»Guten Tag. Ich heiße Daniele Carradori.«
»Marco Carrera, guten Tag.«
»Mein Name sagt Ihnen nichts?«
»Sollte er?«
»Ja, sollte er.«
»Sagen Sie ihn mir bitte noch einmal?«
»Daniele Carradori.«
»Ist das der Name des Psychoanalytikers meiner Frau?«
»Richtig.«
»Oh. Entschuldigen Sie, aber ich dachte, ich wäre Ihnen nie begegnet. Nehmen Sie Platz. Was kann ich für Sie tun?«
»Mich anhören, Doktor Carrera. Und nachdem ich Ihnen gesagt habe, was ich Ihnen zu sagen habe, wenn möglich darauf verzichten, mich bei der Ärztekammer oder, schlimmer noch, bei der Italienischen Psychoanalytischen Gesellschaft anzuzeigen, was Ihnen als Kollege durchaus möglich wäre.«
»Sie anzeigen? Warum denn?«
»Weil das, was ich tun werde, verboten ist und in meinem Beruf streng bestraft wird. Ich habe nie auch nur im Entferntesten daran gedacht, so etwas in meinem Leben zu tun, und auch nicht geglaubt, so etwas auch nur in Erwägung zu ziehen, aber ich habe Grund zu der Annahme, dass Sie sich in großer Gefahr befinden, und ich bin die einzige Person auf der Welt, die das weiß. Daher habe ich beschlossen, Sie zu informieren, auch wenn ich dadurch gegen eine der grundlegenden Regeln meines Berufs verstoße.«
»Donnerwetter! Ich höre.«
»Vorher muss ich Sie allerdings um einen Gefallen bitten.«
»Stört Sie die Musik?«
»Welche Musik?«
»Nein, nichts. Worum müssen Sie mich bitten?«
»Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen, nur zur Bestätigung der Dinge, die mir über Sie und Ihre Familie gesagt wurden, und um auszuschließen, dass man mir ein falsches Bild von Ihnen gegeben hat, was mir ziemlich unwahrscheinlich vorkommt, aber trotzdem nicht ausgeschlossen werden kann. Verstehen Sie?
»Ja.«
»Ich habe mir Notizen gemacht. Bitte antworten Sie nur mit Ja oder Nein.«
»Okay.«
»Ich beginne?«
»Ja, beginnen Sie.«
»Sie sind Doktor Carrera, vierzig, aufgewachsen in Florenz, Abschluss in Medizin und Chirurgie an der Universität La Sapienza in Rom und Facharzt für Augenheilkunde?«
»Ja.«
»Sohn von Letizia Delvecchio und Probo Carrera, beide Architekten, beide in Rente, wohnhaft in Florenz?«
»Ja. Aber mein Vater ist Ingenieur.«
»Oh, okay. Bruder von Giacomo, etwas jünger als Sie, wohnhaft in Amerika und, entschuldigen Sie, von Irene, ertrunken Anfang der achtziger Jahre?«
»Ja.«
»Verheiratet mit Marina Molitor, slowenischer Herkunft, Fluggastbetreuerin am Boden der Lufthansa?«
»Ja.«
»Vater von Adele, zehn, die in die fünfte Klasse einer öffentlichen Schule in der Nähe des Kolosseums geht?«
»Die Vittorino da Feltre, ja.«
»Und die im Alter von drei bis sechs Jahren überzeugt war, einen Faden am Rücken zu haben, was Sie als Eltern veranlasst hat, sich an einen Spezialisten für Kinderpsychologie zu wenden?«
»Den Zauberer Manfrotto …«
»Wie bitte?«
»Nein, so ließ er sich von den Kindern nennen. Aber das Problem mit dem Faden hat nicht er gelöst, auch wenn Marina das immer noch glaubt.«
»Ich verstehe. Dann ist es also richtig, dass Sie sich an einen Spezialisten für Kinderpsychologie gewandt haben?«
»Ja, aber ich verstehe nicht, was das …«
