»Habe den moralischen Mut, im Grauen zu leben. (…) Lebe jetzt die Fragen. Vielleicht lebst du dann allmählich eines fernen Tages in die Antwort hinein.«
JACQUELINE NOVOGRATZ
ist Gründerin und CEO von Acumen, einem Unternehmen, das Spendengelder sammelt, um sie in Unternehmen, Führungspersönlichkeiten und Ideen zu investieren, die verändern, wie die Welt gegen Armut kämpft. Vorher hat sie den Philanthropy Workshop und das Next Generation Leadership-Programm bei der Rockefeller Foundation initiiert und geleitet. Außerdem ist Novogratz Mitgründerin von Duterimbere, einer Mikrofinanz-Institution in Ruanda. Zu Beginn ihrer Laufbahn im internationalen Bankgeschäft hat sie bei der Chase Manhattan Bank gearbeitet. Derzeit ist sie Mitglied des Boards von Sonen Capital und der Harvard School of Business Social Enterprise Initiative sowie des Stiftungsrats des Aspen Institute und des Boards von
IDEO.org
. Ebenfalls Mitglied ist sie im Council of Foreign Relations, im World Economic Forum und in der American Academy of Arts and Sciences. Vor kurzem bekam Novogratz den Forbes 400 Lifetime Achievement Award for Social Entrepreneurship verliehen.
Welches Buch (welche Bücher) verschenkst du am liebsten? Warum? Welche ein bis drei Bücher haben dein Leben am stärksten beeinflusst?
Invisible Man
von Ralph Ellison. Ich habe es gelesen, als ich 22 Jahre alt war, und es hat mich tief zum Nachdenken darüber gebracht, warum die Gesellschaft so viele ihrer Mitglieder nicht »sieht«. Mich erinnert das immer noch daran, dass ich aufmerksam sein, Menschen wahrnehmen sollte, wenn ich an ihnen vorbeigehe, und Hallo sagen sollte. Das klingt so einfach. Und es ändert alles.
Things Fall Apart
von Chinua Achebe. Das erste Buch von einem afrikanischen Autor, das ich gelesen habe. Achebe schreibt unerschrocken über die Herausforderungen des Wandels, Beziehungen aus dem Kolonialismus sowie über Macht und Machtlosigkeit. Das ist heute immer noch ausgesprochen relevant.
A Fine Balance
von Rohinton Mistry ist ein Dickens-artiger Roman, der auf außergewöhnlich und zutiefst menschlich Weise die Essenz davon erfasst, was es heißt, als armer Mensch im urbanen Indien zu leben. Obwohl ich viele Sachbücher gelesen und mehrere Jahre in Indien gearbeitet habe, hat er mir neue Schichten des Verständnisses erschlossen.
Welcher (vermeintliche?) Misserfolg war die Voraussetzung für deinen späteren Erfolg? Hast du einen »Lieblingsmisserfolg«?
Als ich 25 Jahre war, wollte ich die Welt retten und dachte, ich fange mit dem afrikanischen Kontinent an. Ich gab eine Karriere an der Wall Street auf, weil ich glaubte, ich hätte so viel mitzuteilen und so viel zu geben. Bald aber stellte ich fest, dass die meisten Menschen gar nicht gerettet werden wollen. Was ich am dringendsten brauchte, war moralische Fantasie oder die Fähigkeit, mich in andere hineinzuversetzen, zuzuhören und zu erkennen, dass es nur wenige einfache Lösungen gibt, dass aber der Aufbau von Vertrauen ein mächtiger Weg zu mehr Möglichkeiten ist. Eine der wichtigsten Lektionen meines Lebens war, ein Gleichgewicht zu finden (und zu halten) zwischen der Kühnheit, von einer anderen Welt zu träumen, und der Bescheidenheit, mit der Welt so zu beginnen, wie sie eben ist. Dieses Gleichgewicht ist eine wesentliche Führungsqualität für jeden, der Wandel bewirken möchte. Und heutzutage muss das für jeden von uns gelten.
Wenn du an einem beliebigen Ort ein riesiges Plakat mit beliebigem Inhalt aufhängen könntest, was wäre das und warum?
