Während seiner ganzen Kindheit hatte Marco Carrera nichts bemerkt. Er hatte nichts mitbekommen von den Streitereien zwischen seiner Mutter und seinem Vater, von ihrer Ungeduld, von seinem unerträglichen Schweigen, von den nächtlichen Diskussionen, die flüsternd ausgetragen wurden, damit die Kinder sie nicht hörten, die aber doch von seiner älteren Schwester Irene aufmerksam mitangehört und mit masochistischer Genauigkeit im Gedächtnis gespeichert wurden; er hatte nichts mitbekommen von den Gründen für diese Streitigkeiten, diese Ungeduld, diese Ehekräche, die für seine Schwester dagegen so klar gewesen waren, und daher hatte er nicht bemerkt, dass seine Mutter und sein Vater, obwohl beide déracinés, Entwurzelte (sie, Letizia — ein ironischer Name —, Apulierin aus dem Salento; er, Probo — nomen est omen — aus der Provinz Sondrio), nicht füreinander geschaffen waren und praktisch nichts gemeinsam hatten. Möglicherweise gab es sogar keine zwei Personen auf der ganzen Welt, die verschiedener gewesen wären — sie Architektin, ganz Denken und Revolution, er Ingenieur, ganz Berechnung und Fingerfertigkeit, sie erfasst vom Strudel der radikalen Architektur, er der beste Entwickler von Kunststoffen Mittelitaliens —, und daher hatte er nicht bemerkt, dass hinter der Fassade des bescheidenen Wohlstands, in dem er und seine Geschwister aufgezogen wurden, ihre Ehe gescheitert war und nur Verbitterung und Anschuldigungen und Provokationen und Demütigungen und Schuldgefühle und Groll und Resignation hervorbrachte, mit anderen Worten, er hatte nicht bemerkt, dass seine Eltern sich nicht mehr liebten, zumindest nicht in der geläufigen Bedeutung des Verbs »sich lieben«, das Gegenseitigkeit voraussetzt, da es in ihrer Verbindung zwar Liebe gab, jedoch als Einbahnstraße, empfunden nur von ihm für sie, eine unglückliche Liebe also, heroisch, hündisch, irreduzibel, unsagbar, selbstzerstörerisch, die seine Mutter nie anzunehmen und zu erwidern, andererseits aber auch nicht zurückzuweisen vermocht hatte, da es offensichtlich war, dass kein anderer Mann auf der Welt sie je so hätte lieben können, und dass sie auf diese Weise zu einem Tumor geworden war, zu einer bösartigen und wuchernden Raumforderung, die seine Familie von innen her zerfraß und in dem Unglück festhielt, in dem Marco, ohne es zu bemerken, aufgewachsen war. Er hatte nicht bemerkt, dass die fieberhaften Tätigkeiten seiner Mutter — Architektur, Design, Fotografie, Yoga, Psychoanalyse — nur Versuche waren, das Gleichgewicht zu finden, und auch nicht, dass eine dieser Tätigkeiten darin bestand, seinen Vater, wenn auch ungeschickt, mit Männern zu betrügen, die sie unter den Intellektuellen aufgabelte, die damals vielleicht zum letzten Mal in der Geschichte der Stadt Florenz internationales Ansehen verliehen, den »Hirten der Monster« des Superstudios und von Archizoom und ihren Gefolgsleuten, denen sie sich zurechnete, obwohl sie aus einer wohlhabenden Familie stammte, was ihr erlaubte, sich den Initiativen ihrer jungen Idole zu widmen, ohne eine Lira zu verdienen. Er hatte nicht bemerkt, dass sein Vater von dieser ehelichen Untreue wusste. Er, Marco Carrera, hatte nichts bemerkt, seine ganze Kindheit hindurch nicht, und nur deshalb hatte er eine glückliche Kindheit gehabt. Ja mehr noch: Da er nicht, wie seine Schwester, an seinem Vater und seiner Mutter gezweifelt hatte, da er nicht wie sie sofort begriffen hatte, dass sie keineswegs musterhafte Beispiele waren, nahm er sie sich sogar zum Vorbild und eiferte ihnen nach, indem er sich aus einer verschlungenen Mischung aus Eigenschaften formte, die er sich vom einen wie von der anderen entlieh — die gleichen, die sich in ihrem Versuch, eine Ehe zu führen, als unvereinbar erwiesen hatten. Was hatte er in seiner Kindheit von seiner Mutter übernommen, während er nichts bemerkt hatte? Was von seinem Vater? Und was hätte er letztlich umgekehrt für sein ganzes Leben wegen der einen und des anderen abgelehnt, nachdem er sich all dessen bewusst geworden wäre? Von seiner Mutter hatte er die Unrast übernommen, aber nicht die Radikalität; die Neugier, aber nicht die Angst vor Veränderung. Von