»Lasse niemals eine gute Krise ungenutzt verstreichen. Das Universum fordert dich damit auf, etwas Neues zu lernen und die nächste Stufe deines Potenzials zu erreichen.«
KRISTEN ULMER
ist eine Prozessbegleiterin (Facilitatorin), die es meisterlich versteht, altbekannte Normen über Angst infrage zu stellen. Sie war Buckelpistenfahrerin für das US-Skiteam und galt später als beste Extremskifahrerin der Welt – diesen Status hielt sie zwölf Jahre lang. Sie wurde für ihre waghalsigen Sprünge über Felsen und lebensgefährlichen Abfahrten berühmt und von bekannten Unternehmen wie Red Bull, Ralph Lauren und Nikon gesponsert. Ihre Arbeit und Auseinandersetzung mit dem Thema Angst wurde im Radio und in Printmedien wie dem Wall Street Journal
, der New York Times, Outside
und anderen Zeitschriften vorgestellt. Kristen schrieb das Buch The Art of Fear: Why Conquering Fear Won’t Work and What to Do Instead
.
Welche Anschaffung von maximal 100 Dollar hat für dein Leben in den letzten sechs Monaten (oder in letzter Zeit) die größte positive Auswirkung gehabt?
Meine Mutter war das jüngste von neun Kindern. Ihr Vater war ein jähzorniger Alkoholiker, und die Familie führte als Pachtbauern ein einfaches Leben. Sie wuchs mit massiven Geldproblemen auf. Die Armut steckt so tief in ihr, dass sie selbst mit 83 Jahren noch Gefrierbeutel auswäscht und wiederverwendet oder bei verschimmeltem Essen die betroffenen Stellen wegschneidet. Und … ich bin die Tochter meiner Mutter. Ich bin extrem geizig, was in Ordnung ist – das half mir, Millionärin zu werden –, aber ich denke, es hält mich momentan davon ab, finanziell den nächsten Schritt zu machen.
Wenn ich mich schlecht fühle, versuche ich anderen Leuten eine Freude zu bereiten. Dann stelle ich mich zum Beispiel vor ein Kino, um nach jemandem Ausschau zu halten, der eine Aufmunterung vertragen könnte, und ich bezahle seine Kinokarten, oder ich hinterlasse 50 Dollar als Trinkgeld in einer mexikanischen Imbissbude. Darüber freut sich nicht nur der andere, sondern auch ich, und meine Großzügigkeit wirkt sich auch auf andere, weniger offensichtliche Weise positiv auf mein Leben aus. Geld so auszugeben ist mein subtiler Versuch, mich von meiner Prägung zu befreien und meine anerzogenen Geldprobleme zu lösen.
Welcher (vermeintliche?) Misserfolg war die Voraussetzung für deinen späteren Erfolg? Hast du einen »Lieblingsmisserfolg«?
In diesem Zusammenhang fällt mir meine Zeit im US-Skiteam ein. Der Grund:
Es war nie mein Ziel gewesen, ins Nationalteam zu kommen. Ich hatte nur mit dem Buckelpistenfahren angefangen, um mit meinen Freunden coole Roadtrips zu unternehmen. Als ich also im Nationaldress an der Startlinie stand und mein Land im Weltcup repräsentierte, war ich wie in Schockstarre und hatte Angst.
Tausende johlender Fans beobachteten nun, wie ich Ski fuhr, Hunderte Kameras nahmen jede meiner Bewegungen auf, und ich hatte keine Ahnung, wie ich mit meiner Angst umgehen sollte. So nahm ich den schlechten Rat meiner wohlmeinenden Trainer, Freunde und Familie an, die mir sagten – du kennst die Sprüche –, ich solle die Angst kontrollieren, überwinden oder wegrationalisieren. Denke an etwas Schönes. Atme tief durch. Lass es los. Solche Sachen eben.
Damals wusste ich es noch nicht, aber seither habe ich erkannt, dass wir die Angst in etwa genauso gut kontrollieren können wie unsere Atmung. Also nicht besonders gut und nicht besonders lange.
Ich konnte mich so weit beruhigen, dass ich an den Start gehen und losfahren konnte, also schien es zu »funktionieren«, aber ich fuhr schlecht Ski. Wegen der Angst war ich nicht
im Fluss, deshalb war auch mein ganzes Leben nicht im Fluss, und so konnte ich nicht den Flow-Zustand erreichen, der für eine Weltklasseleistung notwendig ist. Mehr noch, ich wollte unbewusst das Team so sehr verlassen, dass ich mich später in der Saison (natürlich) verletzte. Ich war wegen der Verletzung sogar erleichtert, was verrückt ist. Ich machte die Angst für alles verantwortlich, obwohl in Wirklichkeit ich selbst schuld war, weil ich etwas kontrollieren wollte, das sich nicht kontrollieren lässt.