»Sie verstehen, warum ich Ihnen diese Fragen stelle, nicht wahr? Ich habe nur eine Quelle, und ich überprüfe, ob sie zuverlässig ist. Das bin ich meinem Gewissen schuldig, angesichts dessen, was ich Ihnen zu sagen habe.«
»Okay. Und was haben Sie mir zu sagen?«
»Noch ein paar Fragen, wenn Sie erlauben. Es werden etwas intimere Fragen sein, und ich bitte Sie, mit der größten Aufrichtigkeit zu antworten. Fühlen Sie sich dazu in der Lage?«
»Ja.«
»Sie spielen um Geld, ist das richtig?«
»Na ja, jetzt nicht mehr.«
»Aber man kann behaupten, dass Sie in der Vergangenheit um Geld gespielt haben?«
»Ja. In der Vergangenheit schon.«
»Und ist es richtig, dass Sie bis zum Alter von 14 Jahren sehr viel kleiner als Ihre Altersgenossen waren, so dass Ihre Mutter Sie der Kolibri nannte?«
»Ja.«
»Und dass Ihr Vater Sie mit 14 nach Mailand gebracht hat, um Sie einer experimentellen Hormonbehandlung zu unterziehen, durch die Sie eine normale Größe erreichten, indem Sie innerhalb von weniger als einem Jahr um fast 16 Zentimeter gewachsen sind?«
»Innerhalb von acht Monaten, ja.«
»Und ist es richtig, dass Ihre Mutter dagegen war, dass sie wollte, dass Sie klein blieben, und dass es das einzige Mal war, dass Ihr Vater, indem er Sie nach Mailand brachte, in der Ausübung seiner elterlichen Gewalt Autorität bewiesen hat, da er in Ihrer Familie, entschuldigen Sie, dass ich die genauen Worte benutze, mit denen mir die Sache erzählt wurde, einen Scheißdreck zählt?«
»Ah! Das ist nicht richtig, aber wenn man bedenkt, wer Ihnen diese Dinge gesagt hat, ja, Marina ist immer davon überzeugt gewesen.«
»Ist es nicht richtig, dass Ihre Mutter dagegen war oder dass Ihr Vater einen Scheißdreck zählt?«
»Es ist nicht richtig, dass mein Vater einen Scheißdreck zählt. Das ist nur der Eindruck, den so viele immer gehabt haben, vor allem Marina. Sie und mein Vater sind so unterschiedliche Charaktere, dass meist …«
»Sie brauchen mir nichts zu erklären, Doktor Carrera. Sagen Sie einfach nur ja oder nein, einverstanden?«
»Einverstanden.«
»Ist es richtig, dass Sie immer verliebt gewesen sind und seit vielen Jahren eine Beziehung unterhalten mit einer Frau namens Luisa Lattes, aktuell wohn…«
»Was? Wer sagt das?«
»Raten Sie.«
»Ach! Das ist unmöglich, Marina kann Ihnen nicht gesagt haben, dass …«
»Antworten Sie bitte einfach nur mit ja oder nein. Und versuchen Sie, aufrichtig zu sein, damit ich die Glaubwürdigkeit meiner Quelle einschätzen kann. Sind Sie noch verliebt, oder könnten Sie Ihrer Frau den Eindruck vermittelt haben, noch in diese Luisa Lattes verliebt zu sein, ja oder nein?«
»Natürlich nein!«
»Dann treffen Sie sie also nicht heimlich während Fachtagungen, an denen Sie in Frankreich oder Belgien oder Holland teilnehmen, oder an Orten, die nicht allzu weit von Paris entfernt sind, wo die Lattes wohnt? Und auch nicht im Sommer in Bolgheri, wo Sie den Monat August in zwei benachbarten Ferienhäusern verbringen?«
»Das ist doch lächerlich! Wir sehen uns jeden Sommer am Strand mit unseren Kindern, und vielleicht sprechen wir auch miteinander, aber wir haben niemals daran gedacht, ›eine Beziehung zu unterhalten‹, wie Sie sagen, und erst recht nicht, uns heimlich zu treffen, wenn ich eine Tagung besuche.«
