate ich gewöhnlich zweierlei. Das eine mag ein seltsamer Rat sein von jemandem, der im Hauptfach Elektrotechnik studiert und über mathematische Modelle der Computersicherheit promoviert hat, aber ich rate allen Collegestudenten, die mir über den Weg laufen, den Rest ihrer Zeit auf dem College darauf zu verwenden, sich den Kopf mit allen geisteswissenschaftlichen Fächern vollzustopfen, die ihre Schule anbietet. Die Kurse über digitale Schaltungen, die ich 1995 belegte, sind längst überholt, doch von den zeitlosen Lehren über die grundlegende Natur des Menschen (zum Beispiel von John Locke oder Thomas Hobbes), den Aufstieg und Niedergang großer Kulturen und die motivierenden Vorbilder echter Helden (wie Alexander Hamilton) aus den Literatur- und Geschichtskursen, die ich besuchte, zehre ich bis heute jeden Tag. In einer Welt, in der es so sehr um die Entwicklung neuer Produkte durch rasche Iteration und Experimente geht, vergessen wir oft, innezuhalten und sicherzustellen, dass die Zukunft, der wir mit Riesenschritten entgegeneilen, auch wirklich die Zukunft ist, die wir haben möchten. Die praktische Anwendung von Urteilsvermögen und Logik aus der Philosophie (zum Beispiel der kantischen Ethik), der Geschichte und der Literatur vermittelt Kompetenzen, die wir nicht nur weiterentwickeln sollten, wenn wir das College längst verlassen haben, sondern die wir nur schwer erwerben können, wenn wir nicht im College damit anfangen.
Der zweite Rat stammt von einem Vorgesetzten, und er erteilte ihn mir großzügig im ersten Monat nach meinem Arbeitsantritt in New York und bezeichnete ihn als sehr persönlich, aber ausgesprochen bedeutsam: Eigne dir eine Philosophie des Gebens an, sobald du in die Arbeitswelt eintrittst. Er riet mir, diese Philosophie zu entwickeln, solange ich außer meinem Studienkredit noch kaum Verpflichtungen hatte. Er empfahl mir, jedes Jahr einen bestimmten Prozentsatz meines Einkommens an gemeinnützige Organisationen meiner Wahl zu spenden. Was mir damals nicht klar war, aber im Laufe der Zeit bewusst wurde: Spenden ist ebenso Gewohnheit wie bewusstes Handeln. In einem bestimmten Moment mag es einem zwar so vorkommen, als gebe es zahllose andere Verwendungsmöglichkeiten für die kostbaren, für gemeinnützige Zwecke zur Seite gelegten Dollars, doch das Eingehen und Einhalten so einer persönlichen Verpflichtung kann enorme Sinnhaftigkeit erzeugen. Ich verpflichtete mich dazu, sobald ich nach dem College zu arbeiten anfing, und hielt mich auch in magereren Jahren, als ich weiterstudierte, daran. Mein Mann und ich haben diese Verpflichtung gemeinsam für unsere Zukunft erneuert.