Ich habe jetzt erkannt, dass man seine Angst nicht besiegen kann. Man kann sie kurzfristig ausblenden, indem man sie in den »Keller« bzw. den Körper verdrängt, was das Gleiche ist. Dann muss man so viel Spannung aufbringen, um sie unten zu halten, dass 1) der Körper sehr steif und verletzungsanfällig wird und 2) der Körper, der kein Zwischenlager für unterdrückte Gefühle sein will, zu rebellieren beginnt.
Verletzungen sind aber nur ein Problem, mit dem man sich auseinandersetzen muss. Die unverarbeitete Angst lässt sich nicht leugnen. Immer wenn man seine Fassade fallen lässt, drängt die Angst stärker als je zuvor an die Oberfläche und äußert sich körperlich (anhaltende oder unbegründete Nervosität, Schlaflosigkeit usw.) oder psychisch (Angst, Depression, posttraumatische Belastungsstörung, Unsicherheit, schlechte Leistungen, Burn-out, Selbstvorwürfe, Rechtfertigungen usw.). Damit diese negativen Empfindungen weiterhin unterdrückt bleiben, muss man noch mehr Energie aufbringen, bis diese Anstrengung mit der Zeit das ganze Leben bestimmt.
Mein Umgang mit der Angst war ein kolossaler Misserfolg. Ich hätte stattdessen erkennen müssen, dass Angst kein Zeichen persönlicher Schwäche ist, sondern vielmehr ein natürlicher Zustand des Unbehagens, der auftritt, wenn man versucht, seine Komfortzone zu verlassen. Sie ist nicht dazu da, dich zu sabotieren, sondern will dich beleben, deine Konzentration schärfen, dich in den gegenwärtigen Augenblick bringen, dich in einen höheren Erregungszustand zu versetzen und aufmerksamer machen. Wenn du die Angst verdrängst, verzerrt sie sich und wird verrückt und irrational. Wenn du aber bereit bist, sie zu spüren und anzunehmen, wirst du ihre Stärke und Weisheit erkennen.
Was ist das beste oder lohnendste Investment, das du je getätigt hast (in Form von Geld, Zeit, Energie etc.)?
Als ich gerade in keiner Krise war, besuchte ich vor 14 Jahren ein intensives neuntägiges Retreat. Es nennt sich Nine Gates Mystery School. Das gibt es auch heute noch, und ich höre, dass es besser ist als je zuvor. (Ich empfehle übrigens, einmal im Jahr ein Bewusstseins-Retreat zu besuchen.) Nine Gates nahm meine damals noch unfertige Idee, hauchte ihr Leben
und Zuversicht ein und half mir, über meinen Tellerrand hinauszuschauen und das größere Gesamtbild zu sehen, weshalb ich dieser Veranstaltung einen Großteil meines heutigen Erfolgs zuschreibe.
Nine Gates ist ein 18-tägiges intensives Retreat, das aus zwei neuntägigen Sessions besteht. Wenn du dich zu einem Vipassana-Retreat hingezogen fühlst, aber zögerst, weil sich ständiges Schweigen für dich wie Folter anhört (was es für mich auch ist), solltest du Nine Gates in Erwägung ziehen. Ich vermute, dass es eine ähnlich erweckende Erfahrung bietet, nur ohne die Sitzmeditation.
Menschen neigen dazu, nur dann an sich zu arbeiten, wenn sie versuchen, aus einem Loch zu steigen, in das sie gefallen sind, und mir ging es nicht anders. Ich hatte mich nach einer schlimmen Trennung für das Event angemeldet, was in Ordnung ist. Oft sind es Krisen, die eine Entwicklung auslösen.
Als das Retreat anfing, ging es mir zwar wieder gut, aber ich ging trotzdem hin – wow. Einfach nur wow. Statt die Woche damit zu verbringen, den Schlamm aus den Augen zu wischen, richtete es meinen bereits glasklaren Blick auf den Gipfel, den ich erklimmen wollte, und ich konnte ganz klar erkennen, was ich mir als Nächstes im Leben wünschte. Ich verließ den Event und begann daraufhin, Skilager anzubieten, die ausschließlich aus Mentaltraining bestanden – weltweit die einzigen Sporttrainingslager (laut USA Today
), in denen nur an der geistigen Einstellung der Sportler gearbeitet wird.
Lasse niemals eine gute Krise ungenutzt verstreichen. Das Universum fordert dich damit auf, etwas Neues zu lernen und die nächste Stufe deines Potenzials zu erreichen.