seinem Vater die Geduld, aber nicht die Vorsicht, die Neigung zu ertragen, aber nicht die zu schweigen. Von ihr die Begabung des Blicks, vor allem durch den Sucher der Kameras. Vom Vater das Geschick mit den Händen. Außerdem hatte, da die enorme Distanz zwischen seinem Vater und seiner Mutter plötzlich keine Rolle mehr spielte, wenn es darum ging, die Gegenstände auszuwählen, die Tatsache, dass sie in diesem Haus aufgewachsen waren (das heißt, sich von Geburt an auf diese Stühle gesetzt hatten, in diesen Sesseln und diesen Sofas eingeschlafen waren, an diesen Tischen gegessen, an diesen Schreibtischen gelernt hatten, im Licht dieser Lampen, umgeben von diesen Bücherregalen et cetera), ihnen ein gewisses arrogantes Überlegenheitsgefühl vermittelt, das für bestimmte bürgerliche Familien der sechziger und siebziger Jahre typisch war; das Gefühl, wenn auch nicht in der besten aller möglichen Welten zu leben, so doch zumindest in der schönsten — eine Vorrangstellung, für die die von seinem Vater und seiner Mutter angehäuften Dinge der Beweis waren. Daher, und nicht aus Sentimentalität, würde es Marco Carrera, auch als ihm all das bewusstgeworden war, was in seiner Familie nicht geklappt hatte, und sogar als es seine Familie praktisch nicht mehr gab, immer schwerfallen, sich von den Gegenständen zu trennen, die ihn umgeben hatten: weil sie schön waren, immer noch schön waren, für immer schön waren — und diese Schönheit war die Spucke gewesen, die seinen Vater und seine Mutter zusammengehalten hatte. Nach ihrem Tod würde er sie sogar inventarisieren müssen, diese Gegenstände, einen nach dem anderen, mit der schmerzlichen Aussicht, sie zusammen mit dem Haus an der Piazza Savonarola zu verkaufen (sein Bruder, der sich hartnäckig an die Entscheidung klammerte, nie mehr nach Italien zurückzukehren, würde am Telefon von »Entsorgen« sprechen), mit dem genau gegenteiligen Ergebnis allerdings, dass er sie sich bis ans Ende seiner Tage ans Bein band.
Andererseits machte die manische Ordnung, auf die er bei all seinen Dingen achtete — ohne sie, das muss gesagt werden, von anderen zu verlangen, aber dennoch absolut, einschüchternd und letztlich gewalttätig —, aus ihm eine mit Verachtung gestrafte schlampige Person, während die Mutter für seine unbezwingbare Aversion gegen die Psychoanalyse verantwortlich war, die sich als entscheidend in seinen Beziehungen mit den Frauen erweisen sollte, da das Schicksal wollte, dass alle Frauen in seinem Leben, angefangen natürlich mit seiner Mutter und seiner Schwester Irene, und dann immer so weiter Freundinnen, Verlobte, Kolleginnen, Ehefrauen, Töchter, dass alle, wirklich alle stets von unterschiedlichen Arten von Psychotherapie geleitet werden sollten, was ihm als Sohn, Bruder, Freund, Verlobter, Kollege, Ehemann und Vater seine ursprüngliche Intuition bestätigte: Die »passive Psychoanalyse«, wie er sie nannte, war sehr schädlich. Niemand von ihnen kümmerte sich jedoch darum, nicht einmal, als er begonnen hatte, sich darüber zu beschweren. Schäden, wurde ihm gesagt, gebe es in jeder Familie und jeder Art von Beziehung, egal welcher; die Psychoanalyse verantwortlich zu machen für — sagen wir — die Schachleidenschaft sei ein Vorurteil. Vielleicht hatten sie ja recht, doch der Preis, den Marco Carrera für diese Schäden zahlen sollte, würde dazu führen, dass er sich im Recht fühlte, die Sache so zu sehen: Die Psychoanalyse war wie das Rauchen, es reichte nicht, sie nicht zu praktizieren, man musste sich auch vor denen schützen, die sie praktizierten. Allerdings war die einzige bekannte Möglichkeit, sich vor der Psychoanalyse der anderen zu schützen, selbst zur Analyse zu gehen, und in diesem Punkt war nicht mit ihm zu reden.
Im Übrigen brauchte er keinen Psychoanalytiker, um sich die richtigen Fragen zu stellen: Warum war er angesichts so vieler Frauen, die nicht zum Psychoanalytiker gingen, nur mit solchen zusammen, die hingingen? Und warum erläuterte er seine Theorie der passiven Psychoanalyse lieber ihnen, was zwangsläufig oberflächlich bleiben musste, statt den Frauen, die sie nicht praktizierten, bei denen er einen vorhersehbaren Erfolg gehabt hätte?