Mit Gewinn als der einzigen Motivation ist unserer interdependenten Welt von heute nicht mehr gedient. Wir müssen von einer Fokussierung auf Aktionäre zu einer Fokussierung auf alle Beteiligten kommen, eine langfristige Perspektive einnehmen und das messen, worauf es ankommt, nicht nur das, was wir zählen können. Das ist viel leichter gesagt als getan. Also haben wir bei Acumen ein Manifest erstellt, einen moralischen Kompass als Orientierung für unsere Entscheidungen und Aktivitäten. Es ist ein ehrgeiziges Dokument. Ich denke jeden Tag daran, kann es aber nicht immer erfüllen. Für ein Plakat ist es etwas zu lang, aber wenn wir es am richtigen Ort aufhängen und die Menschen dazu bringen könnten, nur einen Moment dafür innezuhalten, wäre das keine schlechte Sache. Hier ist der Text:
Es beginnt damit, bei den Armen zu stehen, auf die Stimmen der Ungehörten zu lauschen und Potenzial zu erkennen, wo andere nur Verzweiflung sehen. Es verlangt Investitionen als Mittel, nicht als Ziel, und den Wagemut, dorthin zu gehen, wo die Märkte versagt haben und die Hilfe nicht ausreicht. Es sorgt dafür, dass Kapital für uns arbeitet, statt uns zu kontrollieren. Es floriert durch moralische Fantasie: die Bescheidenheit, die Welt so zu sehen, wie sie ist, und den Wagemut, sich die Welt vorzustellen, wie sie sein könnte. Es geht um den Ehrgeiz, immer dazuzulernen, um die Klugheit, Scheitern einzugestehen, und um den Mut, von Neuem zu beginnen. Es erfordert Geduld und Freundlichkeit, Widerstandsfähigkeit und Durchhaltevermögen: eiserne Hoffnung. Es geht um Führung, die Selbstzufriedenheit ablehnt, Bürokratie durchbricht und Korruption angreift. Das Richtige tun, nicht das, was einfach ist. Es geht um die radikale Idee, Hoffnung in einer zynischen Welt zu schaffen. Darum, die Art und Weise zu verändern, wie die Welt mit Armut umgeht, und eine Welt aufzubauen, deren Basis Würde ist.
Alternativ könnte ich mir das wunderbare Mantra von Rilke ausleihen, »die Fragen zu leben« – eine einfache Erinnerung daran, den moralischen Mut zu haben, im Grauen zu leben, Unsicherheit auszuhalten, aber dabei nicht passiv zu sein. Lebe jetzt die Fragen. Vielleicht lebst du dann allmählich eines fernen Tages in die Antwort hinein …
Welchen Rat würdest du einem intelligenten, motivierten Studenten für den Einstieg in die »echte Welt« geben?
Mach dir nicht zu viele Gedanken über deinen ersten Job. Fang einfach an, und lass die Arbeit deinen Lehrer sein. Mit jedem Schritt wirst du mehr darüber entdecken, wer du sein und was du tun möchtest. Wenn du auf die perfekte Gelegenheit wartest und dir alle Optionen offen hältst, hast du am Ende womöglich nichts als Optionen. Also leg los.
Welche schlechten Ratschläge kursieren in deinem beruflichen Umfeld oder Fachgebiet?
»Sei gut, indem du Gutes tust.« Wer will gut sein, indem er Schlechtes tut? Wir müssen besser werden. Dieser Moment in der Geschichte verlangt, dass wir Sinn vor Gewinn stellen und dass wir die Tatsache ernster nehmen, dass wir über die Werkzeuge, die Vorstellungskraft und die Ressourcen verfügen, unsere schwierigsten Probleme zu lösen. Also ist es Zeit, damit anzufangen.
Was tust du, wenn dir alles zu viel wird, du nicht mehr fokussiert bist oder deine Konzentration nachlässt?
Ich gehe sehr lange joggen und erinnere mich selbst an die Schönheit der Welt, dass die Sonne auch morgen wieder aufgehen wird und daran, dass es darauf ankommt, die wichtigen Kämpfe zu kämpfen.