Wenn ich mich aber nicht in einer Krise befinde, betrachte ich eine Aussage wie »Mein Leben ist toll« als faule Ausrede, eine Sackgasse, aus der wir nichts lernen können. Deshalb sollte man nicht auf eine Krise warten, bevor man anfängt, an sich selbst zu arbeiten. Gehe zur Eheberatung, wenn deine Ehe gut läuft. Was wird dann erst möglich? Engagiere einen Fitnesscoach, wenn du gerade in der Form deines Lebens bist. Engagiere einen Marketingexperten, wenn deine Marketingabteilung gerade wie eine gut geölte Maschine läuft. Und beobachte, was dann alles möglich wird.
Welches Buch (welche Bücher) verschenkst du am liebsten? Warum? Welche ein bis drei Bücher haben dein Leben am stärksten beeinflusst?
Meine beiden Lieblingsbücher sind: The Wisdom of the Enneagram
von Richard Riso und Russ Hudson. Dieses Buch bietet dir einen Bauplan deiner Persönlichkeit. Das ist wichtig. Sagen wir einmal, du erfährst, dass du ein Tiger bist. Dann weißt du, dass du es dir sparen kannst,
deine Streifen loswerden zu wollen, und kannst stattdessen anfangen, deine Stärken zu entwickeln. Oder wenn du ein Lamm bist – was weder besser noch schlechter als ein Tiger ist –, lernst du, dass du dein Leben nicht damit zubringen musst, etwas sein zu wollen, das du nicht bist, und kannst stattdessen daran arbeiten, das beste Lamm zu werden, das du sein kannst.
Mir ist das Buch so wichtig, dass ich nicht mit jemandem zusammensein oder ihn einstellen würde, wenn ich seinen Enneagramm-Typ nicht kennen würde. Es ist beinahe so, als bekäme man eine Bedienungsanleitung zu dieser Person, und damit beugt man jeder Verwirrung oder potenziellen Konflikten von Anfang an vor.
The Power of Now
von Eckhart Tolle. Ich wollte das Buch lesen, nachdem es mir in einer Woche von vier verschiedenen Leuten empfohlen wurde, deshalb kaufte ich es und begann zu lesen. Aber … ich fand es langweilig! Ich stellte es ins Bücherregal. Ein Jahr später entstaubte ich es und wieder … nichts. Also wieder zurück ins Bücherregal. Das geschah vier Jahre in Folge, bis ich im fünften Jahr wieder mit der Lektüre anfing und mir das Buch diesmal so gut gefiel, dass ich es regelrecht verschlang.
Es entfaltet eine so starke Kraft, weil es nichtduale Zustände darstellt – etwas Größeres als meine eigene, persönliche, eingeschränkte Weltsicht. Tolle nennt es das »Jetzt«, ich nenne es mein »verbundenes Selbst« oder das »Unendliche«. Im Sport nennen wir diese Realität »die Zone« oder »im Flow sein«. Im Zen heißt sie Erleuchtung. Jede spirituelle Tradition hat einen eigenen Namen für diesen Ort.
Ich beurteile meine Lebensqualität danach, wie oft ich diesen höheren Bewusstseinzustand erreiche. Als Anhängerin des Zen-Buddhismus weiß ich, dass man sich nicht dauerhaft in diesem Zustand aufhalten kann, obwohl Tolle vom Gegenteil überzeugt ist, aber es ist für uns sehr wichtig, im Laufe des Lebens damit in Berührung zu kommen. In solchen Momenten erreicht man eine tiefe Einsicht und sieht, selbst für einen kurzen Augenblick, wer und was man ist, und man erkennt das Wesen dessen, was außerhalb unseres eigenen Verstands liegt. Das ist auch der Ort, an dem die besten Ideen entstehen. Aber dieser Zustand wird dich nicht finden; du musst ihn finden. Dieses Buch hilft dir dabei.
Welche schlechten Ratschläge kursieren in deinem beruflichen Umfeld oder Fachgebiet?
Gesprächstherapie. Über Angst zu reden und nachzudenken ist eine gute Sache – wer redet nicht gerne eine Stunde nur über sich selbst? Aber man bleibt dadurch in einer Gedankenschleife gefangen, vielleicht jahrzehntelang. Emotionale Probleme müssen emotional, nicht intellektuell behandelt werden.
Wozu kannst du heute leichter Nein sagen als vor fünf Jahren? Welche neuen Erkenntnisse und/oder Ansätze haben dir dabei geholfen?