»Hören Sie, ich bin nicht hier, um über Sie zu urteilen. Ich versuche nur zu verstehen, ob das, was mir über Sie gesagt worden ist, richtig ist oder nicht. Es ist also nicht richtig, dass Sie diese Frau heimlich treffen?«
»Ja, das ist nicht richtig.«
»Und Sie schließen aus, dass Ihre Frau davon überzeugt sein kann, obwohl es nicht richtig ist?«
»Natürlich schließe ich das aus! Sie sind sogar Freundinnen geworden. Sie reiten zusammen aus, nur sie beide allein; sie überlassen die Kinder uns Männern und reiten den ganzen Vormittag in der Gegend herum.«
»Das beweist gar nichts. Man kann sich mit einer Person anfreunden und sie jeden Tag sehen, gerade weil man krankhaft eifersüchtig ist.«
»Ja, aber das ist nicht der Fall, glauben Sie mir. Marina ist auf niemanden krankhaft eifersüchtig, ich bin ihr treu, und das weiß sie sehr gut. Und würden Sie mir jetzt bitte sagen, warum ich in Gefahr bin?«
»Dann schreiben Sie sich also nicht seit Jahren Briefe, Sie und diese Luisa Lattes?«
»Nein!«
»Liebesbriefe?«
»Natürlich nicht!«
»Sind Sie aufrichtig, Doktor Carrera?«
»Natürlich!«
»Ich frage Sie noch einmal: Sind Sie aufrichtig?«
»Natürlich bin ich aufrichtig! Wollen Sie mir etwa sagen …«
»Dann muss ich mich entschuldigen, aber gegen meine Überzeugungen, die fundiert waren, das versichere ich Ihnen, sonst wäre ich nicht gekommen, ist Ihre Frau nicht aufrichtig zu mir gewesen, und daher sind Sie nicht mehr in Gefahr, wie ich glaubte, weswegen ich Sie auch nicht länger belästigen werde. Ich bitte Sie, meinen Besuch zu vergessen und mit niemandem darüber zu reden.«
»Was ist los? Warum stehen Sie auf? Wohin gehen Sie?«
»Ich bitte Sie noch einmal um Entschuldigung, ich habe die Angelegenheit völlig falsch eingeschätzt. Auf Wiedersehen. Ich kenne den Weg …«
»Halt, so geht das nicht! Sie können nicht einfach so hierherkommen, mir sagen, dass ich in großer Gefahr bin aufgrund von irgendwelchen Dingen, die meine Frau Ihnen gesagt hat, mich ins Kreuzverhör nehmen und dann gehen, ohne mir etwas zu sagen! Jetzt reden Sie, oder ich zeige Sie bei der Ärztekammer an!«
»Bitte beruhigen Sie sich. Die Wahrheit ist, dass ich nicht hätte herkommen dürfen, und damit Schluss. Ich habe immer gedacht, ich könnte glauben, was Ihre Frau mir von sich und von Ihnen erzählte, und habe mir eine genaue Vorstellung von der Störung gemacht, unter der sie leidet, weil ich ihr immer geglaubt habe. Infolgedessen habe ich angesichts einer Situation, die ich für sehr ernst gehalten habe, geglaubt, ich müsste außerhalb der Grenzen handeln, die mir vom Pflichtenkatalog meines Berufs gesetzt sind, aber jetzt sagen Sie mir, dass Ihre Frau hinsichtlich einer so grundsätzlichen Sache nicht aufrichtig zu mir gewesen sei, und wenn das so ist, dann ist sie es auch in Bezug auf viele andere Dinge nicht gewesen, einschließlich derjenigen, die mich haben glauben lassen, dass Sie in Gefahr seien. Ich wiederhole, es war mein Fehler, und ich kann mich nur noch einmal dafür entschuldigen, aber seit Ihre Frau nicht mehr zu mir kommt, frage ich mich …«
»Was denn? Meine Frau kommt nicht mehr zu Ihnen?«
»Ja.«
»Und seit wann?«
»Seit mehr als einem Monat.«
»Sie scherzen.«
»Wussten Sie das nicht?«