Wenn man über 40 Jahre alt ist, überlegt man sich dreimal, mit wem man seine Zeit verbringt. Jahrzehntelang hatte ich mehrere Freunde, die ich kennengelernt hatte, als ich zwischen 20 und 30 Jahre alt war, und damals fühlte ich mich zu verrückten, exzentrischen Leuten hingezogen. Aber jetzt, mit über 40, konnte ich nichts mehr mit ihnen anfangen. Manche von ihnen behandelten sich selbst und auch mich sehr schlecht. Sollte ich also die Freundschaft aufrechterhalten – weil das bequemer war, ich sie schon so lange kannte und nicht verletzen wollte – oder Nein zu diesen toxischen Freundschaften sagen und sie beenden?
Ich beschloss zu gehen. Es war alles andere als leicht, aber ich stellte nach und nach den Kontakt zu meinen fünf besten Freunden ein und schließlich auch zu Hunderten von Bekannten. So befreite ich mich von der Person, die ich früher einmal war, und konnte herausfinden, um welche Teile meiner Persönlichkeit ich mich künftig besser kümmern wollte. Das war natürlich eine einsame Sache. Ich muss immer noch eine neue beste Freundin finden, obwohl ich seit acht Jahren auf der Suche bin und nicht mehr auf so viele Partys gehe. Aber die Partys, die ich besuche, und die Leute, die ich dort kennenlerne, sind stets faszinierende neue Erfahrungen, aus denen ich viel Energie gewinne.
Freundschaften sollten dein Wachstum fördern und dich nicht behindern. Beende die Kontakte, die dich zurückhalten, und schau einfach, zu welchen Leuten es dich nun zieht. Ich glaube, dass jeder, zu dem du dich heute hingezogen fühlst, die Qualitäten besitzt, die du in dir entwickeln willst.
[
Anmerkung von Tim:
Ich fragte Kristen, was sie genau tat, um den Kontakt zu ihren Freunden einzustellen, und sie schickte mir eine ausführliche, vierseitige Anleitung. Diese ist kostenlos auf
tim.blog/kristen
erhältlich.]
Was tust du, wenn dir alles zu viel wird, du nicht mehr fokussiert bist oder deine Konzentration nachlässt?
Ich nehme diese Zustände ernst, höre auf zu arbeiten und mache »nichts«, obwohl ich in Wirklichkeit natürlich etwas mache (Spazierengehen, Dehnübungen, einen Film anschauen). Ich beschäftige mich mit diesen Dingen, so lange ich es für nötig halte, und das kann einige Stunden oder Tage dauern, bis meine Motivation wieder zurückgekehrt ist.
Wenn ich aber einen dringenden Abgabetermin habe, nehme ich mir nur fünf Minuten, um »nichts« zu tun. In diesen fünf Minuten mache ich dann aber wirklich gar nichts
. Ich werde mir der Tatsache bewusst, dass ich unkonzentriert bin und mich überfordert fühle. Vielleicht
dusche ich mich heiß und lasse das Wasser an mir herunterlaufen, während ich darüber stöhne, wie überfordert ich mich fühle. Das ist wunderbar. Oder ich finde die Katze, vergrabe meinen rastlosen Geist in ihren weichen Bauch und genieße einfach, wie groß und dumm ich in diesem Augenblick einfach bin.
Es ist nicht nur eine Wohltat, sich so der gegenwärtigen Realität zu ergeben, diese Handlungen besitzen – Überraschung!
– auch die große Fähigkeit, eine andere Realität zu eröffnen, ohne dass ich dies erzwingen muss. Normalerweise bin ich dann nach fünf Minuten körperlich erfrischt und bereit weiterzumachen.
Würdige deine gegenwärtige mentale Verfassung, indem du keine andere Realität erzwingst, sondern die bestehende annimmst. Das ist sehr Zen-artig. Sei traurig, wenn du traurig bist. Habe Angst, wenn du Angst hast. Fühle dich überfordert, wenn du dich überfordert fühlst. Und wenn du unkonzentriert bist – kannst du dann einen Weg zu finden, diesen Zustand einfach stehen zu lassen und ihn vielleicht sogar zu genießen?
Wie Wasser durch einen Gartenschlauch fließen diese Zustände in, durch und aus deinem Leben. Wenn du sie hinnimmst und nicht zu verändern versuchst, wird diese Realität immer ihren Lauf nehmen, und wenn sie vergangen ist, wird genügend Platz für etwas anderes da sein.
Welche Überzeugungen, Verhaltensweisen oder Gewohnheiten, die du dir in den letzten fünf Jahren angeeignet hast, haben dein Leben am meisten verbessert?
Weil ich davon überzeugt bin, dass meine Beziehung zur Angst die wichtigste in meinem Leben ist, verbringe ich mittlerweile mindestens zwei Minuten am Tag mit meiner sogenannten Angstübung.
Gleich nach dem Aufwachen, bevor ich aufstehe, scanne ich meinen Körper und schätze meine Stimmung ein. Mich interessiert vor allem, wie viel Angst ich spüre (die immer da ist, ob wir es zugeben wollen oder nicht) und wo sie in meinem Körper sitzt.
Angst ist ein Gefühl des Unbehagens. Sie kann sich auf bekannte Weise als Unruhe, Stress oder Nervosität äußern (was alles so ziemlich dasselbe ist) oder vielleicht mehr als Wut oder Trauer (die mit Angst verbunden sein kann, wenn diese verdrängt wird). Wenn wir den Eindruck haben, dass sie eher geistiger Natur ist, liegt das daran, dass wir sie nicht emotional, sondern intellektuell verarbeiten, und das ist nie eine gute Idee. Ich lokalisiere das Gefühl in meinem Körper – manchmal steckt sie in meinem Kiefer oder in den Schultern, manchmal in der Stirn. Dann gehe ich einen ein- bis zweiminütigen dreistufigen Prozess durch:
1.
Ich konzentriere mich 15 bis 30 Sekunden darauf, dass es ganz natürlich ist, dieses Unbehagen zu spüren. Vielleicht muss ich einen wichtigen Vortrag halten oder eine Abgabefrist einhalten. Man soll ja auch Angst haben, wenn viel auf dem Spiel steht – okay? Diese Tatsache anzuerkennen kann lebensverändernd sein.
2.
In den nächsten 15 bis 30 Sekunden setze ich mich damit auseinander, wie meine aktuelle Beziehung zu diesem Unbehagen ist. Wenn meine Nervosität im Bezug auf die Situation unverhältnismäßig ist oder auf andere Weise irrational zu sein scheint, heißt das, dass ich die Angst zuvor ignoriert habe und sie sich jetzt lauter oder auf andere Weise Gehör verschaffen will. In diesem Fall schenke ich ihr meine volle Aufmerksamkeit und frage mich, was sie mir sagen will und ich noch nicht anerkannt habe (z. B.: »Einen neue Vortrag entwerfen; der aktuelle taugt nichts« oder: »Du hast vergessen, deine Mutter anzurufen«). Weil Angst ein hervorragender Lehrmeister ist, nutze ich die Zeit mit ihr, um alles über sie zu erfahren und sie wie eine Orange auszupressen.
3.
Dann nehme ich mir so viel Zeit, wie ich brauche, um sie zu spüren. Das ist wichtig: ich versuche nicht, sie loszuwerden. Darum geht es nicht, und außerdem wäre es der Angst gegenüber respektlos. Entscheidend ist, sie zu spüren, indem ich Zeit mit ihr verbringe, wie mit einem Hund, Freund oder Partner. Normalerweise dauert das etwa 30 bis 60 Sekunden. Nachdem die Angst gewürdigt und erhört wurde, verschwindet sie oft.
Wenn ich mich im Laufe des Tages nervös oder aufgebracht fühle, wiederhole ich diesen Prozess. Meine Klienten haben auch eine Angstübung, und die Ergebnisse können erstaunlich sein. Nach etwa einer Woche verschwinden oft nicht nur ihre Angst und Nervosität, viele andere Probleme wie Schlaflosigkeit, Depression, posttraumatische Belastungsstörung und Wut lösen sich auf. Wenn man diese Übung konsequent eine Woche und länger praktiziert, fängt man an zu spüren, welche reinigende Wirkung, Energie und Kraft von ihr ausgeht.
Ich habe keine Dankbarkeits-, Friedens- oder Versöhnungsübung, die in Amerika zurzeit sehr beliebt sind. Für mich ist das so, als würde man sich von einer Wahrheit abwenden, die an die Oberfläche zu steigen versucht, und eine Lüge erzwingen. Als würde man eine Wunde mit einem Pflaster überkleben, damit man sie nicht sehen muss. Was ein Problem ist, weil sich diese Wunde entzünden kann, wenn man sich nicht um sie kümmert.
Stattdessen wende ich mich meiner Aufmerksamkeit zu und versuche mithilfe dieser Angstübung, ehrlich zu mir selbst zu sein. Ich nehme mein Unbehagen, meine Angst, Trauer, Wut oder andere Dinge wahr, die unangenehm erscheinen – und zwar alle –, und diese Auseinandersetzung ist nicht nur sehr aufschlussreich, sondern auch erstaunlich befreiend, auch wenn man das niemals erwarten würde.