»Nein, das wusste ich nicht.«
»Sie kommt nicht mehr seit der Sitzung am … am 16. September.«
»Aber sie sagt mir, dass sie weiterhin zu Ihnen geht. Dienstags und donnerstags um Viertel nach drei hole ich wie immer Adele von der Schule ab, weil Marina einen Termin bei Ihnen hat. Auch heute Nachmittag hätte sie zu Ihnen gehen sollen.«
»Dass sie Sie belügt, wundert mich nicht besonders, Doktor Carrera. Das Problem ist, dass sie auch mich belogen hat.«
»Na ja, sie hat Sie in einem Punkt belogen. Und, Entschuldigung, sind denn für Sie die Lügen nicht aufschlussreicher als die Wahrheit, die sie verbergen?«
»Für wen Sie?«
»Na für Sie Analytiker. Ist es nicht so, dass Ihnen alles nützt, Wahrheit und Lügen, et cetera, et cetera?«
»Und wer sagt das?«
»Na ja, ich weiß nicht, Sie … die Psychoanalytiker. Die Psychoanalytiker. Nein? Von klein auf bin ich von Leuten umgeben, die eine Therapie machen, und ich habe immer gehört, dass, na ja, das Setting, die Übertragung, die Träume, die Lügen, alles seine Bedeutung hat, gerade weil die Wahrheit, die der Patient verschweigt, sich darin verbirgt. Oder nicht? Wo ist das Problem, dass Marina sich jetzt etwas erfunden hat?«
»Wenn das über Luisa Lattes nur in ihrer Phantasie existiert, dann ändert das alles, dann ist Ihre Frau in Gefahr.«
»Aber warum? Was für eine Gefahr?«
»Hören Sie, es tut mir sehr leid, aber es gibt keinen Grund mehr, dass ich mit Ihnen spreche. Und sagen Sie Ihrer Frau nicht, dass ich hier war, ich flehe Sie an.«
»Was veranlasst Sie zu der Annahme, dass ich Sie gehen lasse nach allem, was Sie mir gesagt haben? Ich verlange, dass Sie mir jetzt …«
»Lassen Sie es gut sein, Doktor Carrera. Zeigen Sie mich ruhig bei der Ärztekammer an, wenn Ihnen danach ist. Im Übrigen verdiene ich es in Anbetracht des Fehlers, den ich gemacht habe. Aber Sie können mich nicht zwingen, Ihnen zu sagen, was …«
»Hören Sie, das ist keine Phantasie.«
»Was sagen Sie?«
»Was Marina über Luisa Lattes gesagt hat, ist keine Phantasie. Es stimmt, wir sehen uns, wir schreiben uns. Allerdings ist es keine Beziehung, und vor allem keine eheliche Untreue; es ist etwas zwischen uns, das ich überhaupt nicht benennen und auch nicht verstehen kann, wie Marina es anscheinend tut.«
»Sind Sie noch in sie verliebt?«
»Hören Sie, das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass …«
»Verzeihen Sie mir, dass ich darauf bestehe: Sind Sie noch in sie verliebt?«
»Ja.«
»Haben Sie sich im vergangenen Juni in Lovanio gesehen?«
»Ja, aber …«
»Vor ein paar Jahren hat sie Ihnen in einem Brief geschrieben, dass ihr die Art gefällt, wie Sie sich vom Ufer aus ins Wasser stürzen?«
»Ja, aber wie …«
»Haben Sie ein Keuschheitsgelübde abgelegt, das heißt, keinen Sex zu haben, auch wenn Sie es sich wünschen?«
»Ja, aber wirklich, wie kommt es, dass Marina diese Dinge weiß? Und warum sagen Sie mir nicht geradeheraus, was Sie mir zu sagen haben? Wir sind verheiratet, verdammt, wir haben eine Tochter!«
»Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber Ihre Ehe ist schon seit geraumer Weile am Ende, Doktor Carrera. Und schon bald wird es ein weiteres Kind geben, aber es wird nicht von Ihnen sein.«